Wichtige Marksteine
Reformierte im Spiegel der Zeit
Geschichte des Reformierten Bunds
Geschichte der Gemeinden
Geschichte der Regionen
Geschichte der Kirchen
Biografien A bis Z
(1528–1572)
Jeanne d´Albret (1528–1572) war die bedeutendste Frau in der Geschichte der Hugenotten im 16. Jahrhundert. Besonders in ihrem Witwenstand, in den letzten zehn Jahren ihres Lebens, baute sie eine reformierte Kirche in Béarn auf und war das politische Oberhaupt der Hugenotten im dritten Religionskrieg (1568–1570). Nach 1570 versuchte sie, die Reformierten zu schützen und ihnen einen gesicherten Platz in der Gesellschaft zu verschaffen. Sie handelte für die Hugenotten den Friedensschluss von St. Germain 1570 aus, und durch die Heirat ihres Sohnes Heinrich (später Heinrich IV. von Frankreich) mit Margarete von Valois, Schwester des Königs Karl IX. von Frankreich, strebte sie eine enge Verbindung von Hugenotten und Katholiken an.
Keine andere Frau hatte eine solche Machtposition unter den Hugenotten in Frankreich inne. Sie war respektiert und gefürchtet in Rom und Madrid, alliiert mit Elizabeth von England und befreundet mit Katharina von Medici – keine unkomplizierte Freundschaft zwischen zwei starke Frauen.
Sie sorgte dafür, dass ihre Kinder – Heinrich und Katharina – im reformierten Glauben erzogen wurden. Jahrelang kämpfte Heinrich als Anführer der Hugenotten und von einer Machtbasis in Südfrankreich aus um die französische Krone, bis er 1589 König von Frankreich wurde und schließlich 1593 zum katholischen Glauben übertrat, um das Land zu befrieden.
Jeanne d´Albret war nicht nur Mutter ihres berühmten Sohnes, sie war auch selbst eine machtvolle Frau in Frankreich, da ihre Position als Anführerin der Hugenotten ihr einen Einfluss weit über die Grenzen ihres kleinen Königreiches zusicherte.
Jugend und Ehe (1528-1555)
Jeanne d´Albret wurde am 7. November 1528 auf dem Schloss Blois von Margarete und Heinrich II. von Navarra geboren. Ihre Mutter wusste angeblich, dass sie eine Tochter gebären würde, ihr sehnlichster Wunsch war freilich nach einem Sohn. Jeanne blieb das einzige Kind aus dieser Ehe, Margarete von Navarra gebar zwar kurz danach einen Sohn, der als Kleinkind starb, und alle übrigen Hoffnungen auf Schwangerschaften zerschlugen sich.
Die kleine Prinzessin konnte von ihrem Vater das Königreich Navarra erben, weil dort das salische Gesetz, das in Frankreich weibliche Thronerben verbot, nicht gültig war. Außerdem war das vicomté Béarn selbständig. Deswegen waren die zwei Großmächte Spanien und Frankreich zutiefst an diesen Grenzregionen interessiert. Frankreich wollte seine Südgrenze verteidigen, und Spanien beide Seiten der Pyrenäen besitzen, um in Frankreich einfallen zu können. Zudem war die väterliche Familie von Albret Großgrundbesitzer in Südwestfrankreich und damit Vasall des französischen Königs. Das frühere Aquitanien hatte mehrere hundert Jahre der englischen Krone gehört und war spät von England aufgegeben worden. Im 16. Jahrhundert wurde das Gebiet meistens als Guyenne bezeichnet.
In ihren jungen Jahren wuchs Jeanne in der Normandie auf. Ihre Mutter, Margarete von Navarra, hatte die Aufgabe, die königlichen Kinder ihres Bruders, Franz I., zu erziehen. Sie gab Jeanne in die Obhut ihrer Freundin Aymée de Lafayette, Vogtin von Caen. Man behauptet, sie sei die Vorlage für die Figur Longarine in Heptameron (vgl. Nielsen). Nach meiner Auffassung sind die Erzähler/innen im Heptameron, die sogenannten devisants, eher Typen als historische Persönlichkeiten, die Figur der Longarine ist allerdings eine sehr sympathische Frau mit Humor und Pfiff. Wenn Aymée de Lafayette die Vorlage zu Longarine abgegeben haben soll, deutet alles darauf hin, dass Margarete sie sehr schätzte und meinte, ihre Tochter sei bei ihr gut aufgehoben.
Jeanne wuchs in einem landadligen Milieu auf, umgeben von Wald, Wiesen und Tieren, mit den Mitgliedern der Familie von Aymée de Lafayette als Bezugspersonen, bis sie zehn Jahre alt war. Ihre Mutter sah sie selten, aber jedes Mal, wenn sie krank war, war Margarete sofort zur Stelle. 1538 ließ Franz I. sie nach Plessis-lez-Tours bei der Loire übersiedeln, da sie jetzt ein Alter erreicht hatte, wo sie auf dem Heiratsmarkt von Interesse war. Der König konnte über seine Verwandte entscheiden und Ehen arrangieren, wie es ihm passte.
1540 war es für Jeanne so weit. Herzog Wilhelm der Reiche von Kleve-Jülich-Berg hatte 1538 das Herzogtum Geldern geerbt. Sein Erbanspruch wurde von Kaiser Karl V. angefochten und auf dem Reichstag zu Regensburg wurde dem Kaiser Geldern zugeteilt. 1539 folgte Wilhelm seinem Vater auf dem Thron nach, und um sich vor den Ansprüchen des Kaisers zu schützen, arrangierte er eine Ehe mit Heinrich VIII. von England für seine Schwester Anna, und selbst verbündete er sich mit Franz I. Als Unterpfand für dieses Bündnis sollte er Jeanne d´Albret heiraten.
Was jetzt passierte, ist absolut ungewöhnlich: Jeanne weigerte sich. Die Zwölfjährige ließ ihrem Onkel wissen, dass sie den Herzog nicht heiraten möchte, und sie ließ zwei Schreiben aufsetzen, in welchen sie erklärte, dass sie gegen ihren Willen zu dieser Ehe gezwungen worden sei. Natürlich konnte sie sich nicht auf Dauer gegen den Willen des Königs auflehnen, aber bei der Hochzeitszeremonie am 14. Juni 1541 weigerte sie sich, zum Altar zu schreiten, stattdessen musste sie getragen werden. Ihr Jawort war nicht hörbar und wegen ihres Alters wurde die Ehe nicht vollzogen, der Herzog setzte nur symbolisch ein Bein in ihr Bett. Nach der Hochzeit kehrte er zurück nach Düsseldorf, während Jeanne vorläufig in Frankreich blieb.
1543 griff Kaiser Karl Kleve-Jülich-Berg an, der Herzog wurde geschlagen und musste Geldern Karl V. überlassen. Am Frieden von Venlo im September 1543 hob er das Bündnis mit Franz I. auf und verbündete sich stattdessen mit dem Kaiser. Damit war auch die französische Ehe hinfällig geworden, 1545 wurde sie vom Papst wegen Nichtvollzug annulliert, und der Herzog vermählte sich mit einer Nichte des Kaisers.
Nach kanonischem Recht durfte bei einer Eheschließung keine Zwang im Spiel sei. Die Eheleute mussten ihr Gelübde frei abgeben. Damals konnten junge Frauen aus adligen oder königlichen Familien sich ihre Ehepartner nicht selbst aussuchen, sondern wurden als politische Garanten vermählt, und die meisten fanden sich damit ab, weil das ihr Standesbild entsprach. Jeannes Ablehnung, so wie ihre Kenntnis des kanonischen Rechts, ist erklärungsbedürftig.
Eine mögliche Erklärung ist, dass ihre Eltern für sie eine Ehe mit dem Kronprinzen Philipp von Spanien anstrebten. Königin von Spanien war natürlich prestigeträchtiger als Herzogin von Kleve zu sein, aber vor allem erhoffte sich ihr Vater damit den spanischen Teil von Navarra zurückzugewinnen. 1512 hatten die Spanier Navarra, das Baskenland, bis zu den Pyrenäen erobert und den Albrets nur das winzige Gebiet auf der französischen Seite gelassen. Seitdem überlegten sich die Könige von Navarra, wie sie zu ihrem ganzen Erbe kommen konnten, und eine Ehe zwischen dem Infanten von Spanien und der zukünftigen Königin von Navarra würde genau dies herbeiführen.
Jeanne war möglicherweise auch beeinflusst von einer Erklärung der Ständeversammlung von Béarn, die eine auswärtige Ehe für ihre Kronprinzessin ablehnte.
Sah Jeanne d´Albret ihre Zukunft gefährdet durch eine Ehe mit dem Herzog von Kleve? Oder tat sie, was ihre Eltern wünschten, statt des Königs Willen zu erfüllen? Stammten ihre Kenntnisse des kanonischen Rechts von denen? Margareta von Navarra schrieb ihrem Bruder, sie habe keine Ahnung, was in das Mädchen gefahren sei, aber stimmt das? Hat sie Jeanne mit ihrer Ablehnung der Ehe geholfen aus Liebe (Cholakian & Cholakian), oder aus Ehrgeiz? Es besteht kein Zweifel, dass königliche Kinder damals frühreif waren und in jungen Jahren schon an ihre späteren Aufgaben geführt wurden, trotzdem ist die Zähigkeit und Sturheit des Mädchens erstaunlich.
1547 starb Franz I. und als Jeanne zwanzig Jahre alt war, bot der Nachfolger, Heinrich II. von Frankreich, ihr gleich zwei Heiratskandidaten an: den Herzog Franz von Aumale (der spätere erzkatholische Herzog Franz von Guise) und Anton von Bourbon, Herzog von Vendôme. Der letztere war Erbprinz und vielleicht deshalb für Jeanne die bessere Partie, obwohl er relativ arm war. Er war hochgewachsen – was für einen Bourbon eher selten war – und charmant, wie alle Männer in seiner Familie scheint er ein unverbesserlicher Schürzenjäger gewesen zu sein. Heinrich IV. von Frankreich, der vert galant, hatte seine ausgelebte Sexualität nicht von Fremden, ebenso wenig wie sein militärisches Können und seinen Mut.
Jeanne und Anton von Bourbon heirateten 1548 und sie war überglücklich. Heinrich II. schrieb in einem Brief, dass er selten eine Braut erlebt habe, die immer nur lachte. Diese Ehe war aus Liebe geschlossen, und Anton von Bourbon nahm seine Frau mit, als er in den Krieg zog. Der Kriegsschauplatz war Flandern, und da der Herzog Güter in Nordfrankreich besaß, zog Jeanne in den ersten Jahren ihrer Ehe von Schloss zu Schloss, immer in der Hoffnung, dass sie und Anton von Bourbon sich treffen könnten.
1551 gebar sie ihren ersten Sohn und gab ihn an Aymée de Lafayette, die sie selbst erzogen hatte. Ob nun Frau de Lafayette alt oder übervorsichtig geworden war, der kleine Herzog von Beaumont starb als Kleinkind, angeblich weil er von Wärme erstickt worden sei.
Bald wurde Jeanne wieder schwanger, und während ihr ältester Sohn in Nordfrankreich geboren war, sollte das zweite Kind in Béarn zu Welt kommen. Sie unternahm die lange Reise nach Süden und kam gerade rechtzeitig in Pau an, 14 Tage bevor sie von ihrem zweiten Sohn, Heinrich, auf dem Schloss in Pau entbunden wurde. Es wurde entschieden, dass dieser Junge in Pau bleiben sollte. Der Großvater, Heinrich d´Albret, wollte wahrscheinlich mit diesem kleinen Prinzen die Erbfolge in Béarn und Navarra sichern. Die Legenden von der rauen Erziehung Heinrichs seitens des Großvaters können jedoch nicht wahr sein, allein weil das Kind die ersten Jahre von Ammen betreut wurde, und der Großvater starb, als es zwei Jahre alt war. Es scheint in Béarn Sitte gewesen zu sein, die Lippen des Täuflings mit Rotwein und Knoblauch einzureiben, eine Taufe à la Gascogne, aber die Mär, dass Heinrich barfuß unter den Hirten in den Bergen aufgewachsen sein soll, ist reine Legende. Der spätere Hauslehrer Heinrichs, Palma Cayet, schrieb, als Heinrich schon König von Frankreich war, seine Biographie, und daher stammt der Bericht vom Opa und von seiner rauen Erziehung. Dieser Kindheitsbericht ist eher Propaganda des Königs, wie er gerne gesehen werden möchte.
Tatsächlich kam Heinrich in die Obhut der Familie de Miossens, die auf dem Schloss Coarraze wohnte. Die Frau, Suzanne de Bourbon-Miossens, war eine Cousine von Jeanne. Heinrich wurde demnach genau wie seine Mutter als Landadliger erzogen, und er wuchs in einer Familie mit anderen Söhnen auf, die als Erwachsene seine Gefolgsleute werden sollten. Als seine Mutter den Thron erbte, wurde er schon als Kleinkind als Kronprinz behandelt.
Die zwei Jahre zwischen Heinrichs Geburt 1553 und ihre Thronbesteigung 1555 verbrachte Jeanne wiederum in Nordfrankreich in der Nähe ihres Gatten. In dieser Zeit gebar sie einen dritten Jungen, der jedoch nicht lange lebte. Es muss hinzugefügt werden, dass Anton von Bourbon 1554 einen außerehelichen Sohn, Karl von Bourbon, mit einer Hofdame bekam. Jeanne hatte bereits mehrere Onkel, die illegitim waren, und sie scheint den kleinen Karl in ihrer Familie aufgenommen zu haben. Er wurde später Erzbischof von Rouen.
Erst als der Vater gestorben war, zog sie als Königin nach Pau und obwohl sie die Erbin war, ließ sich ihr Mann als König huldigen, was die Ständeversammlung eigentlich gar nicht wollte, dennoch ordneten sie sich dem Willen Jeannes unter.
Königin an der Seite von Anton von Bourbon (1555–1560)
Ihr Vater hatte Jeanne ein blühendes Land hinterlassen. Er hatte Industrien nach Béarn geholt, das Steuersystem effektiv gestaltet und für den religiösen Frieden gesorgt. Große Einkünfte entstanden auch durch seine Posten als Gouverneur und Admiral der französischen Krone in Guyenne. Anton von Bourbon bekam diese Posten nach seinem verstorbenen Schwiegervater, und später hat sein Sohn, Heinrich von Navarra, sie übernommen. Jeanne und Antoine standen als die größten Grundbesitzer Südwestfrankreichs finanziell sehr gut da.
1555 find Calvin seine missionarische Tätigkeit in Frankreich an. Reformierte gab es in Südwestfrankreich zu diesem Zeitpunkt längst, weil Margareta von Navarra sie mit Predigern unterstützt hatte und Gérard Roussel, einen Reformkatholiken, als Bischof in Orthez, eingesetzt hatte. Dieser Roussel war einmal Weggefährte Calvins gewesen, und dieser warf ihm vor, nicht konsequent genug zu sein, als er die Stelle als katholischer Bischof trotz seiner reformatorischen Sympathien annahm (CStA I,1).
Als Königin hatte Jeanne bei ihrer Krönung versprechen müssen, die katholische Religion zu verteidigen. Am selben Tag, nachdem sie diesen feierlichen Eid abgelegt hatte, schrieb sie an einen Vasallen, dem vicomte von Gourdon, und erzählte ihm, sie wolle über die Förderung des reformierten Glaubens im kleinem Kreis heimlich beraten. Dieser Brief ist Teil eines Briefwechsels mit zwei vicomtes de Gourdon, Vater und Sohn, die die gesamte Regierungszeit Jeannes überdauerte. Die Briefsammlung wurde im vorigen Jahrhundert entdeckt und gibt viele neue Einsichten in die Vorhaben und die Beweggründe Jeannes. Da die entdeckten Briefe uns nur als teilweise fehlerhafte Kopien vorliegen, haben viele Forscher die Briefe als Fälschungen abgetan (Text und Diskussion bei Bryson).
Der erste Brief vom August 1555 teilt uns mit, dass Jeanne schon zu diesem Zeitpunkt reformierte Sympathien deutlich aussprach. Sie schrieb dem vicomte, dass ihre Mutter sich zwischen den zwei Religionen nicht habe entscheiden können, und dass sie selbst aus Furcht vor ihrem Vater bislang nicht gewagt habe, sich offen zum Protestantismus zu bekennen. Das Edikt von Chateaubriant von 1551 verbot eindeutig jede „Ketzerei“ und deshalb schlug sie vor, die Reformierten sollten sich heimlich auf dem Schloss Odos treffen.
Es gibt sonst keine Quellen, die belegen könnten, dass Jeanne mit dem reformierten Glauben in Berührung kam. Es gab in ganz Frankreich zu der Zeit kleine zerstreute Gemeinden, sowie Prediger und Kolporteure, die reformatorische Bücher schmuggelten. Die wiederholten Verbote des Königs konnten das nicht unterbinden, sie führten nur dazu, dass Protestanten, wie Jeanne, sich heimlich treffen mussten.
In den Jahren nach 1555 verbreitete sich der reformierte Glaube mehr und mehr im Hochadel. Auch Anton von Bourbon wurde davon ergriffen, brachte reformierte Prediger nach Béarn und als er und Jeanne 1558 mit Heinrich nach Paris zogen, nahm er an großen psalmensingenden Demonstrationen außerhalb der Stadtmauern von Paris teil. Calvin war darüber hoch erfreut, denn er setzte in seiner Missionsarbeit gerne auf hochrangige Persönlichkeiten. Jeanne dagegen verhielt sich während dieser Zeit bedeckt.
In Paris kam sie mit ihrem vierten Kind, einer Tochter namens Katharina, nieder. Das kleine Mädchen war das einzige Kind, das bei Jeanne aufwachsen durfte, obwohl sie (natürlich) Erzieherinnen und Gouvernanten hatte.
Anton von Bourbon fiel nicht nur mit protestantischen Sympathien auf, sondern wie sein Schwiegervater versuchte er, den spanischen Teil von Navarra zurückzugewinnen. Heinrich d´Albret hatte seinen Besitz gut und gewinnbringend regiert, während Anton von Bourbon seiner Frau die Regierungsgeschäfte überließ, und selbst nur versuchte, ein größeres Königsreich für sich zu gewinnen. So konnte der spanische König Philipp ihm einen Tausch, erst mit dem Herzogtum Milano und später mit Sardinien, anbieten. Damit hätte Spanien den Sprung über die Pyrenäen geschafft und Südfrankreich bedrohen können. Wir würden solches Taktieren mit dem Feind Hochverrat nennen, damals räumte man freilich Adligen große Freiheiten ein, sich einen Herren auszusuchen, aber Anton von Bourbon wurde auch von den Zeitgenossen als unzuverlässig und unverantwortlich angesehen, und nicht zuletzt war er so politisch ungeschickt, dass es an Dummheit grenzte (Sutherland 1984).
Im Sommer 1559 starb Heinrich II. von Frankreich unerwartet. Sein Sohn Franz II. folgte ihm als nur fünfzehnjähriger Knabe auf dem Thron. In dieser Situation war die traditionelle Lösung, dass der erste erwachsene Erbprinz, Anton von Bourbon, ihn unterstützen sollte, und Calvin ermahnte ihn eindringlich, dieses Amt zu übernehmen und dabei den Hugenotten zu helfen. Anton von Bourbon verspielte diese Chance und überließ die Regierungsgeschäfte der Familie von Guise, besonders dem Herzog von Guise und dem Kardinal von Lorraine, die beide die antiketzerische Politik des verstorbenen Königs weiterführen wollten. Nach dem Tod Heinrichs II. bekannten sich mehrere hochrangige Adlige offen zum Protestantismus und es gab im März 1560 sogar einen hugenottischen Komplott, den König zu entführen und von seinen „schlechten Ratgebern“ zu trennen. Anton von Bourbon und sein jüngerer Bruder, der Prinz von Condé, beide notorische Reformierte, wurden wegen diesem Angriff auf den König angeklagt. Anton von Bourbon versprach Besserung, während sein Bruder, der Prinz Ludwig von Condé zum Tode verurteilt wurde. Nur der plötzliche Tod des jungen Königs rettete ihn vor der Hinrichtung. Da der neue König, Karl IX., ein zehnjähriges Kind war, brauchte Frankreich einen Regenten, nämlich den ranghöchsten Erbprinz Anton von Bourbon. Wiederum ergriff dieser nicht die Chance. Katharina von Medici ließ sich stattdessen als Regentin einsetzen und Anton von Bourbon wurde zum Generalstatthalter ernannt. Die Hugenotten mit Calvin an der Spitze waren zutiefst enttäuscht. In diesen Jahren hatte der reformierte Glaube großen Zulauf, es wurde von mehreren Tausend Gottesdienstbesuchern überall in Frankreich berichtet, von Abendmahlgottesdiensten, die zwei Tage dauerten und von Bekehrungen am Hof und im Hochadel.
1560 verließ Jeanne Paris, um zurück nach Pau zu fahren. Theodorus Beza, der engste Mitarbeiter Calvins, besuchte sie dort, und es entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit, die bis Jeannes Tod dauerte. Beza versorgte sie mit Predigern und Beratern für ihr Land. Im Dezember 1560 unternahm Jeanne den entscheidenden Schritt und bekehrte sich öffentlich zum reformierten Glauben. Während ihr Gatte nicht in der Lage war, sich an die Spitze der Hugenotten zu setzen, wurde sie jetzt die leitende Hugenottin in Frankreich.
Reformierte Königin (1560–1568)
Jeanne d´Albret war zweifelsohne eine tief religiöse Frau. Lange Zeit hatte sie äußerste Diskretion walten lassen, zwar mit ihrem Gatten reformierte Prediger gehört, aber sich niemals offen zum reformierten Glauben bekannt. Erst nachdem Anton von Bourbon sich mit dem Posten als lieutenant générale abgefunden hatte, kam sie aus der Deckung.
Es war eine Zeit, wo alle große Hoffnungen bzw. Ängste für den Protestantismus in Frankreich hegten. Drei wichtige Katholiken – der Herzog von Guise, der Konstabel von Montmorency und der Marschall St. André – schlossen sich zusammen, um Frankreich gegen die Reformierten zu schützen. Sie planten den Sturz von Anton von Bourbon und einen Angriff auf Genf mit der Hilfe des Herzogs von Savoyen, zu dessen Besitz Genf bis 1534 gehört hatte. Dieses Triumvirat war der erste Vorbote der katholischen Liga, die später Heinrich IV. hartnäckig bekämpfte (Sutherland 1973).
1560 war noch zu erwarten, dass der Protestantismus nach Frankreich gekommen war, um zu bleiben. Jeanne war sich sehr bewusst, welche Gefahren ihr von Spanien, vom Papst und von der mächtigen Familie von Guise drohten. Sie hatte noch die Hoffnung, dass der junge König Karl IX., Katharina von Medici und ihr Kanzler, der tolerante Michel de l´Hôpital, die Reformierten unterstützen würden, zumal die Königinmutter sich selbst von denen von Guise bedrängt fühlte.
Diese letzte Hoffnung erwies sich als trügerisch, aber niemals wich Jeanne später vom einmal eingeschlagenen Kurs ab. Sie konnte weder geldwerte Vorteile noch politisches Kapital aus ihren Glauben schlagen, dafür hielt sie konsequent an ihrer Überzeugung fest.
In Béarn machte sie erste vorsichtige Schritte, um das Land zu reformieren. Es gab schon Reformierte dort, und Prediger hatten angefangen, den neuen Glauben zu verbreiten, Jeanne aber träumte von einem reformierten Land, und fing langsam und vorsichtig an, diesen Traum zu verwirklichen.
Der erste Schritt war, den reformierten Glauben dem Katholizismus rechtlich gleich zu stellen. Die Kirchen wurden für beide Religionen geöffnet (das sogenannte simultaneum) und aus den Kirchen in Lescar und Pau wurden Bilder und Statuen entfernt, allerdings nicht in Form eines Bildersturms, sondern von den Behörden. Jeanne beschlagnahmte das kirchliche Vermögen nicht für sich selbst, sondern investierte es in Sozialfürsorge und Bildung.
Es ist klar, dass sie den reformierten Glauben einführen wollte, aber zu keinem Zeitpunkt vefolgte sie Andersgläubige, geschweige denn verbrannte sie. Immer setzte sie auf Überredung.
Im August 1561 begab sie sich wieder zum Hof. Überall wurde sie stürmisch von Hugenotten begrüßt, als ob sie „der Messias sei“, bemerkte verärgert der spanische Gesandte. Katharina von Medici hatte zu einem Religionsgespräch eingeladen. Dieses Gespräch fand in Poissy außerhalb Paris statt. Seitens der Krone war gewiss an eine Versöhnung oder gar einen Ausgleich zwischen den Religionen gedacht, die reformierten Teilnehmer mit Beza an der Spitze mochten jedoch keine Kompromisse eingehen. Beza wurde unterstützt von Calvin in Genf, der selbst zu krank war, um mitzukommen. Calvin war mit den Auftritten und Reden Bezas zufrieden, während z.B. der Admiral Coligny Beza als reichlich provokant wahrnahm.
Im Herbst 1562 blieb Jeanne mit ihren Kindern beim Hofe. Katharina von Medici suchte auch nach den Religionsgesprächen eine Übereinkunft mit den Protestanten, was in dem Edikt vom 17. Januar 1562 – auch Edikt von St. Germain genannt – gipfelte. Dieses Edikt, an dem der Kanzler Michel de l´Hôpital und Beza beteiligt waren, erlaubte es den Hugenotten, außerhalb der Städte Gottesdienste zu halten. Es war das günstigste Edikt, das sie jemals erlangen sollten, das Edikt von Nantes 1598 war ihm sehr ähnlich, aber nicht ganz so großzügig. Der Unterschied war, dass Heinrich IV. dafür sorgte, dass das Edikt von Nantes durchgeführt wurde, während alle frühere Edikte, so wohlgemeint sie auf dem Papier auch waren, von katholischen Behörden unterlaufen wurden, und der König zu schwach war, um für ihre Durchführung zu sorgen.
Im März 1562 massakrierte der Herzog von Guise eine reformierte Gemeinde, die innerhalb des Städtchens Wassy Gottesdienst feierte. Damit war die Versöhnungspolitik Katharinas von Medici gescheitert. Die Hugenotten unter dem Prinzen von Condé griffen zu den Waffen und Anton von Bourbon bat Jeanne den Hof zu verlassen. Er behielt seinen Sohn Heinrich bei sich, entließ aber dessen hugenottischen Hauslehrer. Jeanne beschwor ihren Sohn, nicht zur Messe zu gehen, und der junge Prinz hielt sich wohl auch ein paar Wochen daran, musste sich aber schließlich fügen. Nach ihrem Fortgang vom Hofe trat Jeanne eine monatelange abenteuerliche Reise durch Frankreich an, so gefährlich, dass die ersten Briefen von der Hand Heinrichs seine Ängste um seine Mutter bezeugen. Ihre kleine Tochter Katharina durfte sie behalten.
Im ersten Religionskrieg führte Anton von Bourbon die königlichen katholischen Truppen gegen die Hugenotten. Bei der Belagerung von Rouen wurde er verwundet und starb am 17. November. Der junge Heinrich blieb am Hofe in der Obhut Katharinas von Medici, die allerdings Jeanne gestattete, ihm wieder reformierte Hauslehrer zu geben. Sie sollte ihn erst 1564 wiedersehen.
Die Kirche in Béarn und Navarra
Ihre große Aufgabe sah Jeanne darin, die Reformation in Béarn durchzuführen.
Calvin stellte ihr Jean Raymond Merlin zur Seite, den früheren Professor für Hebräisch in Lausanne, wo er Kollege von Beza, dem Professor für Griechisch, und von Pierre Viret, dem Rektor der Akademie, gewesen war. Pierre Viret arbeitete nach seiner Zeit in Lausanne und Genf vor allem in Frankreich, besonders in den Kirchen von Lyons und Nîmes. Später sollte er für Jeanne d´Albret ihre Akademie in Orthez aufbauen. Merlin war übrigens mit einer Tochter von Marie Dentière verheiratet, derjenigen, die vor Jahren Jeanne eine selbstgeschriebene hebräische Grammatik zugesandt hatte (vgl. Graesslé13f.; Nielsen).
Merlin ging voll Eifer an die Aufgabe, eine reformierte Kirche in Béarn aufzubauen. Es gab viele Reformierte in Südfrankreich, aber meistens unter städtischen Eliten und Handwerkern. Die Reformierten waren meistens des Lesens fähig, vor allem des Lesen französischer Texte. In Südwestfrankreich sprach die Bevölkerung die langue d´oc, die alte oczitanische Sprache, in irgendeiner Form. Die Gascogne hatte ihre Sprache, in der ein Neues Testament und fünfzig Psalmen übersetzt wurden, und Béarn hatte béarnais sogar als Amtssprache. Hinzu kam, dass die Bevölkerung in Navarra Baskisch sprach. Wenn Merlin das ganze Land reformieren sollte, musste er diese Sprachbarrieren überwinden, denn die Landbevölkerung musste erreicht und für die Reformation gewonnen werden.
Jeanne d´Albret beauftragte eine Übersetzung des Neuen Testaments ins Baskische, und eine Übertragung der Psalmen, der Zehn Gebote, der Liturgie und des Katechismus Calvins in die Sprache Béarns. Der Anwalt, später Pastor, Arnaud de la Salette, stellte 1571 diese Übersetzung fertig, und obwohl sie erst 1583 gedruckt wurde, darf man annehmen, dass in der Zwischenzeit Manuskriptkopien verwendet wurden. Pastoren, die die béarnesische oder die baskische Sprache beherrschten, wurde händeringend gesucht, und von den Anderen wurde ausdrücklich verlangt, dass sie es lernen sollten. Katecheten, die vermutlich Landeskinder waren, wurden in die Gemeinden geschickt.
Allmählich verbot Jeanne katholische Riten und Gebräuche, zuerst die Fronleichnamsprozessionen, danach Maibäume und Jahrmärkte. Dann wurde die Messe abgeschafft. Der Dom von Lescar und die Kirche St. Martin in Pau wurden leergeräumt, und die dort befindlichen Schätze verkauft.
Für Merlin konnte dies nicht schnell genug gehen. In seinen Briefen an Calvin klagte er seine Not: die Bevölkerung sei stur – diese Holzköpfe! - und die Königin zu langsam und vorsichtig (CO 20, Nr. 3988 & Nr. 4061). Merlin hatte übrigens auch früher in Montargis Probleme mit Renée de France gehabt, Herzogin von Ferrara, die in ihrem Gebiet so vorsichtig war wie Jeanne in Béarn (vgl. Lambin, 2). Jeanne bekam Klagen auf der jährlichen Ständeversammlung, wo die Katholiken über den Verlust alter Freiheiten und Rechte klagten. In den sechziger Jahren musste sie mehrmals Aufstände niederschlagen.
Der Nachfolger für Merlin war Pierre Viret, der enge Freund Calvins. Er war Pastor und Rektor für die Akademie in Lausanne – mit Beza und Merlin als Kollegen – gewesen. Wegen eines Streits mit dem Stadtrat in Bern, übersiedelten 1559 alle Professoren nach Genf, um dort in der neu errichteten Akademie zu unterrichten. Von Genf begab Viret sich nach Frankreich, wo er in Lyon als Pastor arbeitete, danach leitete er die Nationalsynode in Nîmes und schließlich folgte er dem Ruf nach Béarn. Seine wesentlichste Aufgabe war es, die Akademie in Orthez aufzubauen. Die Fächer Theologie, Hebräisch, Griechisch, Philosophie und Mathematik wurden dort unterrichtet, während es keine Anzeigen für Professuren in Jura und Medizin gibt.
Vor ihrer akademischen Laufbahn absolvierten die Jungen eine fünfjährigen Ausbildung in einer Lateinschule (collège), während die Grundschule sowohl Jungen wie Mädchen unterrichtete, die Mädchen allerdings getrennt mit weiblichen Lehrkräften. Damit wurde das kleine Béarn das erste Land Europas, welches kostenlosen Unterricht für Mädchen zusicherte, und zwar mit der interessanten Begründung, dass sie so im Stande waren, ihr Brot zu verdienen und sich der Gesellschaft nützlich zu machen („Pareil rolle sera aussy faict des filles qui sont en bas aage et qui n´ont nul moyen de vivre et de s´entretenir, par toutes les églises, afin que de mesmes deniers et en écolle séparée elles soient enseignées, nourries et tenues par des femmes sages et pudiques, par leur industrie pouvoir aprés se nourrir et entretenir et servir au public“. Art. 32 der Verfassung der Akademie von 1566, zitiert nach Desplat 2004). Desplat unterstreicht die säkulare Ausrichtung der Ausbildung. Allgemein wird behauptet, der Zweck des Unterrichts in protestantischen Ländern sei, die Bevölkerung des Lesens der Bibel und des Katechismus zu befähigen. Hier werden nur die Vorteile eines Schulunterrichts für die Gesellschaft betont.
Die Akademie wurde 1566 geöffnet. Die ersten protestantischen Akademiegründungen in Frankreich fanden in Nîmes (1562) und Montpellier statt. Vorrangiges Ziel war es, die Kirchen mit Pastoren zu versorgen, da die Akademie in Genf die steigende Nachfrage der Gemeinden kaum nachkommen konnte. Da Papst Pius V. die katholischen Universitäten angewiesen hatte, Protestanten die Abschlüsse zu verweigern (Maag 2002, 140), brauchten junge Hugenotten ihre eigenen Universitäten, die dann auch gegründet wurden, vor allem in Leiden und Heidelberg, aber auch in Frankreich und benachbarten Gebieten wie Béarn, Orange und Sedan, die alle zu diesem Zeitpunkt unabhängig waren.
Jeanne hatte sehr gute Gründe, langsam und überlegt vorzugehen. Der Kardinal von Armagnac ließ sie wissen, dass sie die Bevölkerung Béarns in Ruhe lassen sollte, ihre Untertanen wollten ihren Katholizismus nicht aufgeben. Jeanne antwortete, dass sie in Béarn nur Gott über sich habe, dort könne sie ihrem Gewissen folgen, und in ihrem Land werde niemand wegen seines Glaubens verfolgt. Das letzte war ihr ein Anliegen, denn 1571 schrieb sie an ihren Statthalter, den Baron d´Arros, dass in ihrem Land niemand zum Glauben je gezwungen worden war und es auch nicht werden sollte („...intention n´a point esté et n´est encores qu´ilz soyent contraints par force et violence de se reanger à ladite Religion“, d´Aas 2002, 452).
Als sie sich bei der Einführung der Reformation in ihren Ländern unnachgiebig zeigte, zitierte der Papst sie nach Rom zwecks eines Ketzerprozesses. Da sie dieser Einladung nicht folgte, exkommunizierte er sie. Der Bann war eine ernste Bedrohung, da jeder katholische Herrscher jetzt das Recht hatte, ihre Länder an sich zu reißen und sie abzusetzen, eine Chance, die Philipp II. von Spanien sich nicht entgehen lassen würde. Katharina von Medici verteidigte deshalb Jeanne, weil sie keine spanische Präsenz auf der französischen Seite der Pyrenäen dulden wollte. Außerdem war sie eine Verfechterin der gallikanischen Freiheit der französischen Kirche und meinte deshalb, der Papst solle sich nicht in die Angelegenheiten der Kirche einmischen.
Königin der Hugenotten
Nach dem ersten Religionskrieg (1562-63) ließ Katharina von Medici den jungen Karl IX. mündig erklären und führte ihn mit dem Hof auf eine große Frankreichreise, die mehrere Jahre dauerte. Der Zweck dieser Reise war es, den König dem Volk zu zeigen, und damit die Loyalität der Bevölkerung zu erhalten. Jeanne wurde als Vasallin einberufen und stieß Ende Mai 1564 zum Zug in Macon.
Ihr Sohn Heinrich nahm auch Teil an diese Reise und seinetwegen stritten die zwei Königinnen sich, weil Jeanne ihn bei ihren protestantischen Gottesdiensten dabei haben wollte, und Katharina wünschte, dass er mit der königlichen Familie zur Messe gehe. Schließlich sandte Karl IX. Jeanne zu ihrem Besitz in Vendôme, während Heinrich als Gouverneur von Guyenne den Zug begleitete und in den Städten für den feierlichen Empfang des Königs sorgte.
Jeanne durfte nicht mit nach Bayonne, wo Katharina ihrer Tochter Elizabeth, Königin von Spanien, begegnen wollte. Philipp II. sandte als seinen Gesandten den Herzog von Alba, der auf dem Weg in die Niederlande war. Die Hugenotten waren später überzeugt, dass Alba und die Königinmutter in Bayonne ihre Ausrottung geplant hatten. Sicher ist, dass Alba in den Niederlanden mit aller Härte gegen die Protestanten vorging, und es ist durchaus möglich, dass er versuchte, Katharina auf seinen mörderischen Kurs einzustimmen. Schon 1568 – also vor der Bartholomäusnacht! – schrieb Jeanne, dass die Waffen, die gegen die Hugenotten verwendet werden sollten, in Bayonne geschmiedet worden seien (Ample déclaration).
Jeanne und Heinrich trafen sich später in Paris. 1566 ersuchte sie erneut um Erlaubnis, mit ihren beiden Kindern nach Béarn zu fahren, was ausgeschlagen wurde. Sie erhielt aber Erlaubnis, ihren Sohn in seinen französischen Ländereien herumzuführen, und Anfang 1567 reiste sie dann mit ihm nach Vendôme, und von dort setzte sie sich unerlaubt ab nach Béarn. Damit machte sie laut des Biographen Heinrichs, Pierre Babelon, aus einem französischen Prinzen einen Ausländer, und vor allem einen Hugenotten.
Von 1567 an arbeitete Jeanne für die Zukunft ihres Sohnes. Ihre Lebensaufgabe, schrieb sie selbst, sei: Gott, Königtum und ihr Blut. Mit Gott war die reformierte Religion, die wahre Kirche Gottes, gemeint. Mit dem König ihr Status als Vasallin und – trotz Béarn – als Französin, und mit dem „Blut“, die Familie, zuallererst ihr Sohn Heinrich. Er sollte von jetzt an kein Höfling mehr sein, sondern die Aufgaben eines Regenten lernen. Als ein Aufstand in Navarra niedergeschlagen worden war, wurde er dorthin geschickt, um die Basken zu befrieden. Als 14jähriger hielt er für seine Untertanen eine Rede, in welcher er ihr Fehlverhalten geißelte, ihnen die Gunst der Königin zusicherte, falls sie sich verbessern würden, und seinen berühmten Charme mit seinem Autoritätsanspruch verband.
Im Herbst 1567 versuchten die Hugenotten, die sich von der Aufrüstung des Königs bedroht fühlten, Karl IX. in ihre Gewalt zu bringen. Die Entführung missglückte, und die königliche Familie suchte, beschützt von den schweizerischen Söldnern, die die Ängste der Hugenotten verursacht hatten, Zuflucht in Paris. Die Hugenotten belagerten die Stadt. Im November wurden sie vor den Toren von St. Denis geschlagen und mussten sich in die Provinz zurückziehen, wo sie den Kampf bis zum Friedenschluss von Longjumeau im März 1568 fortsetzen.
Der Friedensvertrag war an sich nicht ungünstig für die Hugenotten, nur haperte es wie immer mit der Umsetzung. Katholische Behörden waren über die für die Hugenotten günstigen Bedingungen empört und setzten sie nicht um. Der Protestant La Noue schrieb in seinen Erinnerungen, dass der Krieg zwar viel Unheil bringe, aber dieser elende kleine Friedensvertrag sei viel schlimmer für die Reformierten, die in ihren Häuser umgebracht wurden, ohne dass sie sich zu wehren wagten („ …une guerre est misérable et qu´elle apporte avec soy beaucoup des maux…cette méchante petite paix est beaucoup pire pour ceux de la Réligion, qu´on assassinoit en leur maisons, et ne s´osoyent encores défendre“, d´Aas 2002, 382) Im Laufe des Sommers 1568 versuchten die Gruppierungen noch einmal miteinander zu reden, Karl IX. sandte einen Botschafter nach Béarn, und Jeanne verfasste ein Sendschreiben an den König mit dem Antrag, den Frieden in Guyenne wiederherzustellen.
In der Zwischenzeit fühlten sich der Prinz von Condé und der Admiral Coligny auf ihre Schlösser in Bourgogne zunehmend bedroht. Der Herzog von Alba wollte in den Niederlanden mit Feuer und Schwert den Protestantismus auszurotten, und Flüchtlinge berichteten ihnen von seinem Terror. Am 23. August 1568 flüchteten sie mit ihren Familien und Angehörigen über die Loire nach La Rochelle. Die Überquerung der Loire erinnerte fast an den biblischen Durchzug durchs Schilfmeer: so viele Hugenotten hatten sich angeschlossen, dass der Zug fast wie eine Völkerwanderung aussah, und die Loire hatte in der Augusthitze einen so niedrigen Wasserstand, dass Sandbanken in der Mitte auftauchten. Dementsprechend sangen alle Psalm 114 vom Auszug der Israeliten aus Ägypten, als sie hinüber waren. Die Parallele wurde noch einmal deutlich, als die königlichen Truppen, die sie verfolgten, wegen plötzlich einsetzenden Hochwassers den Fluss nicht überqueren konnten.
In dieser Situation war Jeanne zutiefst gespalten. Bislang hatte sie die Kriege moralisch unterstützt, aber nicht selbst teilgenommen. Falls es zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen sollte, konnte sie immer mit ihren Kindern in der uneinnehmbaren Festung Navarrenx Zuflucht suchen. Sie hatte jedoch ihren Sohn, der als zukünftiger Führer der Hugenotten das Kriegshandwerk lernen sollte, und so musste sie wählen, ob sie in Béarn unter ihrem Volk bleiben oder sich den Hugenotten anschließen sollte: „ich hatte den Krieg im Bauch“ schrieb sie danach („J´eu la guerre en mes entrailles“, Ample declaration). Sie setzte den Baron d´Arros als Statthalter ein, und Anfang September begab sie sich in Eilmarsch nach La Rochelle (Cocula 2004). Dort konnte sie ihren Sohn dem Prinzen von Condé überantworten. Sie schrieb unterwegs eine Reihe Briefe an Karl IX., an Katharina von Medici, an ihren Schwager, den Kardinal von Bourbon und an die Königin Elizabeth von England, um ihren Entschluss zu begründen. Angekommen in La Rochelle schrieb sie eine Erklärung („Ample declaration“) um der Öffentlichkeit zu erklären, warum sie sich der hugenottischen Armee zugesellte.
Die Hugenotten unter ihren Anführer aus der königlichen Familie wollten nicht als Aufrührer dastehen. Sie behaupteten, die erzkatholische Partei sei schuld daran, dass königliche Befehle nicht vollzogen wurden. Die Katholiken mit ihren Verbindungen nach Spanien und Rom seien Landesverräter. Die Politik des Kardinals von Lorraine verdient laut Sutherland (1974) keinen anderer Namen. Wenn Jeanne vom Frieden sprach, meinte sie eine Duldung der Hugenotten in Frankreich. Die Forderungen der Hugenotten waren immer dieselbe: Erlaubnis, Gottesdienste zu feiern, Gerichte mit zur Hälfte hugenottischen Richtern, sichere Zufluchtsstädte – deren Anzahl schwankte in den Verhandlungen – und Zugang zu Ausbildung und Beamtenstellen gleichrangig mit den Katholiken. Die Provinz Languedoc unter dem moderat katholischen Gouverneur Montmorency-Damville war ein friedlicher Ort in den Religionskriegen, weil Damville den Hugenotten solche Rechte einräumte, und die katholische Bevölkerung sich damit abfand.
Im März 1569 fand eine Schlacht bei Jarnac statt. Der Prinz von Condé kämpfte mit, wurde verwundet und nach der Schlacht ermordet. Es gelang Admiral Coligny, die hugenottischen Truppen zusammenzuhalten, aber der Verlust des Prinzen war ein herber Schlag. Heinrich von Navarra war jetzt der ranghöchste Prinz, und zusammen mit seinem Vetter, dem gleichaltrigen Heinrich von Condé, wurde er jetzt Oberbefehlshaber über die Armee der Prinzen. In Wirklichkeit lag die Verantwortung für die Kriegsführung bei dem erfahrenen Admiral, und die beiden Prinzen wurden seine Pagen genannt.
Jeanne blieb in La Rochelle, während Coligny mit den Prinzen im Krieg war, und sie konnte, unterstützt von einem Rat adliger Hugenotten, die „Regierungsgeschäfte“ regeln. Sie schrieb an England und nach Deutschland. Sie unterzeichnete Erlässe, versuchte Geld für das Heer aufzutreiben, pfändete ihren schönsten Schmuck für einen Kriegsdarlehen an Elizabeth von England und ließ ein Kriegsschiff namens „Die Hugenottin“ bauen.
So wie sie immer behauptete, nicht gegen den König, sondern gegen seine schlechten Ratgeber zu kämpfen, so behauptete Karl IX., dass sie in La Rochelle von den Hugenotten gefangen gehalten wurde, und er ließ den Baron Terride mit einer „Befreiungsarmee“ in Béarn einfallen. In kürzester Zeit waren ganz Béarn und Navarra erobert und zum Katholizismus zurückgeführt. Nur der Baron d`Arros hielt im Navarrenx stand. Um ihre Länder zurückzuerobern, sandte Jeanne den Graf von Montgommery mit einer „Hilfsarmee“ nach Navarrenx. In noch kürzerer Zeit als Terride gebraucht hatte, verjagte er ihn aus Béarn. Die Befreiung von Terride wurde in Pau mit einem Festgottesdienst gefeiert, wobei Pierre Viret über Psalm 124, 7: „Unsere Seele ist aus dem Netz des Vogelfängers entkommen“ predigte.
Vom Winter 1569 bis zum Frühjahr 1570 führte Coligny sein Heer mit den Prinzen Heinrich von Navarra und Heinrich von Condé durch ganz Südfrankreich und von Provence nach Norden, bis er Paris bedrohte. Der König hatte kein Geld mehr, um Krieg zu führen, und musste notgedrungen Friedensverhandlungen einleiten. Im August 1570 wurde dann der Frieden von St. Germain geschlossen. Wiederum war Jeanne d´Albret diejenige, die auf Augenhöhe mit dem König verhandeln konnte. Der Vertragstext erklärt immer wieder, dass der König die Bedingungen seiner Tante erfüllen wollte (Sutherland 1980, Potter 1997).
Jeanne blieb vorläufig in La Rochelle. Im April 1571 fand dort die Nationalsynode der reformierten Kirchen Frankreichs statt. Theodor Beza kam aus Genf angereist, um die Synode zu leiten. Pierre Viret wollte teilnehmen, starb aber vorher, vermutlich hatte seine Gesundheit in der Gefangenschaft unter Baron Terride gelitten. Auf der Synode wurde das französische Glaubensbekenntnis von 1559 neu verhandelt und die endgültige Fassung als „Bekenntnis von La Rochelle“ beschlossen. Darüber hinaus wurde eine Kirchenordnung für Béarn beschlossen, und die Synode diskutierte Fragen, die Jeanne d´Albret gestellt hatte. Als Ersatz für Pierre Viret bekam sie Nicolas des Gallars zur Seite gestellt. Er war Calvins Sekretär gewesen, danach hatte er die „Strangers´ Church“, die Kirche für Ausländer in London, als Nachfolger für Johannes à Lasco geleitet und dann an Bezas Seite im Colloquium von Poissy 1561 gestanden. Er war Pastor in Orléans gewesen und wurde jetzt Seelsorger für Jeanne d´Albret und ihr theologischer Ratgeber für die Kirche in ihrem Land.
Er war eine gute Wahl, denn während Beza sehr an dem Konzept von Genf hing und ein presbyteriales Kirchenverständnis (Kingdon 1967) hatte, war des Gallars in England gewesen, als Königin Elizabeth nach dem Tod ihrer katholischen Schwester die anglikanische Kirche einführte. Außerdem behauptet Bernard Roussel (2004), dass er das Buch Martin Bucers „De regno Christi“ von 1550 mitbrachte. Dieses Buch ist dem englischen König Edward VI. gewidmet und beschreibt, wie ein König eine reformierte Kirche leiten kann. Damit hatte des Gallars ein Konzept für eine von einer Fürstin geleitete Kirche, die dann in den Jahren als Heinrich und Katharina von Navarra das Erbe der Mutter verwalteten, Bestand hatte.
Während Jeanne in La Rochelle noch weilte, ereilte sie ein Angebot von Katharina von Medici, ob ihren Sohn Heinrich die Tochter Katharinas heiraten mochte. Hugenotten und Katholiken würden sich versöhnen und die Häuser Valois und Bourbon sich nahekommen. Dieses Angebot war zu verlockend, um es auszuschlagen, aber Jeanne traute Katharina nicht so recht, jedenfalls wollte sie nicht gleich nach Paris ziehen, um über die Ehe zu verhandeln.
Stattdessen fuhr sie nach Pau zurück, führte die neu beschlossene Kirchenordnung ein und kümmerte sich um ihre Länder. Die Tuberkulose machte sich bemerkbar und sie wollte zur Kur in die Bergen fahren. Währenddessen zogen sich die Eheverhandlungen hin, bis Jeanne endlich im Frühjahr 1572 nach Paris zog. In den Briefen an ihren Sohn hört man von den Verhandlungen, von ihrer Missbilligung des höfischen Lebens und von ihrem Ärger mit Katharina. Jeanne wollte so viele Rechte wie möglich für ihren Sohn und die Hugenotten aushandeln. Am Ende musste sie es aufgeben, Margareta von Valois, Margot genannt, zum reformierten Glauben zu bekehren. Dafür hoffte sie aber, dass das Brautpaar nach Béarn ziehen würde. Eine königliche Mischehe war etwas ganz Neues und musste in Detail besprochen und geplant werden. Jeanne handelte das Meistmögliche für ihren Sohn aus und im April 1572 wurde eine Einigung erzielt. Heinrich sollte allerdings noch eine Weile in Béarn bleiben und Jeanne bereitete in Paris die Hochzeit vor.
Die zähen Verhandlungen im Frühjahr hatten viel Kraft gekostet, Jeanne hielt sich aber tapfer. Im Juni brach sie zusammen und starb am 9. Juni an der Tuberkulose, die sie seit Jahren geplagt hatte. Später entstanden Gerüchte, sie sei von Katharina von Medici vergiftet worden. Diese sollte ihr ein Paar Handschuhe, die von ihrem privaten Giftmischer präpariert worden seien, geschenkt haben. Da Katharina nach den Massakern von St. Bartholomäus, die in der Periode von August bis November 1572 stattfanden, von den Hugenotten als der Inbegriff des Bösen dargestellt wurde, gehört der Giftmord an Jeanne d´Albret zu den Verleumdungen.
Heinrich traf erst etwas später in Paris ein. Im Testament Jeannes hatte sie sich gewünscht, in Béarn bei ihrem Vater beerdigt zu werden. Ihr Sohn setzte sich über ihren letzten Willen hinweg: sie wurde nach Vendôme geführt und neben ihrem Mann, Anton von Bourbon, bestattet.
Trotz ihre Fähigkeiten wurde sie eine Fußnote in der Geschichte Frankreichs: ihr Sohn wurde zwar als Heinrich IV. König von Frankreich, aber er wurde katholisch und aus den Hugenotten wurde, dank des Ediktes von Nantes 1598, eine geduldete Minderheit. Die Kirche, die Jeanne in Béarn aufgebaut hatte, wurde unter ihrem Enkelsohn, Ludwig XIII., verboten. 1685 wurde dann das Edikt von Nantes aufgehoben, und die Reformierten wurden grausam verfolgt. Viele flüchteten, viele konvertierten und viele wurden umgebracht. Die großen Hoffnungen, die die Hugenotten um Jahr 1560, als Jeanne konvertierte, hegten, erwiesen sich als trügerisch.
Wenn auch letztlich nicht erfolgreich, war sie dennoch bewundernswert. Mit dem Admiral Coligny zusammen hatte sie den Frieden von St. Germain errungen, dann eine Landeskirche aufgebaut und ihre Kinder gefördert. Sie war die reformierte Präsenz in der königlichen Familie und in ihren letzten Jahren wurde sie die Königin der Hugenotten.
Stammtafeln der Familie von Valois und der Familie von Bourbon (PDF)
Literatur
Quellen:
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Christnacht - Matthäus 1,1-25: Das Heil kommt von den Juden
von Johannes Calvin
Matthäus 1,1 Dies ist das Buch von der Geburt Jesu Christi, der da ist ein Sohn Davids, des Sohnes Abrahams.
Über diese beiden Geschlechtsregister, die von Matthäus und Lukas überliefert sind, sind sich nicht alle Gelehrten einig. Wir müssen daher zuerst prüfen, ob sie beide den Stammbaum Christi von Joseph ableiten oder ob dies nur Matthäus tut, Lukas aber den der Maria bietet. Die dies letztere annehmen, haben in den verschieden überlieferten Namen einen blendenden Vorwand für ihre Unterscheidung, und auf den ersten Blick ist nichts weniger wahrscheinlich, als daß hier ein und derselbe Stammbaum erzählt wird, weil Lukas so sehr von Matthäus abweicht. Denn er nennt von David bis auf Sealthiel und von Serubabel bis Joseph andere Namen. Sodann führen sie ins Feld, es wäre doch unvernünftig gewesen, soviel Mühe in eine nicht notwendige Sache zu stecken, daß nämlich das Geschlecht des Joseph, zumal er nicht einmal der Vater Christi war, zweimal aufgeführt wurde. Was soll, so fragen sie, diese Wiederholung, durch die nichts bewiesen wird, was erheblich zur Erbauung des Glaubens dient? Denn wenn nur das erkennbar wird, daß Joseph aus den Nachkommen und der Familie Davids stammt, bleibt ja die Abstammung Christi immer noch zweifelhaft. So wäre es ihrer Meinung nach überflüssig gewesen, wenn zwei Evangelisten sich um diesen Stammbaum bemüht hätten. Daß aber Matthäus Jesus auf Joseph zurückführt, entschuldigen sie damit, er habe es für die vielen getan, die Joseph für den Vater Christi hielten. Matthäus aber hätte auf lächerliche Weise damit einen gefährlichen Irrtum unterstützt, und der Zusammenhang widerlegt diese Annahme.
Denn sobald er das Geschlechtsregister abgeschlossen hat, lehrt Matthäus, Christus sei von der Jungfrau durch die geheime Kraft des Geistes und nicht aus dem Samen des Joseph empfangen worden. Hätten also jene Ausleger recht, müßte man Matthäus der Torheit und Unbedachtheit zeihen. Noch nicht erledigt aber ist ihr Einwand, das Geschlechtsregister des Joseph habe nichts mit Christus zu tun. Allgemein bekannt ist die Antwort, die Abstammung der Maria sei in der des Joseph mitüberliefert, weil das Gesetz befahl, ein jeder solle eine Frau aus seinem Stamm heiraten. Jene erwidern freilich, dies Gesetz sei die meisten Jahrhunderte hindurch unbeachtet geblieben. Aber sie stützen sich für diese Behauptung auf armselige Argumente. So darauf, daß die elf Stämme durch Eid gelobt hätten, den Benjaminiten keine Frauen zu geben. Wäre dies ohnehin vom Gesetz verboten gewesen, so argumentieren sie, so hätte es doch eines neuen Eides nicht bedurft. Meiner Meinung nach aber verallgemeinern sie unrichtig und unbedacht eine besondere Vorschrift. Durch den Untergang eines Stammes wurde notwendigerweise das ganze Volk verstümmelt, wenn man nicht einen außerordentlichen Ausweg fand. Daß in dieser Lage dieser Ausweg verboten wurde, heißt noch nicht, daß er sonst allgemein erlaubt war. Aber jene werfen ferner ein, Maria, die Mutter Christi, sei mit Elisabeth verwandt gewesen, wie Lukas vorher bezeugt. Elisabeth aber gehörte zu den Töchtern Aarons. Hier ist die Antwort leicht: den Töchtern Judas wie denen anderer Stämme war es erlaubt, in einen priesterlichen Stamm einzuheiraten. Denn jenes Gesetz wollte nur verhindern, daß eine Ehefrau ihr Erbe einem anderen als ihren Stammesgenossen einbrachte. So war es weder verwunderlich noch ungewöhnlich, wenn die Mutter der Elisabeth einem Priester angetraut wurde. - Nun kann man aber weiterhin annehmen, Maria würde zum Stamm des Joseph gerechnet, weil sie seine Ehefrau war. Wem daher die bisherige Beweisführung nicht genügt, dem gestehe ich zu, daß man sie auch noch nicht aus dem bloßen Text, so wie er hier steht, entnehmen könnte, kämen nicht andere Umstände hinzu:
Erstens muß man bedenken, daß die Evangelisten von Dingen, die ihrer Zeit bekannt waren, redeten. Wenn sie das Geschlecht des Joseph bis auf David zurückführten, so war für jedermann damit klar, daß er diesem Stammbaum auch die Herkunft der Maria entnehmen konnte. Zweifellos verließen sich die Evangelisten auf die allgemeine Kenntnis dieser Zusammenhänge in ihrer Zeit und forschten schon darum nicht weiter. Wer wirklich daran zweifelte, konnte schnell und einfach die Sache untersuchen. Die Evangelisten aber wußten von Joseph, daß er ein rechtschaffener und ehrbarer Mann war, der seine Frau nach Vorschrift des Gesetzes nur aus der eigenen Familie genommen hatte. Freilich genügt das allgemeine Gesetz noch nicht zum Nachweis der königlichen Herkunft der Maria: sie konnte aus dem Stamm Juda sein und dennoch nicht aus der Linie von David stammen. Deshalb bin ich dennoch der Meinung, daß die Evangelisten mit der Einsicht frommer Menschen in diesen Fragen keinen Streit suchten, sondern in der Person des Joseph auch das Geschlecht der Maria sahen, zumal dies ihrer Zeit selbstverständlich war. Es konnte aber auch unglaublich scheinen, daß diese armen und verachteten Eheleute zu den Nachkommen Davids zählten und zu dem königlichen Samen, aus dem der Erlöser kommen sollte. Wenn nun jemand fragt, ob das Geschlechtsregister, wie es von Matthäus und Lukas überliefert wird, klar und eindeutig darlegt, daß Maria aus dem Geschlecht Davids stammt, dem gestehe ich zu, daß man dies nicht mit Sicherheit schließen kann. Aber weil damals die Verwandtschaft der Maria und des Joseph nicht verborgen war, waren die Evangelisten in dieser Frage sicherer. Ihnen ging es beiden um die Beseitigung des Anstoßes, der darin bestand, daß Joseph wie Maria unbekannt, verachtet und arm waren, so daß man in ihnen nichts Königliches erblicken konnte.
Zweitens: Wer bei Lukas das Geschlechtsregister der Maria unter Übergehung des Joseph zu lesen meint, kann ohne Mühe widerlegt werden. Lukas schreibt wörtlich: Jesus ward gehalten für einen Sohn Josephs, des Sohnes Elis, des Sohnes Matthats etc. Er erwähnt also weder den Vater noch den Großvater Christi, sondern redet deutlich von der Herkunft des Joseph. Ich weiß, womit man diesen Knoten lösen will: Sohn stehe hier für Schwiegersohn. Joseph sei also der Sohn des Eli, weil er dessen Tochter zur Frau habe. Das aber spricht gegen die Naturordnung und hat auch kein Schriftbeispiel für sich. Ist aber aus dem Stammbaum der Maria Salomo ausgeschlossen .(so scheinbar Lukas), hört Christus auf, Christus zu sein. Denn was von seinem Geschlecht berichtet wird, ist alles in jene Verheißung gegründet: „Auf deinem Thron wird dein Nachfolger sitzen, der ewiglich regieren wird. Ich will sein Vater sein, und er soll mein Sohn sein“ (2. Sam. 7,13.14; Ps. 132,11). So ist aber unbestritten Salomo das Abbild jenes ewigen Königs, der David verheißen ist. Und auf Christus paßt jene Verheißung nur, soweit sie durch Salomo vorgezeichnet ist. Wenn nun das Geschlecht Christi nicht über Salomo führt, wie und mit welcher Begründung kann er dann Sohn Davids genannt werden? Wer daher Salomo aus dem Geschlechtsregister Christi streichen will, der streicht und zerstört damit auch die Verheißungen, an denen der Davidssohn erkannt werden muß. Auf welche Weise Lukas das Geschlechtsregister über Nathan führen kann und doch Salomo nicht übergehen muß, wird später deutlich werden.
Obgleich nun beide Geschlechtsregister nach meiner Darstellung in der Hauptsache übereinstimmen, zeigt sich doch in vier Stücken ein Unterschied. Der erste ist, daß Lukas rückwärts, vom letzten zum ersten vorgeht, während Matthäus am Anfang anfängt. Zweitens dehnt Matthäus seine Reihe nicht über das erwählte und heilige Geschlecht Abrahams hinaus aus, während Lukas die seinige bis auf Adam verfolgt. Drittens bringt Matthäus ein Geschlechtsregister, wie es dem Gesetz entsprach; er nimmt sich die Freiheit, einige Namen auszulassen, und zählt nur dreimal 14 Glieder, um dem Gedächtnis der Leser aufzuhelfen. Viertens endlich reden sie von denselben Menschen und bringen doch verschiedene Namen.
Die zuerst genannte verschiedene Reihenfolge birgt keine Schwierigkeiten in sich. Der Rückgang auf Abraham bzw. Adam hat guten Grund. Gott hatte sich das Geschlecht des Abraham erwählt. Aus ihm sollte der Erlöser der Welt kommen. Die Heilsverheißung war gewissermaßen in dies Geschlecht eingeschlossen bis zum Kommen Christi; Matthäus geht also nicht hinaus über die von Gott gesetzten Schranken. Ebenso nennt Paulus (Rom. 15,8) Christus einen „Diener der Beschneidung, zu bestätigen die Verheißungen, die den Vätern gegeben sind“. Übereinstimmend sagt Jesus (Joh. 4,22): „Das Heil kommt von den Juden.“ Matthäus will daher in seinem heiligen Stammbaum den anschaulich machen, der eigentlich seine Bestimmung ist. Wir sollen in der Aufzählung des Matthäus Gottes Bund erkennen, durch den er den Samen Abrahams sich zum Volk erwählte und ihn von den übrigen Völkern wie durch einen Zaun trennte. Lukas dagegen sieht noch weiter: Obgleich Gott durch seinen Bund mit Abraham den Erlöser besonders seinem Geschlecht verheißen hat, wissen wir doch, daß nach dem Fall des ersten Menschen alle ihn brauchen, wie er denn auch schließlich für die ganze Welt bestimmt war. Durch Gottes wunderbaren Ratschluß hat Lukas uns Christus als Adams Sohn dargestellt, Matthäus schloß ihn allein in die Familie des Abraham. Denn Christus als Heilsbringer würde uns nichts nützen, wäre er nicht ohne Unterschied allen gegeben. Außerdem wäre das Wort des Apostels nicht wahr (Hebr. 13,8): „Jesus Christus gestern und heute und in Ewigkeit“, wären nicht seine Kraft und Gnade für alle Zeiten vom Beginn der Schöpfung an ausgegossen. Wir wissen also, daß in Christus der ganzen Menschheit das Heil zugänglich gemacht und dargeboten ist, weil er hier nicht ohne Grund Sohn des Noah und Sohn Adams genannt wird. Wir sollen ihn aber in Gottes Wort suchen. Darum ruft uns der Geist nicht zufällig durch einen anderen Evangelisten zurück zum Geschlecht Abrahams, dem der Schatz ewigen Lebens ebenso wie Christus lange Zeit anvertraut war.
Kommen wir zum dritten Unterschied. Ohne Zweifel bringt Matthäus eine andere Reihenfolge als Lukas. Der eine läßt auf David Salomo, der andere Nathan folgen. Daraus geht deutlich hervor, daß es sich um verschiedene Linien handelt. Diese Schwierigkeit lösen gute und erfahrene Ausleger mit der Erklärung, Matthäus weiche von der „natürlichen“ Reihenfolge des Lukas ab, um die dem Gesetz entsprechende Abstammung darzustellen. Unter dieser verstehe ich, daß das Herrschaftsrecht schließlich auf Sealthiel überging. Euseb nennt im ersten Buch seiner Kirchengeschichte umgekehrt die Genealogie des Lukas die dem Gesetz entsprechende, meint aber im Grunde das gleiche: auch er will zeigen, daß die Macht, die in der Person des Salomo aufgerichtet war, rechtmäßig auf Sealthiel überging. Aber es ist richtiger und besser, die Ordnung des Matthäus als dem Gesetz entsprechend zu bezeichnen, die Salomo nach David nennt ohne Rücksicht auf die fleischliche Abstammung Christi, sondern im Blick darauf, wie Christus von Salomo und den anderen Königen abstammte, daß er ihr rechtmäßiger Nachfolger war, in dessen Hand das ewige Reich nach Gottes Bund aufgerichtet wurde.
Sodann stoßen sich viele daran, daß die Namen der beiden Listen so vielfach voneinander abweichen. Denn von David bis auf Joseph stimmen die beiden Evangelisten nirgends außer bei Sealthiel und Serubabel überein. Man pflegt diese Unterschiede im allgemeinen damit zu entschuldigen, daß die Juden meist zwei Namen trugen. Diese Erklärung allein wird schwerlich genügen. Aber da uns bis heute unbekannt blieb, auf welche Weise die Liste des Matthäus geführt und zusammengestellt wurde, ist es auch nicht verwunderlich, daß wir nicht mehr feststellen können, wieweit die beiden Evangelisten in den einzelnen Personen übereinstimmen oder voneinander abweichen. Dennoch steht außer Zweifel, daß sie vom babylonischen Exil ab mit verschiedenen Namen die gleichen Personen bezeichnen. Sealthiel und Serubabel aber nennen beide gleich, um den Wendepunkt in der Lage des Volkes zu bezeichnen, weil damals die königliche Herrscherwürde erloschen war. Weil aber ein schwacher Schatten dieser Herrschaft übriggeblieben war, wurde die Veränderung deutlich und ermahnte die Gläubigen, auf ein herrlicheres Reich als das sichtbare Reich des Salomo zu hoffen, das doch nur kurze Zeit geblüht hatte.
Es sollte nicht befremden, daß Lukas in seiner Aufzählung mehr Namen als Matthäus hat. In einem „natürlichen“ Stammbaum stehen gewöhnlich mehr Namen als in einem „Rechtsstammbaum“. Hinzu kommt noch, daß Matthäus das Register in drei Teile mit je 14 Gliedern zerlegen wollte und sich darum die Freiheit nahm, einzelne Namen zu übergehen, die Lukas deswegen doch nicht auszulassen brauchte, weil er eine solche Einteilung nicht vorgesehen hatte.
Damit habe ich vom Geschlechtsregister Christi gesagt, was im ganzen zu wissen mir nützlich erschien. Plagt jemanden die Neugier noch mehr, so gedenke ich dagegen der paulinischen Mahnung und ziehe Nüchternheit und Mäßigkeit armseligen und nichtsnutzigen Argumenten vor: Tit. 3,9 verbietet uns, Geschlechtsregistern allzu eifrig nachzuforschen. Beachtenswert erscheint nur noch, warum Matthäus das ganze Geschlechtsregister Christi in drei Teile mit je 14 Gliedern eingeteilt hat. Wer sagt, er habe dies zur Stärkung seiner Leser gemacht, sagt weder alles noch gar nichts. Natürlich prägt sich eine solche dreigeteilte Aufzählung besser ein. Aber Matthäus wollte darüber hinaus auch die drei verschiedenen Perioden der israelitischen Geschichte bezeichnen, die zwischen der Verheißung Christi an Abraham und der Erfüllung verlaufen: bis zur Zeit Davids besaß der Stamm Juda bei aller seiner hervorragenden Stellung doch keine eigentliche Herrschaft über die anderen Stämme. In Davids Person wurde dann unverhofft die königliche Herrschermacht aufgerichtet, die bis Jechonja währte. Von da ab blieb dem Stamm Juda wieder nur jene Würde, an der sich bis zum Kommen des Messias fromme Gemüter im Glauben aufrichten konnten.
V. 1. “Dies ist das Buch von der Geburt Jesu Christi.“ Die Überschrift begreift nicht etwa das ganze Buch des Matthäus unter sich, sondern „Buch"“bedeutet hier soviel wie Aufzählung oder Register. Die Überschrift bezieht sich also nur auf den ihr nachfolgenden Stammbaum Christi. Matthäus nennt Christus Sohn Abrahams und Davids im Blick auf die Verheißungen, weil Gott Abraham einen Sohn verheißen hatte, in dem alle Völker gesegnet werden sollten (Gen. 12,3). Noch deutlicher war die Verheißung an David gewesen, das Reich werde ewiglich bei seinem Haus bleiben, und solange Sonne und Mond am Himmel leuchteten, werde ein König aus seinen Nachkommen auf dem Thron sitzen (Ps. 72,5.7; 89,29). Daher war es bei den Juden Brauch geworden, Christus Davids Sohn zu nennen.
V. 2. „Jakob zeugte Juda und seine Brüder“: Während Matthäus Ismael, Abrahams Erstgeborenen, mit Stillschweigen übergeht und ebenso Esau, dem von Natur der Platz vor Jakob zukam, fügt er mit Recht die zwölf Patriarchen in den Stammbaum ein, da sie alle aus Gottes Gnade zu Kindern angenommen waren. Er will dadurch andeuten, daß das in Christus verheißene Heil nicht den Stamm Juda allein angehe, sondern allen Kindern Jakobs gehöre, die Gott unter Ausschluß von Ismael und Esau zu seiner Gemeinde versammelt hatte.
V. 3. „Juda zeugte Perez und Serab von der Thamar.“ Dies ist das Vorspiel jener Erniedrigung und Entäußerung, von der Paulus redet (Phil. 2,7). Der Sohn Gottes hätte sein Geschlecht rein erhalten und vor jedem Makel bewahren können. Wie er aber in die Welt kam, um sich selbst zu entäußern, Knechtsgcstalt anzunehmen, ein Wurm zu werden und kein Mensch, ein Spott der Leute und Verachtung des Volks (Ps. 22,7) und endlich den verfluchten Tod am Kreuz zu leiden, so hat er sich auch gegen diesen Flecken in seinem Stammbaum nicht gewehrt, daß der, der sein Vorfahre werden sollte, aus dem Ehebruch geboren wurde. Denn obwohl Thamar nicht aus Sinneslust ihren Schwiegervater verführte, versuchte sie doch, auf verbotene Weise ihr angetanes Unrecht zu rächen. Juda gab seiner Begierde nach und vergriff sich an seiner Schwiegertochter. Aber die unvergleichliche Güte Gottes kämpfte gegen die Sünde dieser beiden, damit dennoch dieser ehebrecherische Same einst das Königszepter erhalten sollte.
V. 6. „Jesse zeugte den König David“: Nur bei David wird der Königstitel erwähnt, denn Gott hatte ihn zum Abbild des Messias und kommenden Führers bestimmt. Das Königtum hatte zwar mit Saul begonnen. Weil es aber durch Aufruhr und unrechtmäßige Wünsche des Volkes zustande gekommen war, gilt es erst seit seiner Übertragung auf David als rechtmäßig, besonders soweit man den Bund Gottes in Betracht zieht, in dem er verheißen hatte, er wolle ewiglich der Führer der Seinen sein. Als das Volk das Joch des Herrn abgeschüttelt und sich trotzig einen König gefordert hatte, wurde ihm Saul für kurze Zeit zugestanden (1. Sam. 8,5). Aber Gott errichtete alsbald sein Reich in der Hand Davids, daß es ein Unterpfand wahrer Seligkeit würde. Hier ist jene glückliche Verfassung des Volkes gemeint, wie Gott sie gewollt hat. Inzwischen aber erwähnt der Evangelist jene menschliche Schande, die ausreichte, die ganze Herrlichkeit jenes göttlichen Segens zu entstellen und zu beflecken, daß nämlich David Salomo gezeugt habe mit Bathseba, der dem Gatten frevelhaft entrissenen Frau, die David nur dadurch in seinen Besitz brachte, daß er den unschuldigen Gatten treulos dem Mordschwert der Feinde überlieferte. Dieser böse Flecken an den Anfängen des Königreichs mußte den Juden jeden Ruhm nach der Weise des Fleisches nehmen. Gott aber wollte so bezeugen, daß kein Verdienst von Menschen ihn bewogen habe, jenes Reich aufzurichten. In der Reihenfolge der Könige hat Matthäus drei Namen ausgelassen, wie die heilige Geschichte beweist. Nur hat er es kaum aus Vergeßlichkeit getan oder weil diese drei nicht wert gewesen wären, auf der Geschlechtstafel Christi gezählt zu werden - letzteres würde ja auch auf andere zutreffen, die Matth. unbedenklich neben frommen und heiligen Königen nennt -, es ist vielmehr richtiger zu sagen, daß der Evangelist eine Liste von 14 Königen aufstellen wollte und keinen Wert darauf legte, alle Könige aufzuzählen. Sein Ziel war, den Lesern den Zusammenhang des Stammbaumes bis zum Ende des Reiches vorzuführen. Daß der letzte Abschnitt bei Matthäus, von der Gefangenschaft bis auf Christus, nur dreizehn Namen nennt, wird wohl durch Nachlässigkeit der Abschreiber geschehen sein.
V. 12. „Nach der babylonischen Gefangenschaft.“ Der Evangelist erinnert an die Zeit, in der die Juden in Gefangenschaft geschleppt und Davids Nachkommen aus Königen Knechte und Verbannte wurden. Jene Gefangenschaft schien den Untergang des Volkes zu bedeuten, aber durch die wunderbare Fürsorge Gottes geschah es, daß nicht nur die Juden wieder zu einem Ganzen verschmolzen, sondern daß auch noch einige Überreste des alten Vorrangs dem Haus Davids erhalten blieben. Denn die aus der Fremde Heimgekehrten gehorchten aus freien Stücken Serubabel. Bis kurz vor der Ankunft Christi blieben wenigstens etliche Trümmer des zerbrochenen Königszepters erhalten gemäß der Weissagung Jakobs (Gen. 49,10): „Es wird das Zepter von Juda nicht entwendet werden noch der Stab des Herrschers von seinen Füßen, bis daß der Held komme.“ In dieser wahrlich elenden und traurigen Zerstreuung des Volkes hörten dennoch die Funken göttlicher Gnade nicht auf zu strahlen.
V. 16. „Jesus, der da heißt Christus.“ Durch den Beinamen deutet Matthäus auf das Amt Jesu. Die Leser sollen wissen, daß Jesus nicht ein Mensch wie jeder andere war, sondern der von Gott gesalbte Erlöser. Was das Wort Christus betrifft, so ist zu beachten, daß man nach der Zerstörung des Reiches anfing, diesen Namen ausschließlich für den verheißenen Einen zu gebrauchen, der die völlige Wiederherstellung des verlorenen Heils bringen sollte. Denn solange die Herrschaft oder doch ein Rest von Herrschaft dem Geschlecht Davids verblieb, pflegte man die Könige „Gesalbte“ zu nennen. Später aber, damit die Gläubigen nicht über der eingetretenen Verwüstung verzweifelten, hat Gott es so gefügt, daß jener Name allein dem Erlöser beigelegt wurde, wie aus Dan. 9,25 erhellt. Die evang. Geschichte zeigt überall, daß in den Tagen der Offenbarung des Sohnes Gottes im Fleisch diese Anwendung des Namens Christus die im Volk verbreitete war.
Matthäus 1,18-25
18 Die Geburt Jesu Christi geschah aber also. Als Maria, seine Mutter, dem Josef vertraut war, erfand sich`s, ehe er sie heimholte, daß sie schwanger war von dem heiligen Geist. 19 Josef aber, ihr Mann, war fromm und wollte sich nicht in Schande bringen, gedachte aber, sie heimlich zu verlassen. 20 Indem er aber also gedachte, siehe, da erschien ihm ein Engel des Herrn im Traum und sprach: Josef, du Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria, dein Gemahl, zu dir zu nehmen; denn das in ihr geboren ist, das ist vom heiligen Geist. 21 Und sie wird einen Sohn gebären, des Namen sollst du Jesus heißen, denn er wird sein Volk retten von ihren Sünden. 22 Das ist aber alles geschehen, auf daß erfüllt würde, was der Herr durch die Propheten gesagt hat, der da spricht (Jes. 7,14): 23 „Siehe, eine Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären und sie werden seinen Namen Immanuel heißen“, das ist verdolmetscht: Gott mir uns. 24 Da nun Josef vom Schlaf erwachte, tat er, wie ihm des Herrn Engel befohlen hatte, und nahm sein Gemahl zu sich. 25 Und er berührte sie nicht, bis sie einen Sohn gebar; und hieß seinen Namen Jesus.
V. 18. „Die Geburt Jesu Christi ...“: Matthäus erzählt noch nicht, wo und wie Christus geboren wurde, sondern wie seine wunderbare Zeugung Joseph kundwurde. Wenn wir hier lesen: es erfand sich, daß Maria schwanger war von dem Heiligen Geist, so bedeutet das nicht, daß das geheimnisvolle Werk Gottes nun allgemein bekanntgeworden wäre. Der Evangelist weist vielmehr hin auf die Kraft des Geistes, die bisher vor Menschenaugen verborgen war. Sorgfältig gibt er die Zeit an: als sie Joseph vertraut war, aber ehe er sie heimholte. Denn sobald eine Jungfrau einem Mann verlobt war, galt sie nach jüdischer Sitte vom Tag des Verlöbnisses an als seine rechtmäßige Gattin, und sie wurde durch das Gesetz als Ehebrecherin verurteilt, wenn sie nach Eingehung des Verlöbnisses das Gebot der Keuschheit übertrat. In der Zeit, von der Matthäus redet, war die Jungfrau noch nicht in die Hände des Mannes übergeben, sondern lebte noch unter elterlicher Hut.
V. 19. „Joseph war fromm.“ Man hat wohl gemeint, Joseph habe ebendeshalb, weil er fromm oder gerecht war, die Gattin schonen wollen: dann wäre Gerechtigkeit so viel wie Menschlichkeit, ein zur Milde geneigter Sinn. Besser wird es aber sein, den Satz so zu erklären: Joseph war zwar gerecht oder fromm; dennoch war er erschüttert von dem Ruf seiner Gattin. Seine Gerechtigkeit bestand in dem Haß gegen das Böse, und weil er Maria des Ehebruchs für verdächtig hielt, wollte er solcher Freveltat nicht noch durch seine Nachsicht Vorschub leisten. Denn zu der Unkeuschheit der Gattin schweigen, heißt sie erst recht begünstigen. Vor dieser Sünde der Begünstigung scheut nicht nur jeder ehrenhafte Mensch zurück, sondern auch die Gesetze brandmarken solche Unachtsamkeit. Weil Joseph die Gerechtigkeit liebte, haßte er die Sünde, die er bei Maria zu sehen glaubte. Weil er aber ein zur Menschlichkeit und Nachsicht bereites Herz besaß, wollte er auch nicht nach der höchsten Strenge des Gesetzes handeln. Der beste und am wenigsten auffällige Weg schien ihm zu sein, wenn er heimlich wegginge und an einen anderen Ort zöge. Daraus erkennen wir, daß Joseph nicht aus Feigheit oder falscher Liebe unter dem Vorwand der Barmherzigkeit die Sünde durch Stillschweigen begünstigte; zugleich aber verzichtete er darauf, nach dem strengen Recht zu verfahren und die Gattin vor Gericht ehrlos zu machen. Unzweifelhaft ist er durch eine verborgene Wirkung des Heiligen Geistes zurückgehalten worden. Wir wissen, wie Eifersucht blind ist und den Menschen mit Gewalt hinreißt. Selbst wenn Joseph einen allzu heftigen Ausbruch unterdrückt hätte, mußte Gott doch auf wunderbare Weise alle die Gefahren abwenden, die seinem Entschluß, die Heimat zu verlassen, gefolgt wären. Ähnlich beurteile ich das Schweigen Marias. Zugegeben, daß sie aus Schamgefühl ihrem Mann verheimlicht hat, daß sie schwanger war von dem Heiligen Geist, so ist sie doch mehr durch die Fürsorge Gottes als durch eigenen Entschluß zurückgehalten worden. Denn hätte sie etwas von diesem so unglaublichen Erlebnis verlauten lassen, müßte nicht Joseph geglaubt haben, man treibe seinen Spott mit ihm? Würde nicht jedermann darüber gelacht haben? Wäre aber die Botschaft des Engels schon alsbald nach dem Erlebnis ergangen, so hätte sie ein gut Teil ihres Eindrucks eingebüßt. Daher ließ der Herr es zu, daß sein Knecht aus Unkenntnis zu einem verkehrten Urteil gelangte, um ihn selbst durch sein Wort auf den rechten Weg zurückzuführen. Aber nicht nur seinetwegen, sondern fast mehr noch um unsertwillen ist solches geschehen: auf alle Weise wollte Gott verhindern, daß sich irgendein böser Verdacht an die Joseph gewordene Offenbarung setzte. Wenn der Engel zu Joseph kommt, bevor dieser etwas von der ganzen Sache weiß, dann fällt jeder Grund fort für die häßliche Unterstellung, er sei nicht mehr unbefangen gewesen, als Gott zu ihm redete. Er ist nicht bestrickt worden durch Schmeicheleien der Gattin, kein Drängen und Beschwören hat ihn bestimmt, von seiner ersten Meinung abzulassen, keinerlei sonstige Erwägungen haben ihn zu einer anderen Absicht gebracht, sondern während noch der falsche Verdacht gegen seine Gattin an ihm haftete, hat sich Gott ins Mittel gelegt, damit Joseph für uns ein um so glaubwürdigerer Zeuge wäre, nämlich ein sozusagen vom Himmel her zu uns gesandter Zeuge. Wir sehen also, daß Gott durch den Engel seinen Knecht Joseph lehren wollte, damit er ein Herold himmlischer Dinge würde, nicht aber ein Erzähler dessen, was ihm Maria oder andere Menschen mitgeteilt hätten. Wenn man fragt, warum nicht mehreren dies Geheimnis kundgeworden ist, so ist es wohl deshalb geschehen, weil solch ein unvergleichlicher Schatz verborgen gehalten und nur Gottes Kindern offenbart werden sollte. Ferner liegt nichts Fremdes darin, daß der Herr hier wie so manchmal den Glaubensgehorsam der Seinen zu prüfen gedachte. Nur Böswillige und Widerspenstige werden nicht zufrieden sein mit den Zeugnissen, die uns über dies Stück unseres Glaubens reichlich Gewißheit geben. Aus ebendemselben Grund hat der Herr gewollt, daß Maria heiratete, damit die heilige Empfängnis der Jungfrau unter dem Schleier des Ehebundes verborgen bliebe, bis die rechte Zeit kommen würde, öffentlich davon zu reden.
V. 20.“ Indem er aber also gedachte...“: Hier sehen, wir, wie der Herr zur rechten Zeit und Stunde bei den Seinen ist, und lernen zugleich, daß er über uns wacht, auch wenn er unserer Sorgen und Ängste nicht zu achten scheint. Er hält sich zurück und wartet stille, bis er nach Bewährung unserer Geduld uns hilft zu der von ihm bestimmten Zeit. Obwohl wir seine Hilfe zuweilen für langsam und zögernd halten, ist der Aufschub doch heilsam. Es wird berichtet, daß der Engel Joseph im Traum erschien; wir haben es hier mit einer der beiden Offenbarungsweisen zu tun, die Num. 12,6.7 erwähnt werden, wo Gott spricht: „Ist jemand unter euch ein Prophet des Herrn, dem will ich mich kundmachen in einem Gesicht oder will mit ihm reden in einem Traum; aber nicht also mein Knecht Mose, mündlich rede ich mit ihm.“ Träume dieser Art dürfen wir nicht mit den gewöhnlichen, natürlichen Träumen verwechseln; sie tragen das Kennzeichen der Gewißheit in sich und werden von Gott besiegelt und befestigt, damit ja kein Zweifel an ihrer Wahrheit aufkomme. Die gewöhnlichen Träume pflegen sich aus den Gedanken zu ergeben, die uns tagsüber bewegten, aus der natürlichen Verfassung, aus leiblichem Unwohlsein und ähnlichen Ursachen. Die Träume aber, die Gott uns sendet, sind immer von dem Zeugnis des Heiligen Geistes begleitet, der uns versichert, daß Gott es ist, der mit uns redet.
„Sohn Davids, fürchte dich nicht.“ Diese Ermunterung des Engels beweist, daß Joseph fürchtete, er möchte sich durch Stilleschweigen zu dem Ehebruch seiner Gattin ihrer Sünde teilhaftig machen. Der Engel nimmt ihm daher die vorgefaßte Meinung, damit er ruhigen Gewissens mit seiner Frau zusammenlebe. Die Anrede als Sohn Davids ist diesem Zweck ganz angemessen. Sie soll seine Gedanken auf jenes hohe Geheimnis hinlenken, daß aus der Familie, der er mit wenigen anderen angehörte, das der Welt verheißene Heil kommen werde. Als daher Joseph den Namen Davids hörte, seines Stammvaters, mußte er der herrlichen Bundesverheißung von der Erneuerung des Reiches gedenken, um nichts Unerhörtes und Seltsames in dem zu finden, was ihm gesagt wurde. Durch dieses eine Wort stellt der Engel Joseph alle Weissagungen der Propheten vor Augen und macht damit sein Herz für die gegenwärtig angebotene Gnade empfänglich.
V. 21. „Des Namen sollst du Jesus heißen.“ Ober die Bedeutung des Namens ist schon im Vorigen das Nötige gesagt worden. Der Engel gibt den Grund an, weshalb der Sohn Gottes so genannt werden soll: „Er wird sein Volk retten.“ So empfing Gottes Sohn, als er im Fleisch zu uns kam, zugleich vom Vater einen Namen, aus dem deutlich wird, zu welchem Zweck er gekommen ist, worin seine Kraft besteht und was wir allein von ihm zu erhoffen haben. Die Wurzel nämlich des Namens Jesus stammt von dem hebräischen Wort für retten. Auf hebräisch wird der Name anders ausgesprochen: Josua. Aber die Evangelisten schrieben griechisch und folgten der damals geläufigen Aussprache. Die griechischen Übersetzer lasen in Mose wie in den anderen Büchern Josua als Jesus. Der Engel sagt noch genauer: er wird sein Volk retten „von ihren Sünden.“ Das bedeutet erstens, daß die in sich verloren sind, die zu retten Christus gesandt wird; denn er wird ausdrücklich Retter der Gemeinde genannt. Wenn aber auch die in Tod und Elend versunken sind, mit denen Gott den Bund geschlossen hat, bis Christus ihnen das Leben wiedergibt, was gilt dann erst von den Draußenstehenden, denen niemals eine Lebenshoffnung erschienen ist? Daß in Christus das Heil ist, bedeutet also, daß das ganze menschliche Geschlecht dem Untergang verfallen ist. Zugleich müssen wir auf die Ursache dieses Untergangs achten. Denn der himmlische Richter verurteilt uns nicht willkürlich und ohne Grund. Der Engel bezeugt, wir seien verloren und lägen in der Verdammnis, weil wir durch unsere Sünden von dem Leben geschieden sind. Daraus erkennen wir die Verdorbenheit und Verkehrtheit unserer Natur; schuldlose und zu rechtem Wandel tüchtige Leute brauchten ja keinen Erlöser. Aber wir alle ohne Ausnahme bedürfen seiner Gnade. Folglich sind wir Knechte der Sünde und ermangeln der wahren Gerechtigkeit.
Hier lernen wir ferner, inwiefern Christus rettet, nämlich weil er uns von den Sünden erlöst. Diese Erlösung besteht in zwei Stücken. Vermöge der vollendeten Sühne bringt er uns die Vergebung aus Gnaden, die uns von dem Urteil des Todes befreit und mit Gott versöhnt; indem er uns zweitens durch seinen Geist heiligt, erlöst er uns von der Herrschaft Satans, damit wir der Gerechtigkeit leben. Deshalb wird der Retter Christus nicht eher wirklich erkannt, als bis wir lernen, im Glauben die Vergebung der Sünden aus Gnaden zu ergreifen, in der Gewißheit, daß wir vor Gott gerecht sind, weil wir los sind von der Schuld; dann aber sollen wir ihn bitten um den Geist der Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit, da wir auf unsere Werke und unsere Kraft kein Vertrauen setzen können. Der Engel nennt die Juden das Volk Christi, weil er ihnen zum Haupt und König verordnet war; weil jedoch in der Folgezeit die Heiden dem Geschlecht Abrahams eingepflanzt werden sollten, erstreckt sich diese Heilsverheißung ohne Unterschied auf alle, die durch den Glauben zu dem einen Leib der Gemeinde hinzugetan werden.
V. 22. „Das ist aber alles geschehen...“: Die hier aus dem Propheten Jesaja (7, 14) angeführte Weissagung ist den Lesern bekannt. Aber die Juden haben sie verdreht und darin ebenso blinden, albernen wie ungerechten Haß gegen Christus und die Wahrheit bezeugt. Viele ihrer Rabbinen nämlich bezogen die Weissagung auf den König Hiskia, der doch schon etwa 15 Jahre vorher geboren worden war. Was ist das für eine Gier zu lügen, in Verdrehung der Natur einen jungen Mann wieder in seiner Mutter Leib hineinzudenken, daß er mit 16 Jahren geboren werde, und dies alles nur, um das helle Licht zu verdunkeln! Aber das sind wahrlich würdige Feinde Christi, die Gott mit dem Geist der Verdrehung und Verstockung betört hat. Andere stellen sich unter dem Immanuel irgendeinen unbekannten Sohn des Ahas vor, der noch geboren werden soll. Aber ich frage, mit welchem Recht wäre er Immanuel und Weltenherrscher genannt worden, da er doch gewöhnlich und ohne Ehren sein Leben beendete? Denn wenig später verheißt Jesaja ebenjenem Knaben, wer auch immer er sein wird, die Weltherrschaft. Die Auslegung auf einen Prophetensohn ist nicht weniger lächerlich, denn im folgenden Kapitel bekommt der erwartete Prophetensohn von Gott den Namen Raube-Bald Eile-Beute. Der Name bezeugt nur Kriegswüten und schreckliche Verwüstung. Fragen wir also nach dem ursprünglichen Sinn dieser Verheißung.
Als bei der Belagerung Jerusalems König Ahas zitterte und vor Furcht keinen Rat mehr wußte, wurde der Prophet zu ihm gesandt mit der Verheißung, Gott werde die Stadt behüten. Da die bloße Verheißung sein fassungsloses Herz nicht beruhigte, muß ihm der Prophet anbieten, irgendein Zeichen vom Himmel oder von der Erde zu fordern. Aber Ahas verbarg heuchlerisch seinen Unglauben und wies das angebotene Zeichen zurück. Darum dringt der Prophet noch stärker auf ihn ein und fügt endlich hinzu: Dann wird euch der Herr selbst ein Zeichen geben: Siehe, eine Jungfrau wird schwanger werden und einen Sohn gebären. Dieses von dem Messias Gesagte erklären wir folgendermaßen: Du, Haus Davids, suchst nach Kräften die dir verheißene Gnade unwirksam zu machen; niemals aber wird eure Untreue die Treue und Wahrheit Gottes aufheben. Gott will die Stadt vor dem Feinde retten und ist sogar bereit, wenn euch sein Wort nicht genügt, euch irgendein Pfand seiner Treue zu geben, welches ihr wünscht. Ihr weist sowohl sein Wort wie sein Zeichen ab, nun wohl: Gott wird dennoch bei seinem Bund beharren. Denn kommen wird der verheißene Erlöser, in dessen Person Gott dem Volk seine Gegenwart und Gnade beweisen wird.
Die Juden entgegnen, Jesaja hätte wohl töricht und unvernünftig gehandelt, hätte er den Menschen jener Zeit ein Zeichen gegeben, das doch erst rund achthundert Jahre später offenbart worden wäre. Und auf diesen Einwand sind sie noch besonders stolz, weil er von christlicher Seite aus Unerfahrenheit oder Gleichgültigkeit übergangen und verdeckt worden ist. Aber seine Widerlegung erscheint mir nicht schwer, wenn wir beachten, daß die Juden den Bund der Kindschaft empfangen hatten, an dem alle anderen guten Gaben Gottes hängen. Es gab die allgemeingültige Verheißung, daß Gott sich die Söhne Abrahams zum Volk erwählt hatte. In dieser Verheißung gründeten alle einzelnen Verheißungen. Die Grundlage dieses Bundes wiederum war der Messias. Wir halten fest: Die Stadt (Jerusalem) sollte befreit werden, weil sie Gottes Heiligtum war, aus dem der Erlöser kommen sollte. Sonst wäre Jerusalem wohl hundertmal vergangen. Nun prüfe der fromme Leser einmal: nachdem das Königshaus offen das angebotene Zeichen zurückgewiesen hatte, ging da der Prophet nicht besser ganz zum Messias über, etwa mit den Worten: Obwohl diese Zeit des Heils, das ich ihr von Gott verheiße, nicht würdig ist, wird Gott dennoch im Gedenken an seinen Bund diese Stadt vor den Feinden erretten. Selbst wenn Gott jetzt kein besonderes Zeichen seiner Gnade gibt, muß doch das eine genug und übergenug sein, daß aus der Wurzel Davids der Messias kommen wird. Wir müssen also beachten: Daß der Prophet die Ungläubigen zum Bund ganz allgemein zurückruft, ist eine Art Tadel dafür, daß sie kein besonderes Zeichen zuließen.
Aber mir scheint nun genügend bewiesen, daß der Prophet, als allen Zeichen die Tür verschlossen war, rechtzeitig zu Christus überging. Die Ungläubigen sollten dabei bedenken, daß kein anderer Grund für ihre Befreiung bestand außer dem mit den Vätern eingegangenen Bund. Und das wollte Gott allen Zeiten an jenem denkwürdigen Beispiel bezeugen, daß er deswegen beständig und dauernd gnädig gewesen sei gegen Abrahams Söhne, weil er mit ihnen den Bund in Christus eingegangen war, nicht wegen ihrer Verdienste.
Aber die Juden wollen diese Auslegung noch mit einem anderen Winkelzug erledigen. Sie weisen darauf hin, daß der Prophet fortfährt: „denn ehe der Knabe lernt Böses verwerfen und Gutes erwählen, wird das Land verödet sein, vor dessen beiden Königen dir graut“ (Jes. 7,16). Daraus schließen sie, hier werde die Geburt eines Kindes verheißen, die nicht mehr lange ausstehen kann. Sonst würde ja nicht passen, was der Prophet von dem Geschick der beiden Könige voraussagt, bevor jener Knabe auch nur die halbe Kindheit hinter sich hätte. Ich entgegnete: Wo Jesaja ein Zeichen vom künftigen Heilbringer vortrug und auf ein Kind wies, das noch geboren werden und der wahre Immanuel oder mit den Worten des Paulus: „Gott geoffenbart im Fleisch" (1. Tim. 3,16) sein sollte, sprach er zugleich von irgendwelchen Kindern jener Zeit. Nachdem er auf den Bund allgemein hingewiesen hatte, kommt er wieder auf die besondere Verheißung, derentwegen er gesandt worden war. So weist der erste Satz auf die letzte und völlige Erfüllung in einem bestimmten Knaben, dem allein der Titel Gott zukommt. Der zweite Satz aber bezieht sich auf die besondere Wohltat, die nahe bevorstand, und er bestimmt die Zeit nach der Kindheit derer, die gerade neugeboren waren oder bald darauf geboren werden würden. - Bis hierher habe ich mit festen und beständigen Gründen die Verleumdungen der Juden widerlegt, mit denen sie die Ehre Christi zu verdrehen suchen, damit sie nicht in jener Verheißung aufleuchte.
Bleibt nur noch einer ihrer Einwände zu widerlegen. Frech werfen sie Matthäus vor, nach seinem Bericht gebäre eine Jungfrau den Christus, während das hebräische Wort bei Jesaja einfach eine junge Frau meine. Und uns verhöhnen sie, wir ließen uns durch einen Übersetzungsfehler täuschen und glaubten an eine Zeugung durch den Heiligen Geist, während doch der Prophet nur vom Sohn einer jungen Frau spreche. Aber sie verraten Streitsucht, wenn sie das hebräische Wort einschränken wollen auf die verheiratete junge Frau, während die Schrift es durchweg für Jungfrauen gebraucht. Aber ich gestehe ihnen zu, daß ihre Obersetzung dem Buchstaben nach durchaus richtig ist: die Sache freilich tut unumstößlich dar und zwingt zu der Erkenntnis, daß der Prophet hier von wunderbarer, ungewöhnlicher Geburt berichtet. Er bringt ein Zeichen vom Herrn, nicht etwas Gewöhnliches, sondern etwas alles Oberragendes. Hätte er nur von einer gebärenden Ehefrau geredet, wäre jene großartige Einleitung doch lächerlich! Die Juden setzen mit solchen Argumenten nicht nur sich, sondern auch Gottes erhabene Geheimnisse dem Spott aus. Der Zusammenhang der Verheißung liefert noch ein weiteres beachtliches Argument: eine junge Frau ist schwanger, heißt es da. Warum wird kein Mann erwähnt? Der Prophet nennt noch etwas Ungewöhnliches. Später nämlich gibt er der jungen Frau auch noch das Amt, dem Knaben den Namen zu geben. Damit tut der Prophet etwas Außerordentliches. Denn wenn auch die Schrift häufiger berichtet, daß Mütter den Knaben die Namen gaben, so taten sie es doch immer aus der Vollmacht der Väter. Indem der Prophet also die Rede auf die junge Frau bringt, nimmt er den Männern im Blick auf diesen Knaben das Recht, das sie von Natur sonst besitzen.
So bleibt also fest bestehen, daß hier ein großes Wunder Gottes von dem Propheten gepriesen wird, das alle Gläubigen aufmerksam und ehrfürchtig bedenken sollen. Die Juden entweihen das unwürdig, indem sie von gewöhnlicher Schwangerschaft sprechen. In Wirklichkeit aber ist sie von der verborgenen Kraft des Geistes gewirkt.
V. 23. „Sie werden seinen Namen Immanuel heißen.“ Wenn die Schrift uns versichert, Gott sei uns mit seiner Hilfe und Gnade nahe und strecke seine starke Hand zu unserem Schutz aus, braucht sie häufig den Ausdruck: Gott ist mit uns. Hier aber soll die Art und Weise erklärt werden, wie Gott mit den Menschen verkehrt; denn ohne Christus haben wir keine Gemeinschaft mit Gott; durch Christus haben wir jedoch nicht nur Anteil an seiner Gnade, sondern werden auch mit ihm vereinigt. Was aber Paulus Hebr. 2, 17 lehrt, daß die Juden unter dem Gesetz Gott nahe waren, während die Heiden in bitterer Feindschaft fernstanden, bedeutet nichts anderes, als daß Gott damals dem von ihm angenommenen Volk in Schatten und Vorbildern Zeichen seiner Gegenwart gegeben hatte. Denn die Verheißung galt und war in Kraft (Deut. 7,21): „Der Herr, dein Gott, ist mitten unter dir!“ oder (Psalm 132,14): „Hier ist meine Ruhe ewiglich!“ Indessen, da jene enge Gemeinschaft mit Gott von dem Mittler abhing, wurde das, was von der Verheißung noch nicht tatsächlich erfüllt war, in Gleichnissen vorgebildet. Er war gegenwärtig als der zwischen den Cherubim Wohnende, da ja die Bundeslade das Bild und sichtbare Unterpfand seiner Herrlichkeit war. In Christus jedoch wurde Gott dem Volk wahrhaftig gegenwärtig, und der Dienst der Vorbilder und Schatten war zu Ende. Deshalb sagt Paulus (Kol. 2,9), in ihm wohne die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig. Sonst würde er ja kein rechter Mittler sein und die Menschen nicht mit Gott vereinigen können, wären nicht göttliche und menschliche Natur in ihm durch ein unauflösliches Band verbunden. Erst mit Christi Kommen im Fleisch gewann der Name Immanuel seine volle Bedeutung. Daraus folgt, daß die Gemeinschaft Gottes mit den Vätern noch nicht die vollkommene Gemeinschaft war, und ebenso, daß Christus der im Fleisch geoffenbarte Gott ist. Wohl hat er des Mittleramtes gewaltet von der Schöpfung an, aber doch nur auf Grund und im Zusammenhang mit der verheißenen vollen Offenbarung in der Fülle der Zeit. Deshalb empfing er den Namen Immanuel mit Recht erst damals, als er als Hoherpriester ins Mittel trat, um mit dem Opfer seines Leibes für die Sünde der Menschen genugzutun, sie um den Preis seines Blutes mit dem Vater zu versöhnen und alles, was zum Heil der Menschen gehört, zu vollenden. Somit müssen wir bei diesem Namen zuallererst an die göttliche Majestät Christi denken, damit wir ihm dieselbe Ehrerbietung erweisen, die dem einigen und ewigen Gott gebührt. Zugleich aber dürfen wir nicht vorübergehen an dem Segen, den uns die Betrachtung des Namens Immanuel nach Gottes Willen bringen soll. Denn sooft wir Christus anschauen, wie in seiner Person Gottheit und Menschheit vereinigt sind, dürfen wir dessen gewiß sein, daß Gott uns gehört, wenn wir durch den Glauben mit Christus verbunden sind. Daß der Evangelist schreibt: „sie“ werden heißen, während Jesaja die Einzahl gebraucht: „sie, die Jungfrau, wird ihn heißen Immanuel“, streitet nicht gegen das oben Ausgeführte. Der Prophet redet zunächst nur von der Jungfrau und braucht daher die Einzahl: sie wird nennen. Seitdem aber Gott diesen Namen öffentlich bekanntgemacht hat, ist es das gemeinsame Bekenntnis aller Gläubigen, daß Gott sich uns mitgeteilt und zu eigen gegeben hat in Christus.
V. 24. „Da nun Joseph erwachte.“ Die pünktliche Bereitwilligkeit Josephs, die uns hier beschrieben wird, ist ein ehrendes Zeugnis für seinen festen Glauben wie für seinen Gehorsam. Denn wären nicht jedes Bedenken und alle Unruhe seines Gewissens geschwunden gewesen, würde er niemals so willig seine Absicht mit einemmal geändert und die Gattin angenommen haben, nachdem er eben noch gemeint hatte, sich durch Zusammenleben mit ihr zu versündigen. Sein Traum muß also das Siegel göttlicher Gewißheit in sich getragen haben, so daß sein Herz nicht mehr schwanken konnte. Die Wirkung des Glaubens blieb denn auch nicht aus. Nachdem er den Willen Gottes erkannt hatte, war er sofort zum Gehorsam bereit.
V. 25. „Er erkannte sie nicht.“ Die Frage, ob Maria nach ihrem Erstgeborenen noch andere Kinder gehabt habe, läßt sich aus den Worten des Evangelisten nicht entscheiden. Matthäus sagt nur, daß Jesus der Erstgeborene war, damit wir wüßten, daß seine Mutter eine Jungfrau war und vorher noch nicht geboren hatte. Ferner wird berichtet, daß Joseph sie vor der Geburt des ersten Sohnes nicht erkannte; aber auch dies bezieht sich nur auf jene Zeit. Weiter lesen wir in der Schrift nichts. Nur Neugierige und Streitsüchtige werden wegen dieser Frage Streit anfangen und hartnäckig auf ihren Meinungen beharren.
Aus: Calvin, Auslegung der Heiligen Schrift, Die Evangelienharmonie 1. Teil, Neunkirchener Verlag 1966, S. 58ff.
Achim Detmers