Buß- und Bettag: Lukas 13,1-9 - Der Turm von Siloah - Das Gleichnis vom Feigenbaum

von Johannes Calvin


Feige © Matu/Wikimedia (CC-Lizenz BY 2.0)

''… der Herr (verlängert) den Sündern nicht nur ihr Leben (…), sondern (bearbeitet) sie auch auf die verschiedensten Weisen (…), um ihnen bessere Frucht zu entlocken.''

Lukas 13,1-9

1 Es waren aber zu der Zeit etliche, die verkündeten ihm von den Galiläern, deren Blut Pilatus mit ihrem Opfer vermischt hatte. 2 Und Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Meint ihr, daß diese Galiläer mehr als alle andern Galiläer Sünder gewesen sind, weil sie das erlitten haben? 3 Ich sage euch: Nein; sondern wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle auch so umkommen. 4 Oder meint ihr, daß die achtzehn, auf welche der Turm in Giloah fiel und erschlug sie, seine schuldiger gewesen als alle anderen Menschen, die zu Jerusalem wohnen?

5 Ich sage euch: Nein; sondern wenn ihr nicht Buße tut, werdet ihr alle auch so umkommen. 6 Er sagte ihnen aber dies Gleichnis: Es hatte einer einen Feigenbaum, der war gepflanzt in seinem Weinberg, und er kam und suchte Frucht darauf und fand sie nicht. 7 Da sprach er zu dem Weingärtner: Siehe, ich bin nun drei Jahre lang alle Jahre gekommen und habe Frucht gesucht auf diesem Feigenbaum und finde sie nicht. Haue ihn ab! Was hindert er das Land? Er aber antwortete und sprach zu ihm: Herr, laß ihn noch dies Jahr, bis daß ich um ihn grabe und bedünge ihn, 9 ob er doch noch wollte Frucht bringen; wo nicht, so haue ihn ab.

Luk. 13, 2. „Meinet ihr, daß diese Galiläer...“

Diese Stelle ist aus dem Grund besonders nützlich, weil beinahe alle von uns von der Krankheit betroffen sind, daß wir bei andern die überaus harten, strengen Richter spielen und uns gleichzeitig in unseren eigenen Fehlern gefallen. So kommt es, daß wir nicht allein die Sünden der Brüder schärfer zurechtweisen, als es billig ist, sondern sie auch in dem Augenblick, in dem ihnen irgendein Unglück zustößt, wie Verbrecher und Gottlose verdammen. Wem indessen die Hand Gottes nicht ständig hart zusetzt, der schläft sicher auf seinen Sünden ein, als ob Gott ihm huldvoll und gnädig gesinnt sei.

Darin liegt ein doppelter Fehler. Denn sooft Gott jemanden vor unseren Augen züchtigt, erinnert er uns damit an sein Gericht, damit jeder einzelne von uns sich zu prüfen und zu bedenken lerne, was er verdient hat. Die Güte und Milde, mit der er uns noch eine Zeitlang verschont, soll uns zur Buße auffordern; es liegt überhaupt nicht im Blickfeld, daß sie uns Anlaß zur Trägheit werden.

Um also jenes falsche Urteil, mit dem wir feindlich über Unglückliche und Heimgesuchte herzufallen pflegen, zurechtzuweisen und zugleich jeden einzelnen aus seiner selbstgezimmerten Zufriedenheit aufzurütteln, lehrt Christus erstens, daß es nicht die Schlechtesten von allen sind, die härter behandelt werden als die andern. Denn Gott vollstreckt seine Urteile so, wie es ihm nach Ordnung und Art gefällt, so daß die einen sofort zur Strafe gezogen werden und die andern sich in Selbstsicherheit und Zufriedenheit beruhigen. Zweitens macht er deutlich, daß alle Unglücksfälle, die in der Welt geschehen, als Beweise von Gottes Zorn angesehen werden müssen. Daraus ersehen wir, welches Ende uns bleibt, wenn wir dem nicht vorbeugen.

Nun war diese Ermahnung dadurch zustande gekommen, daß einige berichteten, Pilatus habe Menschenblut unter die Opfer gemischt, um durch solchen Frevel Abscheu vor den Opfern zu erregen. Da es nun wahrscheinlich ist, daß diese Untat sich an Samaritanern ereignete, die von der reinen Verehrung des Gesetzes abgefallen waren, so waren die Juden schnell bei der Hand, die Samaritaner zu verurteilen und sich selbst zu rühmen. Doch der Herr belehrt sie eines anderen. Denn da bei ihnen die Gottlosigkeit dieses ganzen Volkes verhaßt und verrufen war, fragt er sie, ob sie denn meinen, daß jene Unglücklichen, die Pilatus umgebracht hatte, schlechter als andere gewesen seien. Er hätte auch sagen können: Es ist euch doch sicher völlig klar, daß jenes Land voll von Gottlosen ist und daß viele, die die gleiche Strafe verdient hätten, bis jetzt noch ungeschoren geblieben sind.

Darum urteilt einer blind und falsch, wenn er aus den vorliegenden Strafen jeweils die Sünden ablesen will. Denn es wird nicht immer der Schlimmere zuerst zur Strafe gezogen, sondern da Gott beim Strafen wenige unter den vielen aussucht, macht er an ihrem Beispiel den übrigen deutlich, daß er sich rächen werde; damit soll allen ein Schrecken eingejagt werden. Nachdem er von den Samaritanern geredet hat, kommt er nun auf die Juden selbst zu sprechen. Auch von den achtzehn Menschen, die in jenen Tagen beim Einsturz eines Jerusalemer Turms verschüttet worden waren, behauptet er, sie seien nicht besonders großer Untaten schuldig, sondern es solle beim Anblick ihres Unglücks alle der Schrecken ankommen. Denn wenn Gott an ihnen ein Zeichen seines Gerichts gab, dann heißt das doch nicht, daß die andern seiner Hand entfliehen, wenn .sie auch noch eine Zeitlang-nachsichtig behandelt werden.

Christus verbietet zwar nicht, daß die Gläubigen aufmerksam auf die Strafurteile Gottes achtgeben, aber er schreibt die Reihenfolge vor: jeder soll bei seinen eigenen Sünden anfangen. Denn das führt zu dem besten Fortschritt, damit wir durch freiwillige Buße der Zuchtrute Gottes zuvorkommen. Das will auch Paulus mit seiner Ermahnung sagen (Eph. 5, 6): „Lasset euch von niemand verführen mit nichtigen Worten; denn um dieser Dinge willen kommt der Zorn Gottes über die Kinder des Ungehorsams."

Luk. 13, 6. „Er sagte ihnen aber dies Gleichnis.“

Im Ganzen will das Gleichnis sagen, daß mit vielen eine Zeitlang nachsichtig verfahren wird, obwohl sie den Tod verdient hätten. Doch schöpfen sie keinen Gewinn aus diesem Aufschub, wenn sie in ihrem Trotz nur fortfahren. Denn diese falsche Selbstschmeichelei, mit der die Heuchler immer verstockter und hartnäckiger werden, kommt daher, daß sie ihre Fehler nicht erkennen, es sei denn, daß sie dazu gezwungen werden.

Darum bilden sie sich ein, wenn Gott für kurze Zeit ein Auge zudrückt und seine Züchtigungen unterbricht, sie ständen auf gutem Fuß mit ihm. So werden sie immer nachsichtiger gegen sich selbst, als ob sie mit Tod und Hölle einen Vertrag geschlossen hätten, wie es Jesaja ausdrückt (28, 15). Darum fährt sie auch Paulus im Römerbrief (2, 5) so scharf an, weil sie sich den Zorn Gottes auf den Jüngsten Tag häufen.

Wir wissen, daß zuweilen Bäume erhalten bleiben, nicht, weil sie ihren Herren immer Nutzen oder Frucht brächten, sondern weil ein gewissenhafter, fleißiger Landmann nichts unversucht läßt, bevor er seinen Acker oder seinen Weinberg von ihm frei machen will. Hieran wird uns gezeigt, daß der Herr einen guten Grund hat für seine Nachsicht, wenn er sich nicht sofort an den Gottlosen rächt, sondern ihre Strafe aufschiebt.

Dann soll aber ja die voreilige Zunge der Menschen still sein, damit nicht einer gegen unser aller höchsten Richter zu murren wagt, wenn er seine Strafurteile nicht immer auf dieselbe Weise vollstreckt. Im übrigen geschieht dieser Vergleich zwischen dem Herrn und seinem Verwalter nicht, weil die Diener Gottes ihn an Milde und Nachsicht übertreffen, sondern weil der Herr den Sündern nicht nur ihr Leben verlängert, sondern sie auch auf die verschiedensten Weisen bearbeitet, um ihnen bessere Frucht zu entlocken.


Aus: Otto Weber, Calvins Auslegung der Heiligen Schrift. Zwölfter Band: Die Evangelien-Harmonie 1. Teil, Neukirchener Verlag, 1966, S. 417ff.