Antonius Corvinus - der Reformator des Calenberger Landes

Eine Predigt vor dem Reformationstag (25.10.2020) in der Ev. Kirche zu Hagenburg


Anton Corvinus, Holzschnitt um 1546 (Ausschnitt) © Wikimedia/master AS

Von Marco Hofheinz

Liebe Gemeinde,1

als ich kürzlich in der Altstadt Hannovers in Richtung Marktkirche unterwegs war, stieß ich auf ein Straßenschild. „Corvinusweg“ war darauf zu lesen und darunter die Erläuterung: „Reformator der Fürstentums Calenberg“. „Merkwürdig“, dachte ich bei mir selbst, „den Namen hast Du noch nie gehört. Eigentlich kennst du dich doch in der Reformationsgeschichte ganz gut aus. Aber über diesen Namen bist du noch nie gestolpert. Hoffentlich fragt dich kein Student nach Corvinus“, so dachte ich insgeheim. Kurze Zeit später erfuhr ich auch, dass der Kindergarten in Wunstorf Corvinus-Kindergarten heißt. Damit wurden meine ohnehin erwachte Neugierde und auch Recherchelust zusätzlich befeuert. Inzwischen habe ich mich etwas näher mit Corvinus beschäftigt, um der Frage begegnen zu können, wer dieser Mann eigentlich war. Meinen Antwortversuch möchte ich Ihnen heute Morgen in Form dieser Predigt entfalten. Es handelt sich dabei um keine „klassische“ Predigt zu einem biblischen Text, wie wir dies gewohnt sind, auch um keine Lied- oder Katechismuspredigt. Nein, ich möchte heute Morgen versuchen, das Leben bzw. Werk des Corvinus sprechen, ja predigen zu lassen und ihm Stimme zu verleihen.

Mittlerweile weiß ich übrigens, dass ich nur ein paar Schritte weiter in die Marktkirche hätte gehen müssen, um Informationen über Corvinus zu erhalten. Dort ist etwa eine Bronzetafel angebraucht mit seinem Konterfei. Und auch die sterblichen Überreste befinden sich in der Marktkirche. Corvinus wurde dort im Chor vor dem Altar bestattet. Seine Grabinschrift befand sich an der Wand im Chor, wurde aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entfernt. Die Inschrift aber ist uns erhalten geblieben und lautet:

Dem Herrn Superintendenten Antonius Corvinus. Hier genieße ich, Corvinus, erschöpft durch Sorgen und langwierige Mühe nach meinem Begräbnis den Frieden. 52 Jahre hatte mein Leben gesehen, als die befreite Seele zu den himmlischen Wohnungen strebte. Hessen brachte mich hervor, das edle Marburg förderte mich, das segensreiche Leucoris (Wittenberg) schenkte mir seine Liebe. Ich war dein Schüler, Begleiter und treuster Helfer, ehrwürdiger Luther, und deiner, edler Philipp. Unter meiner Führung hat die Kirche während deiner Herrschaft, Fürstin Elisabeth, die heiligen Riten wiedererhalten. Darauf wurde ich aus Rache des Hofes in einem dunklen Verließ eingesperrt, das die Hauptursache meiner Krankheit war. Hannover nahm mich nach meiner Freilassung auf, wo ich erschöpft starb. Aber die Seele schaut in der Himmelsburg Gott.“2

Dem Herrn Superintendenten Antonius Corvinus. Hier genieße ich, Corvinus, erschöpft durch Sorgen und langwierige Mühe nach meinem Begräbnis den Frieden. 52 Jahre hatte mein Leben gesehen, als die befreite Seele zu den himmlischen Wohnungen strebte. Hessen brachte mich hervor, das edle Marburg förderte mich, das segensreiche Leucoris (Wittenberg) schenkte mir seine Liebe. Ich war dein Schüler, Begleiter und treuster Helfer, ehrwürdiger Luther, und deiner, edler Philipp. Unter meiner Führung hat die Kirche während deiner Herrschaft, Fürstin Elisabeth, die heiligen Riten wiedererhalten. Darauf wurde ich aus Rache des Hofes in einem dunklen Verließ eingesperrt, das die Hauptursache meiner Krankheit war. Hannover nahm mich nach meiner Freilassung auf, wo ich erschöpft starb. Aber die Seele schaut in der Himmelsburg Gott.“3

Ich glaube, dass das Leben des Corvinus nicht nur interessant und spannend ist, sondern dass es auch für eine Predigt am Sonntagmorgen, allzumal in zeitlicher Nähe zum Reformationsfest, einiges abwirft. Denn, so meine Überzeugung, wir können auch heute noch einiges von Corvinus lernen.

Corvinus war ein Mann für die schweren Fällen, ein „Macher“, der auch unter widrigen Umständen agieren konnte, ein unbeugsamer Reformator, den auch gegenreformatorische Bestrebungen nicht so leicht umzuwerfen vermochten. Corvinus wurde vom Leben nicht gerade verwöhnt. Als er 1501 in Warburg im Fürstbistum Paderborn geboren wurde, war er wohl von unehelicher Geburt. Seine Eltern sind nicht genau festzustellen. Bei seinem Vater handelt es sich wahrscheinlich um Lippold Rabe von Canstein, Domherr in Paderborn und Burggraf von Warburg. Corvinus war ein sog. „Bastard“ und zwar eines alten ostwestfälischen Adelsgeschlechts. Er nannte sich selber Anton Rabe oder eben (latinisiert) Antonius Corvinus, abgeleitet vom lateinischen corvus, der Rabe. Corvinus siegelt stets mit dem (mit einem sog. Bastardbalken versehenen) Wappen des Raben von Canstein, dem gekrönten schwarzen, linksschreitenden Raben.

Von der Jugend und dem Bildungsgang des Corvinus wissen wir wenig. Die Hamburger Reformationsgeschichtlerin Inge Mager hält fest, dass „Corvins familiäre Herkunft und seine Bildungsgeschichte bis zu seiner ersten Anstellung als evangelischer Pastor an St. Stephani in Goslar im Jahr 1528 weitgehend im Dunkel“4 liegt. So ging man früher davon aus, dass er zunächst Mönch im Zisterzienserkloster Loccum war. Mittlerweile wird dies in Zweifel gezogen.5 Schlüssiger sei es, so Inge Mager, sich einen Klosteraufenthalt bis 1523 im Kloster Riddagshausen vorzustellen,6 von wo er als „lutherischer Bube“7 vertrieben wurde. Mehr oder weniger autodidaktisch muss sich Corvinus die reformatorische Theologie angeeignet haben.8 Der Abt entließ jedenfalls Corvinus als Anhänger Luthers. Wohin es den jungen „Apostaten“ danach verschlug, ist unklar. Vermutlich ins Hessische. Eine sichere Quellenlage ergibt sich freilich – wie gesagt – erst ab seiner Anstellung als Prediger an St. Stephan in Goslar. Hier kam es zu Bilderstürmen, die Corvinus veranlassten, einen „Warhafftigen Bericht, daß das wort Gottes ohne tumult und one schwermerey zu Goslar gepredigt wird“, als Rechtfertigungsschreiben aufzusetzen.9 In diesem Zusammenhang gelangte Corvinus in Kontakt mit den Reformatoren: „Corvinus ist Mitglied einer Goslarer Abordnung nach Wittenberg, die ihm die Möglichkeit gibt, die dortigen Reformatoren persönlich kennenzulernen und einen von da an stets aufrechterhaltenen Kontakt herzustellen.“10

Im folgenden Jahr finden wir Corvinus wieder in Hessen vor und zwar als Pfarrer in Witzenhausen, wo er starken Einfluss auf die Gestaltung des Hessischen Kirchenwesens genommen haben muss. Es war der Landesherr Philipp von Hessen, der Corvinus 1535/36 zu Franz von Waldeck, dem Bischof von Münster, Osnabrück und Minden, schickte, um mit den gefangenen Führern des besiegten sog. „Münsteraner Täuferreiches“, Jan Bockelson, Bernd Krechting und Bernd Knipperdolling, zu disputieren und sie vor ihrer Hinrichtung vom täuferischen Glauben abzubringen. In Münster war ja, das nur als Hintergrund, ab 1533 unter aufkochenden apokalyptisch-enthusiastischen Gedanken, die aus Holland herüberschwappten, ein Täuferreich errichtet worden – in naher Erwartung des bevorstehenden Anbruchs von Gottes Reich. Gütergemeinschaft, Polygamie und Gewalt herrschten in der Stadt. Corvinus hat nach der „Katastrophe von Münster“ seine Gespräche mit den Täuferführern in den „Colloquia theologica“ (1536) aufgezeichnet, um die Nachwelt vor deren Irrtümern zu bewahren. Diese Aufzeichnungen seiner Unterredungen sind dem Rat der Stadt Osnabrück gewidmet.11

Corvinus begleitete Philipp von Hessen ein Jahr später nach Schmalkalden, um die gemeinsame Haltung auf der Bundesversammlung der Protestanten festzulegen. Papst Paul III. hatte nämlich 1536 ein Konzil nach Mantua ausgeschrieben und nun mussten die protestantischen Stände dazu Stellung nehmen. Das Konzil wurde protestantischerseits als unfrei abgelehnt und Luther, selbst auf dem Konvent nicht anwesend, da schwer erkrankt, schrieb auf Wunsch des sächsischen Kurfürsten die „Schmalkaldischen Artikel“ (im Konkordienbuch 1580 in die lutherischen Bekenntnisschriften aufgenommen). Zu den Theologen, die die Schmalkaldischen Artikel unterschrieben, gehörte auch Corvinus.

Schließlich begleitete Corvinus seinen Landesherrn auch 1541 nach Regensburg zum Reichstag und zu den „Religionsgesprächen“, denen er passiv beiwohnte. Auch hier ein wenig Hintergrundinformation: Der habsburgische Kaiser Karl V.11 initiierte in Hagenau (1540), Worms (1540/41) und Regensburg (1541) „Religionsgespräche“, um die Protestanten wieder in die katholische Kirche zurückzuführen. Freilich scheiterten diese Gespräche. Hinsichtlich der Abendmahlslehre, der Beichte bzw. Absolution und des Papstprimats konnte nur ein Dissens festgehalten werden.12

In den Jahren 1541/42 visitierte Corvinus die Kirchen der Grafschaft Lippe (im Zusammenhang des sog. „Lemgoer Streites“ über die Glaubensgerechtigkeit) und hatte dort gerade mit der Neuorganisation der Kirchenwesens begonnen, als er einen Ruf der Herzogin Elisabeth von Braunschweig-Calenberg erhielt. Er sollte in ihrem Land die Reformation durchsetzen. 1542 wurde er Pfarrer in Pattensen und General-Superintendent des Fürstentums Braunschweig-Calenberg. „Corvinus‘ Arbeit im Kalenberger Land beginnt wiederum mit einer umfangreichen Visitation, für die er die Instruktion erstellt. Zur Vereinheitlichung der Lehre im Land führt er Synoden ein, die zweimal jährlich stattfinden sollen. Die Neuerungen müssen z.T. gegen erhebliche Gegnerschaft durchgesetzt werden. Die aufgrund von Steuererhebung zur Sanierung der Finanzen des Landes entstandene Mißstimmung des Adels gegen die Herzogin richtete sich zugleich gegen Corvinus als ihre rechte Hand in kirchlichen Angelegenheiten. Als mit dem Übertritt des Herzogs Erich II., des Sohnes der Herzogin, kurz nach seinem Regierungsantritt in das Lager des Kaisers und seiner Teilnahme am Schmalkaldischen Krieg die Rekatholisierung des Kalenberger Landes zu erwarten steht, versucht Corvinus so viel wie möglich von seinem Werk zu retten.“13

Corvins Bemühungen um die Reformation im Land waren wegen der wieder katholischen Kirchenpolitik Herzog Erich II. (1545-1584) nur bedingt und partiell erfolgreich. Trotzdem ist er als Reformator des Landes zwischen Deister und Leine zu Recht bis heute unvergessen.“14 Denn sein Einsatz für die Schriftauslegung und die Neuordnung des Kirchenwesens in Niedersachsen „hat erheblich zur Verbreitung und Konsolidierung der Reformation beigetragen.“15 Besonders sind die vielen von ihm verfassten Kirchenordnungen hervorzuheben. Zu nennen sind etwa die der Stadt Northeim (1539) – dort gibt es heute noch ein nach Corvinus benanntes Gymnasium, das Gymnasium Corvinianum. Zu nennen sind fernerhin die Kirchenordnung für Braunschweig-Calenberg (1542),16 für Braunschweig-Wolfenbüttel (1543) und die gemeinsam mit Johannes Bugenhagen verfasste Kirchenordnung für die Stadt Hildesheim (1544). Die „Suche nach eigenständigen kirchlichen Organisationsformen“17 trieb Corvinus um. Er wusste darum, dass der Glaube Formen und Gefäße braucht, Strukturen und Gebilde, in denen er gedeihen kann.

Auf einem Holzschnitt von 1546 sehen wir Corvinus dargestellt als bärtigen Mann, der es an Leibesfülle durchaus mit dem älteren Luther aufnehmen kann, und dessen riesige Hände mit dicken, wurstigen Fingern auffallen, die an Maulwurfsschaufeln erinnern. Corvinus konnte offensichtlich an- und zupacken. Er war ein eher volkstümlicher Praktiker, ein Mann fürs Grobe, kein Feingeist. Aber auch und gerade solche Menschen braucht es in der Kirche Jesu Christi. In Gottes Weinberg sind nicht nur Arbeiter der Stirn am Werk, sondern auch Arbeiter der Faust. Denn, wie heißt es im Jakobusbrief noch gleich: „So ist auch der Glaube, wenn er nicht Werke hat, tot in sich selber“ (Jak 2,17). Luther mochte solche Worte der „strohernen Epistel“18, wie er den Jakobusbrief nannte, nicht. Er hatte Angst, dass damit durch die Hintertür Werkgerechtigkeit wieder eingeführt werde, so als könne man sich durch gute Werke den Himmel verdienen. Aber natürlich war auch für Luther ein untätiges Christentum, in dem der Glaube keine Früchte bringt, unvorstellbar.

Überliefert sind uns von Corvinus neben vielen Liedern, Gebeten und Kirchenordnungen, vor allem Predigten, sog. Postillen, wie die Evangelienpostille (1535) und die Epistelpostille (1537), zu denen Luther jeweils die Vorrede beisteuerte. In der bis heute wichtigen Corvinus-Biographie des Göttingen Kirchengeschichtlers Paul Tschackert von 1900 befindet sich im Anhang ein Verzeichnis aller Schriften von Corvinus19 und auch eines der unechten20, Corvinus nur zugeschriebenen Schriften. Man hat Corvinus wie folgt charakterisiert:

„Bei aller humanistischen Bildung war Corvinus in erster Linie praktischer Theologe, dessen Schwerpunkte einerseits die Schriftauslegung, andererseits die Ordnung der reformatorischen Kirche waren. Theologisch hält er sich streng an die Lehre Luthers. Er fügt hier keinen eigenen Akzent ein. Von Melanchthon unterscheidet ihn die Unerbittlichkeit des Festhaltens an dem einmal als wahr Erkannten. Auch angesichts politischer Pressionen war er nicht bereit, Abstriche an seinem streng konfessionellen Standpunkt hinzunehmen. Nicht zuletzt diese Haltung qualifizierte ihn zum Kirchenorganisator, denn eine solche Aufgabe erforderte Durchsetzungsvermögen gegenüber zahlreichen Anfeindungen. Nicht nur im Aufbau, sondern auch in der Verteidigung der lutherischen Reformation erwies er seine Befähigung“.21

Die eigentliche Bewährungsprobe kam für Corvinus im Zusammenhang des sog. „Augsburger Interims“ (1548). Was war der zeitgeschichtliche Hintergrund? Dazu muss ich etwas ausholen: Nach dem Augsburger Reichstag von 1530, auf dem das „Augsburger Bekenntnis“, die „Confessio Augustana“ (CA) von Philipp Melanchthon vorgelegt wurde, fürchteten die evangelische Stände das gewaltsame Vorgehen des habsburgischen Kaisers Karl V. und der katholischen Fürsten und gründeten 1531 ein Schutzbündnis, den sog. „Schmalkaldischen Bund“. Dieses protestantische Bündnis erlitt allerdings 1547 unter ungünstigen Umständen22 eine empfindliche Niederlage. Auf dem Augsburger Reichstag 1548 wurde dann der Versuch unternommen, nach der protestantischen Niederlage die katholische Kirche weitestgehend wiederherzustellen. Es wurde eine kaiserliche Erklärung verkündet, die bis zu einem Konzilsbeschluss gelten solle (deshalb „Interim“). Darin wurden die einst in Geltung stehenden Praktiken der Altgläubigen wiederhergestellt und den Protestanten Zugeständnisse nur in Gestalt der Priesterehe und des Abendmahls unter beiderlei Gestalt gemacht.

Hiergegen regte sich in Norddeutschland, vor allem in Magdeburg, aber auch im Fürstentum Calenberg unter Führung des Corvinus erheblicher Widerstand. Er war nicht bereit, den protestantischen Glaubensartikeln abzusagen und auch nicht dazu, zu den alten Zeremonien und Riten zurückzukehren.23 Für Corvinus gab es hier keine „Adiaphora“ (Mitteldinge). Er sah den status confessionis gegeben. Der Bekennermut eines „Nein ohne jedes Ja“ sei angezeigt. Auf der Synode von Münden von 1549 stellten sich Corvinus und der Pattenser Prediger Walter Hoiker gemeinsam mit 140 Geistlichen erbittert gegen das Interim. Corvinus und Hoiker wurden am 2. November 1549 in der Feste Calenberg in Beugehaft genommen. Man wollte sie zur Annahme des Interims zwingen. Doch Corvinus blieb unbeugsam. Erst drei Jahre später, als der Kaiser das Interim für ungültig erklären musste, wurde Corvinus im Oktober 1552 entlassen. Er starb kurz darauf am 5. April 1553 in Hannover an den Folgen der Haft. Hans-Walter Krumwiede schreibt in seiner „Niedersächsischen Kirchengeschichte“: „Der Briefwechsel zwischen [der Herzogin] Elisabeth und ihrem in Haft befindlichen Generalsuperintendenten gehört zu den bemerkenswerten Dokumenten der hannoverschen Reformationsgeschichte; er zeigt, daß der gemeinsame Glaube die obrigkeitlichen Strukturen transzendierte.“24

Damit sind wir nun bei der Frage angelangt, was wir heute noch von Corvinus lernen können. Gewiss erscheint uns heute, beseelt von einem guten, ökumenischen Geist, die Engherzigkeit des 16. Jahrhunderts verbohrt. Insbesondere die Religionskriege aus dieser Zeit bleiben uns auf dem Hintergrund von Jesu Bergpredigt unverständlich. Ich verstehe die Unbeugsamkeit des Corvinus indes als Zeugnis dafür, dass sich der Glaube primär Gott und seinem Gebot verpflichtet weiß. Anders gesagt, zeigt die Haltung des Corvinus: Es gibt eine im Glauben begründete Widerständigkeit, die nicht zu weichen bereit ist, weil sie das Gebot Gottes menschlichen Geboten übergeordnet weiß: „Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg 5,29) – so lautet die sog. clausula Petri. Die Bibel schildert solche widerständigen Figuren, in deren Tradition Corvinus steht. Denken wir nur an die hebräischen Hebammen Schifra und Pua (Ex 1,15), die dem Gebot Pharaos nicht gehorchten, die männlichen Erstgeborenen der Israeliten zu töten. In der Bibel heißt es: „Aber die Hebammen fürchteten Gott und taten nicht, wie der König von Ägypten ihnen gesagt hatte, sondern ließen die Kinder leben“ (Ex 1,17). Ein wunderbares Beispiel mutigen Widerstandes, der auch den Einsatz des eigenen Lebens nicht scheute.

Oder denken wir an Daniel und seine Freunde am Hofe des babylonischen Königs Nebukadnezar. Sie sind nicht bereit, dem Gebot des Königs zu gehorchen und das goldene Bild, das er errichten ließ, anzubeten. Bereits vor dem Gang in den Feuerofen legen sie ein bemerkenswertes Zeugnis vor dem König ab: „Wenn unser Gott, den wir verehren, will, so kann er uns erretten; aus dem glühenden Ofen und aus deiner Hand, o König, kann er erretten. Und wenn er’s nicht tun will, so sollst du dennoch wissen, daß wir deinen Gott nicht ehren und das goldene Bild, das du hast aufrichten lassen, nicht anbeten wollen“ (Dan 3,17f.). Welch mutiges Glaubenszeugnis! „Das Blut der Märtyrer ist der Samen der Kirche“ (semen est sanguis Christianorum)25 hat der Kirchenvater Tertullian einmal gesagt. In dieser Tradition ist auch das Zeugnis des eingekerkerten Corvinus zu verstehen. Es ist hierzulande nicht ohne Wirkung geblieben und möge Gott geben, dass es weiterwirkt. Denn Reformation heißt nicht Stehenbleiben.26 Die Reformation geht weiter. Ecclesia semper reformanda – die Kirche ist die stets zu reformierende Kirche. Reformation heißt nicht die Asche zu bewahren, sondern die Flamme am Brennen zu halten.27

Amen

1 Vertiefte Einsichten und Inspirationen zum Predigttext verdanke ich der Predigt von Pfr. Heinz Günther Meister (1955-2020) vom 13. März 1990 in der Stadtkirche Bad Berleburg.

3 Inge Mager, Antonius Corvin, Vom Loccumer Mönch zum Reformator, in: Ludolf Ulrich / Simon Sosnitza (Hg.), Neue Forschungen zum Zisterzienserkloster Loccum, Beiheft 14 zum Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte, Kiel 22016, (171–191) 171.

4 Vgl. a.a.O., 182.

5 Vgl. a.a.O., 188.

6 Hans-Walter Krumwiede, Kirchengeschichte Niedersachsens. Erster und Zweiter Teilband, Göttingen 1996, 112.

7 So Hellmut Zschoch, Art. Corvinus, Antonius, RGG4 2 (1999), (472-473) 472.

8 Vgl. H.-W. Krumwiede, Kirchengeschichte Niedersachsens, 122.

9 Martin Stupperich, Art. Corvinus, Antonius (1501-1553), TRE 8 (1981), (216-218) 216.

10 Vgl. H.-W. Krumwiede, Kirchengeschichte Niedersachsens, 166.

11 Vgl. Heinz Schilling, Karl V. Der Kaiser, dem die Welt zerbrach, München 2020.

12 Vgl. Johannes Wallmann, Kirchengeschichte Deutschlands seit der Reformation, UTB 1355, Tübingen 41993, 91f.; Karl-Heinz zur Mühlen, Reformation und Gegenreformation Teil II, Zugänge zur Kirchengeschichte 6/2, Göttingen 1999, 33-45.

13 M. Stupperich, Art. Corvinus, 216f.

14 I. Mager, Antonius Corvin, 191.

15 H. Zschoch, Art. Corvinus, 473.

16 Vgl. zur Calenberger Kirchenordnung H.-W. Krumwiede, Niedersächsische Kirchengeschichte, 135.

17 H. Zschoch, Art. Corvinus, 473.

18 WA, DB 6, 10.

19 Paul Tschackert, Antonius Corvinus Leben und Schriften, Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 3, hg. vom Historischen Verein für Niedersachsen, Hannover / Leipzig 1900, 212-217.

20 A.a.O., 217f.

21 Martin Stupperich, Art. Corvinus, 217.

22 Doppelehe des Landgrafen Philipp von Hessen, der treibenden Kraft dieses Bündnisses; Rivalität zwischen dem albertinischen und dem ernestinischen Sachsen im Streben nach der Kurfürstenwürde („Verrat“ des Moritz von Sachsen, der als „Judas von Meißen“ in die Kirchengeschichte einging).

23 Corvinus verfasste eine ungedruckte Streitschrift, die Confutatio Augustani libri, quem Interim vocant.

24 H.-W. Krumwiede, Kirchengeschichte Niedersachsens, 136. Vgl. Paul Tschackert (Hg.), Briefwechsel des Antonius Corvinus, Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens IV, hg. vom Historischen Verein für Niedersachsen, Hannover / Leipzig 1900. Zum Verhältnis von Herzogin Elisabeth und Corvinus vgl. Roland H. Bainton, Frauen der Reformation. Von Katharina von Bora bis Anna Zwingli. Zehn Porträts, übersetzt von Marion Obitz, GTB 1442, Gütersloh 1995, 134-160.

25 Tertullian, Apologeticum 50,14.

26 Vgl. Marco Hofheinz, A Good Reason to Celebrate? The Anniversary of the Reformation in 2017, in: Theology Today 73 (4/2017), 275-288.

27 So in Anlehnung an den französischen Sozialisten, Pazifisten und Förderer der deutsch-französischen Verständigung Jean Jaures: „Tradition heißt nicht, Asche zu bewahren, sondern eine Flamme am Brennen halten.“


Marco Hofheinz