Wichtige Marksteine
Reformierte im Spiegel der Zeit
Geschichte des Reformierten Bunds
Geschichte der Gemeinden
Geschichte der Regionen
Geschichte der Kirchen
Biografien A bis Z
(1528–1572)
Jeanne d´Albret (1528–1572) war die bedeutendste Frau in der Geschichte der Hugenotten im 16. Jahrhundert. Besonders in ihrem Witwenstand, in den letzten zehn Jahren ihres Lebens, baute sie eine reformierte Kirche in Béarn auf und war das politische Oberhaupt der Hugenotten im dritten Religionskrieg (1568–1570). Nach 1570 versuchte sie, die Reformierten zu schützen und ihnen einen gesicherten Platz in der Gesellschaft zu verschaffen. Sie handelte für die Hugenotten den Friedensschluss von St. Germain 1570 aus, und durch die Heirat ihres Sohnes Heinrich (später Heinrich IV. von Frankreich) mit Margarete von Valois, Schwester des Königs Karl IX. von Frankreich, strebte sie eine enge Verbindung von Hugenotten und Katholiken an.
Keine andere Frau hatte eine solche Machtposition unter den Hugenotten in Frankreich inne. Sie war respektiert und gefürchtet in Rom und Madrid, alliiert mit Elizabeth von England und befreundet mit Katharina von Medici – keine unkomplizierte Freundschaft zwischen zwei starke Frauen.
Sie sorgte dafür, dass ihre Kinder – Heinrich und Katharina – im reformierten Glauben erzogen wurden. Jahrelang kämpfte Heinrich als Anführer der Hugenotten und von einer Machtbasis in Südfrankreich aus um die französische Krone, bis er 1589 König von Frankreich wurde und schließlich 1593 zum katholischen Glauben übertrat, um das Land zu befrieden.
Jeanne d´Albret war nicht nur Mutter ihres berühmten Sohnes, sie war auch selbst eine machtvolle Frau in Frankreich, da ihre Position als Anführerin der Hugenotten ihr einen Einfluss weit über die Grenzen ihres kleinen Königreiches zusicherte.
Jugend und Ehe (1528-1555)
Jeanne d´Albret wurde am 7. November 1528 auf dem Schloss Blois von Margarete und Heinrich II. von Navarra geboren. Ihre Mutter wusste angeblich, dass sie eine Tochter gebären würde, ihr sehnlichster Wunsch war freilich nach einem Sohn. Jeanne blieb das einzige Kind aus dieser Ehe, Margarete von Navarra gebar zwar kurz danach einen Sohn, der als Kleinkind starb, und alle übrigen Hoffnungen auf Schwangerschaften zerschlugen sich.
Die kleine Prinzessin konnte von ihrem Vater das Königreich Navarra erben, weil dort das salische Gesetz, das in Frankreich weibliche Thronerben verbot, nicht gültig war. Außerdem war das vicomté Béarn selbständig. Deswegen waren die zwei Großmächte Spanien und Frankreich zutiefst an diesen Grenzregionen interessiert. Frankreich wollte seine Südgrenze verteidigen, und Spanien beide Seiten der Pyrenäen besitzen, um in Frankreich einfallen zu können. Zudem war die väterliche Familie von Albret Großgrundbesitzer in Südwestfrankreich und damit Vasall des französischen Königs. Das frühere Aquitanien hatte mehrere hundert Jahre der englischen Krone gehört und war spät von England aufgegeben worden. Im 16. Jahrhundert wurde das Gebiet meistens als Guyenne bezeichnet.
In ihren jungen Jahren wuchs Jeanne in der Normandie auf. Ihre Mutter, Margarete von Navarra, hatte die Aufgabe, die königlichen Kinder ihres Bruders, Franz I., zu erziehen. Sie gab Jeanne in die Obhut ihrer Freundin Aymée de Lafayette, Vogtin von Caen. Man behauptet, sie sei die Vorlage für die Figur Longarine in Heptameron (vgl. Nielsen). Nach meiner Auffassung sind die Erzähler/innen im Heptameron, die sogenannten devisants, eher Typen als historische Persönlichkeiten, die Figur der Longarine ist allerdings eine sehr sympathische Frau mit Humor und Pfiff. Wenn Aymée de Lafayette die Vorlage zu Longarine abgegeben haben soll, deutet alles darauf hin, dass Margarete sie sehr schätzte und meinte, ihre Tochter sei bei ihr gut aufgehoben.
Jeanne wuchs in einem landadligen Milieu auf, umgeben von Wald, Wiesen und Tieren, mit den Mitgliedern der Familie von Aymée de Lafayette als Bezugspersonen, bis sie zehn Jahre alt war. Ihre Mutter sah sie selten, aber jedes Mal, wenn sie krank war, war Margarete sofort zur Stelle. 1538 ließ Franz I. sie nach Plessis-lez-Tours bei der Loire übersiedeln, da sie jetzt ein Alter erreicht hatte, wo sie auf dem Heiratsmarkt von Interesse war. Der König konnte über seine Verwandte entscheiden und Ehen arrangieren, wie es ihm passte.
1540 war es für Jeanne so weit. Herzog Wilhelm der Reiche von Kleve-Jülich-Berg hatte 1538 das Herzogtum Geldern geerbt. Sein Erbanspruch wurde von Kaiser Karl V. angefochten und auf dem Reichstag zu Regensburg wurde dem Kaiser Geldern zugeteilt. 1539 folgte Wilhelm seinem Vater auf dem Thron nach, und um sich vor den Ansprüchen des Kaisers zu schützen, arrangierte er eine Ehe mit Heinrich VIII. von England für seine Schwester Anna, und selbst verbündete er sich mit Franz I. Als Unterpfand für dieses Bündnis sollte er Jeanne d´Albret heiraten.
Was jetzt passierte, ist absolut ungewöhnlich: Jeanne weigerte sich. Die Zwölfjährige ließ ihrem Onkel wissen, dass sie den Herzog nicht heiraten möchte, und sie ließ zwei Schreiben aufsetzen, in welchen sie erklärte, dass sie gegen ihren Willen zu dieser Ehe gezwungen worden sei. Natürlich konnte sie sich nicht auf Dauer gegen den Willen des Königs auflehnen, aber bei der Hochzeitszeremonie am 14. Juni 1541 weigerte sie sich, zum Altar zu schreiten, stattdessen musste sie getragen werden. Ihr Jawort war nicht hörbar und wegen ihres Alters wurde die Ehe nicht vollzogen, der Herzog setzte nur symbolisch ein Bein in ihr Bett. Nach der Hochzeit kehrte er zurück nach Düsseldorf, während Jeanne vorläufig in Frankreich blieb.
1543 griff Kaiser Karl Kleve-Jülich-Berg an, der Herzog wurde geschlagen und musste Geldern Karl V. überlassen. Am Frieden von Venlo im September 1543 hob er das Bündnis mit Franz I. auf und verbündete sich stattdessen mit dem Kaiser. Damit war auch die französische Ehe hinfällig geworden, 1545 wurde sie vom Papst wegen Nichtvollzug annulliert, und der Herzog vermählte sich mit einer Nichte des Kaisers.
Nach kanonischem Recht durfte bei einer Eheschließung keine Zwang im Spiel sei. Die Eheleute mussten ihr Gelübde frei abgeben. Damals konnten junge Frauen aus adligen oder königlichen Familien sich ihre Ehepartner nicht selbst aussuchen, sondern wurden als politische Garanten vermählt, und die meisten fanden sich damit ab, weil das ihr Standesbild entsprach. Jeannes Ablehnung, so wie ihre Kenntnis des kanonischen Rechts, ist erklärungsbedürftig.
Eine mögliche Erklärung ist, dass ihre Eltern für sie eine Ehe mit dem Kronprinzen Philipp von Spanien anstrebten. Königin von Spanien war natürlich prestigeträchtiger als Herzogin von Kleve zu sein, aber vor allem erhoffte sich ihr Vater damit den spanischen Teil von Navarra zurückzugewinnen. 1512 hatten die Spanier Navarra, das Baskenland, bis zu den Pyrenäen erobert und den Albrets nur das winzige Gebiet auf der französischen Seite gelassen. Seitdem überlegten sich die Könige von Navarra, wie sie zu ihrem ganzen Erbe kommen konnten, und eine Ehe zwischen dem Infanten von Spanien und der zukünftigen Königin von Navarra würde genau dies herbeiführen.
Jeanne war möglicherweise auch beeinflusst von einer Erklärung der Ständeversammlung von Béarn, die eine auswärtige Ehe für ihre Kronprinzessin ablehnte.
Sah Jeanne d´Albret ihre Zukunft gefährdet durch eine Ehe mit dem Herzog von Kleve? Oder tat sie, was ihre Eltern wünschten, statt des Königs Willen zu erfüllen? Stammten ihre Kenntnisse des kanonischen Rechts von denen? Margareta von Navarra schrieb ihrem Bruder, sie habe keine Ahnung, was in das Mädchen gefahren sei, aber stimmt das? Hat sie Jeanne mit ihrer Ablehnung der Ehe geholfen aus Liebe (Cholakian & Cholakian), oder aus Ehrgeiz? Es besteht kein Zweifel, dass königliche Kinder damals frühreif waren und in jungen Jahren schon an ihre späteren Aufgaben geführt wurden, trotzdem ist die Zähigkeit und Sturheit des Mädchens erstaunlich.
1547 starb Franz I. und als Jeanne zwanzig Jahre alt war, bot der Nachfolger, Heinrich II. von Frankreich, ihr gleich zwei Heiratskandidaten an: den Herzog Franz von Aumale (der spätere erzkatholische Herzog Franz von Guise) und Anton von Bourbon, Herzog von Vendôme. Der letztere war Erbprinz und vielleicht deshalb für Jeanne die bessere Partie, obwohl er relativ arm war. Er war hochgewachsen – was für einen Bourbon eher selten war – und charmant, wie alle Männer in seiner Familie scheint er ein unverbesserlicher Schürzenjäger gewesen zu sein. Heinrich IV. von Frankreich, der vert galant, hatte seine ausgelebte Sexualität nicht von Fremden, ebenso wenig wie sein militärisches Können und seinen Mut.
Jeanne und Anton von Bourbon heirateten 1548 und sie war überglücklich. Heinrich II. schrieb in einem Brief, dass er selten eine Braut erlebt habe, die immer nur lachte. Diese Ehe war aus Liebe geschlossen, und Anton von Bourbon nahm seine Frau mit, als er in den Krieg zog. Der Kriegsschauplatz war Flandern, und da der Herzog Güter in Nordfrankreich besaß, zog Jeanne in den ersten Jahren ihrer Ehe von Schloss zu Schloss, immer in der Hoffnung, dass sie und Anton von Bourbon sich treffen könnten.
1551 gebar sie ihren ersten Sohn und gab ihn an Aymée de Lafayette, die sie selbst erzogen hatte. Ob nun Frau de Lafayette alt oder übervorsichtig geworden war, der kleine Herzog von Beaumont starb als Kleinkind, angeblich weil er von Wärme erstickt worden sei.
Bald wurde Jeanne wieder schwanger, und während ihr ältester Sohn in Nordfrankreich geboren war, sollte das zweite Kind in Béarn zu Welt kommen. Sie unternahm die lange Reise nach Süden und kam gerade rechtzeitig in Pau an, 14 Tage bevor sie von ihrem zweiten Sohn, Heinrich, auf dem Schloss in Pau entbunden wurde. Es wurde entschieden, dass dieser Junge in Pau bleiben sollte. Der Großvater, Heinrich d´Albret, wollte wahrscheinlich mit diesem kleinen Prinzen die Erbfolge in Béarn und Navarra sichern. Die Legenden von der rauen Erziehung Heinrichs seitens des Großvaters können jedoch nicht wahr sein, allein weil das Kind die ersten Jahre von Ammen betreut wurde, und der Großvater starb, als es zwei Jahre alt war. Es scheint in Béarn Sitte gewesen zu sein, die Lippen des Täuflings mit Rotwein und Knoblauch einzureiben, eine Taufe à la Gascogne, aber die Mär, dass Heinrich barfuß unter den Hirten in den Bergen aufgewachsen sein soll, ist reine Legende. Der spätere Hauslehrer Heinrichs, Palma Cayet, schrieb, als Heinrich schon König von Frankreich war, seine Biographie, und daher stammt der Bericht vom Opa und von seiner rauen Erziehung. Dieser Kindheitsbericht ist eher Propaganda des Königs, wie er gerne gesehen werden möchte.
Tatsächlich kam Heinrich in die Obhut der Familie de Miossens, die auf dem Schloss Coarraze wohnte. Die Frau, Suzanne de Bourbon-Miossens, war eine Cousine von Jeanne. Heinrich wurde demnach genau wie seine Mutter als Landadliger erzogen, und er wuchs in einer Familie mit anderen Söhnen auf, die als Erwachsene seine Gefolgsleute werden sollten. Als seine Mutter den Thron erbte, wurde er schon als Kleinkind als Kronprinz behandelt.
Die zwei Jahre zwischen Heinrichs Geburt 1553 und ihre Thronbesteigung 1555 verbrachte Jeanne wiederum in Nordfrankreich in der Nähe ihres Gatten. In dieser Zeit gebar sie einen dritten Jungen, der jedoch nicht lange lebte. Es muss hinzugefügt werden, dass Anton von Bourbon 1554 einen außerehelichen Sohn, Karl von Bourbon, mit einer Hofdame bekam. Jeanne hatte bereits mehrere Onkel, die illegitim waren, und sie scheint den kleinen Karl in ihrer Familie aufgenommen zu haben. Er wurde später Erzbischof von Rouen.
Erst als der Vater gestorben war, zog sie als Königin nach Pau und obwohl sie die Erbin war, ließ sich ihr Mann als König huldigen, was die Ständeversammlung eigentlich gar nicht wollte, dennoch ordneten sie sich dem Willen Jeannes unter.
Königin an der Seite von Anton von Bourbon (1555–1560)
Ihr Vater hatte Jeanne ein blühendes Land hinterlassen. Er hatte Industrien nach Béarn geholt, das Steuersystem effektiv gestaltet und für den religiösen Frieden gesorgt. Große Einkünfte entstanden auch durch seine Posten als Gouverneur und Admiral der französischen Krone in Guyenne. Anton von Bourbon bekam diese Posten nach seinem verstorbenen Schwiegervater, und später hat sein Sohn, Heinrich von Navarra, sie übernommen. Jeanne und Antoine standen als die größten Grundbesitzer Südwestfrankreichs finanziell sehr gut da.
1555 find Calvin seine missionarische Tätigkeit in Frankreich an. Reformierte gab es in Südwestfrankreich zu diesem Zeitpunkt längst, weil Margareta von Navarra sie mit Predigern unterstützt hatte und Gérard Roussel, einen Reformkatholiken, als Bischof in Orthez, eingesetzt hatte. Dieser Roussel war einmal Weggefährte Calvins gewesen, und dieser warf ihm vor, nicht konsequent genug zu sein, als er die Stelle als katholischer Bischof trotz seiner reformatorischen Sympathien annahm (CStA I,1).
Als Königin hatte Jeanne bei ihrer Krönung versprechen müssen, die katholische Religion zu verteidigen. Am selben Tag, nachdem sie diesen feierlichen Eid abgelegt hatte, schrieb sie an einen Vasallen, dem vicomte von Gourdon, und erzählte ihm, sie wolle über die Förderung des reformierten Glaubens im kleinem Kreis heimlich beraten. Dieser Brief ist Teil eines Briefwechsels mit zwei vicomtes de Gourdon, Vater und Sohn, die die gesamte Regierungszeit Jeannes überdauerte. Die Briefsammlung wurde im vorigen Jahrhundert entdeckt und gibt viele neue Einsichten in die Vorhaben und die Beweggründe Jeannes. Da die entdeckten Briefe uns nur als teilweise fehlerhafte Kopien vorliegen, haben viele Forscher die Briefe als Fälschungen abgetan (Text und Diskussion bei Bryson).
Der erste Brief vom August 1555 teilt uns mit, dass Jeanne schon zu diesem Zeitpunkt reformierte Sympathien deutlich aussprach. Sie schrieb dem vicomte, dass ihre Mutter sich zwischen den zwei Religionen nicht habe entscheiden können, und dass sie selbst aus Furcht vor ihrem Vater bislang nicht gewagt habe, sich offen zum Protestantismus zu bekennen. Das Edikt von Chateaubriant von 1551 verbot eindeutig jede „Ketzerei“ und deshalb schlug sie vor, die Reformierten sollten sich heimlich auf dem Schloss Odos treffen.
Es gibt sonst keine Quellen, die belegen könnten, dass Jeanne mit dem reformierten Glauben in Berührung kam. Es gab in ganz Frankreich zu der Zeit kleine zerstreute Gemeinden, sowie Prediger und Kolporteure, die reformatorische Bücher schmuggelten. Die wiederholten Verbote des Königs konnten das nicht unterbinden, sie führten nur dazu, dass Protestanten, wie Jeanne, sich heimlich treffen mussten.
In den Jahren nach 1555 verbreitete sich der reformierte Glaube mehr und mehr im Hochadel. Auch Anton von Bourbon wurde davon ergriffen, brachte reformierte Prediger nach Béarn und als er und Jeanne 1558 mit Heinrich nach Paris zogen, nahm er an großen psalmensingenden Demonstrationen außerhalb der Stadtmauern von Paris teil. Calvin war darüber hoch erfreut, denn er setzte in seiner Missionsarbeit gerne auf hochrangige Persönlichkeiten. Jeanne dagegen verhielt sich während dieser Zeit bedeckt.
In Paris kam sie mit ihrem vierten Kind, einer Tochter namens Katharina, nieder. Das kleine Mädchen war das einzige Kind, das bei Jeanne aufwachsen durfte, obwohl sie (natürlich) Erzieherinnen und Gouvernanten hatte.
Anton von Bourbon fiel nicht nur mit protestantischen Sympathien auf, sondern wie sein Schwiegervater versuchte er, den spanischen Teil von Navarra zurückzugewinnen. Heinrich d´Albret hatte seinen Besitz gut und gewinnbringend regiert, während Anton von Bourbon seiner Frau die Regierungsgeschäfte überließ, und selbst nur versuchte, ein größeres Königsreich für sich zu gewinnen. So konnte der spanische König Philipp ihm einen Tausch, erst mit dem Herzogtum Milano und später mit Sardinien, anbieten. Damit hätte Spanien den Sprung über die Pyrenäen geschafft und Südfrankreich bedrohen können. Wir würden solches Taktieren mit dem Feind Hochverrat nennen, damals räumte man freilich Adligen große Freiheiten ein, sich einen Herren auszusuchen, aber Anton von Bourbon wurde auch von den Zeitgenossen als unzuverlässig und unverantwortlich angesehen, und nicht zuletzt war er so politisch ungeschickt, dass es an Dummheit grenzte (Sutherland 1984).
Im Sommer 1559 starb Heinrich II. von Frankreich unerwartet. Sein Sohn Franz II. folgte ihm als nur fünfzehnjähriger Knabe auf dem Thron. In dieser Situation war die traditionelle Lösung, dass der erste erwachsene Erbprinz, Anton von Bourbon, ihn unterstützen sollte, und Calvin ermahnte ihn eindringlich, dieses Amt zu übernehmen und dabei den Hugenotten zu helfen. Anton von Bourbon verspielte diese Chance und überließ die Regierungsgeschäfte der Familie von Guise, besonders dem Herzog von Guise und dem Kardinal von Lorraine, die beide die antiketzerische Politik des verstorbenen Königs weiterführen wollten. Nach dem Tod Heinrichs II. bekannten sich mehrere hochrangige Adlige offen zum Protestantismus und es gab im März 1560 sogar einen hugenottischen Komplott, den König zu entführen und von seinen „schlechten Ratgebern“ zu trennen. Anton von Bourbon und sein jüngerer Bruder, der Prinz von Condé, beide notorische Reformierte, wurden wegen diesem Angriff auf den König angeklagt. Anton von Bourbon versprach Besserung, während sein Bruder, der Prinz Ludwig von Condé zum Tode verurteilt wurde. Nur der plötzliche Tod des jungen Königs rettete ihn vor der Hinrichtung. Da der neue König, Karl IX., ein zehnjähriges Kind war, brauchte Frankreich einen Regenten, nämlich den ranghöchsten Erbprinz Anton von Bourbon. Wiederum ergriff dieser nicht die Chance. Katharina von Medici ließ sich stattdessen als Regentin einsetzen und Anton von Bourbon wurde zum Generalstatthalter ernannt. Die Hugenotten mit Calvin an der Spitze waren zutiefst enttäuscht. In diesen Jahren hatte der reformierte Glaube großen Zulauf, es wurde von mehreren Tausend Gottesdienstbesuchern überall in Frankreich berichtet, von Abendmahlgottesdiensten, die zwei Tage dauerten und von Bekehrungen am Hof und im Hochadel.
1560 verließ Jeanne Paris, um zurück nach Pau zu fahren. Theodorus Beza, der engste Mitarbeiter Calvins, besuchte sie dort, und es entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit, die bis Jeannes Tod dauerte. Beza versorgte sie mit Predigern und Beratern für ihr Land. Im Dezember 1560 unternahm Jeanne den entscheidenden Schritt und bekehrte sich öffentlich zum reformierten Glauben. Während ihr Gatte nicht in der Lage war, sich an die Spitze der Hugenotten zu setzen, wurde sie jetzt die leitende Hugenottin in Frankreich.
Reformierte Königin (1560–1568)
Jeanne d´Albret war zweifelsohne eine tief religiöse Frau. Lange Zeit hatte sie äußerste Diskretion walten lassen, zwar mit ihrem Gatten reformierte Prediger gehört, aber sich niemals offen zum reformierten Glauben bekannt. Erst nachdem Anton von Bourbon sich mit dem Posten als lieutenant générale abgefunden hatte, kam sie aus der Deckung.
Es war eine Zeit, wo alle große Hoffnungen bzw. Ängste für den Protestantismus in Frankreich hegten. Drei wichtige Katholiken – der Herzog von Guise, der Konstabel von Montmorency und der Marschall St. André – schlossen sich zusammen, um Frankreich gegen die Reformierten zu schützen. Sie planten den Sturz von Anton von Bourbon und einen Angriff auf Genf mit der Hilfe des Herzogs von Savoyen, zu dessen Besitz Genf bis 1534 gehört hatte. Dieses Triumvirat war der erste Vorbote der katholischen Liga, die später Heinrich IV. hartnäckig bekämpfte (Sutherland 1973).
1560 war noch zu erwarten, dass der Protestantismus nach Frankreich gekommen war, um zu bleiben. Jeanne war sich sehr bewusst, welche Gefahren ihr von Spanien, vom Papst und von der mächtigen Familie von Guise drohten. Sie hatte noch die Hoffnung, dass der junge König Karl IX., Katharina von Medici und ihr Kanzler, der tolerante Michel de l´Hôpital, die Reformierten unterstützen würden, zumal die Königinmutter sich selbst von denen von Guise bedrängt fühlte.
Diese letzte Hoffnung erwies sich als trügerisch, aber niemals wich Jeanne später vom einmal eingeschlagenen Kurs ab. Sie konnte weder geldwerte Vorteile noch politisches Kapital aus ihren Glauben schlagen, dafür hielt sie konsequent an ihrer Überzeugung fest.
In Béarn machte sie erste vorsichtige Schritte, um das Land zu reformieren. Es gab schon Reformierte dort, und Prediger hatten angefangen, den neuen Glauben zu verbreiten, Jeanne aber träumte von einem reformierten Land, und fing langsam und vorsichtig an, diesen Traum zu verwirklichen.
Der erste Schritt war, den reformierten Glauben dem Katholizismus rechtlich gleich zu stellen. Die Kirchen wurden für beide Religionen geöffnet (das sogenannte simultaneum) und aus den Kirchen in Lescar und Pau wurden Bilder und Statuen entfernt, allerdings nicht in Form eines Bildersturms, sondern von den Behörden. Jeanne beschlagnahmte das kirchliche Vermögen nicht für sich selbst, sondern investierte es in Sozialfürsorge und Bildung.
Es ist klar, dass sie den reformierten Glauben einführen wollte, aber zu keinem Zeitpunkt vefolgte sie Andersgläubige, geschweige denn verbrannte sie. Immer setzte sie auf Überredung.
Im August 1561 begab sie sich wieder zum Hof. Überall wurde sie stürmisch von Hugenotten begrüßt, als ob sie „der Messias sei“, bemerkte verärgert der spanische Gesandte. Katharina von Medici hatte zu einem Religionsgespräch eingeladen. Dieses Gespräch fand in Poissy außerhalb Paris statt. Seitens der Krone war gewiss an eine Versöhnung oder gar einen Ausgleich zwischen den Religionen gedacht, die reformierten Teilnehmer mit Beza an der Spitze mochten jedoch keine Kompromisse eingehen. Beza wurde unterstützt von Calvin in Genf, der selbst zu krank war, um mitzukommen. Calvin war mit den Auftritten und Reden Bezas zufrieden, während z.B. der Admiral Coligny Beza als reichlich provokant wahrnahm.
Im Herbst 1562 blieb Jeanne mit ihren Kindern beim Hofe. Katharina von Medici suchte auch nach den Religionsgesprächen eine Übereinkunft mit den Protestanten, was in dem Edikt vom 17. Januar 1562 – auch Edikt von St. Germain genannt – gipfelte. Dieses Edikt, an dem der Kanzler Michel de l´Hôpital und Beza beteiligt waren, erlaubte es den Hugenotten, außerhalb der Städte Gottesdienste zu halten. Es war das günstigste Edikt, das sie jemals erlangen sollten, das Edikt von Nantes 1598 war ihm sehr ähnlich, aber nicht ganz so großzügig. Der Unterschied war, dass Heinrich IV. dafür sorgte, dass das Edikt von Nantes durchgeführt wurde, während alle frühere Edikte, so wohlgemeint sie auf dem Papier auch waren, von katholischen Behörden unterlaufen wurden, und der König zu schwach war, um für ihre Durchführung zu sorgen.
Im März 1562 massakrierte der Herzog von Guise eine reformierte Gemeinde, die innerhalb des Städtchens Wassy Gottesdienst feierte. Damit war die Versöhnungspolitik Katharinas von Medici gescheitert. Die Hugenotten unter dem Prinzen von Condé griffen zu den Waffen und Anton von Bourbon bat Jeanne den Hof zu verlassen. Er behielt seinen Sohn Heinrich bei sich, entließ aber dessen hugenottischen Hauslehrer. Jeanne beschwor ihren Sohn, nicht zur Messe zu gehen, und der junge Prinz hielt sich wohl auch ein paar Wochen daran, musste sich aber schließlich fügen. Nach ihrem Fortgang vom Hofe trat Jeanne eine monatelange abenteuerliche Reise durch Frankreich an, so gefährlich, dass die ersten Briefen von der Hand Heinrichs seine Ängste um seine Mutter bezeugen. Ihre kleine Tochter Katharina durfte sie behalten.
Im ersten Religionskrieg führte Anton von Bourbon die königlichen katholischen Truppen gegen die Hugenotten. Bei der Belagerung von Rouen wurde er verwundet und starb am 17. November. Der junge Heinrich blieb am Hofe in der Obhut Katharinas von Medici, die allerdings Jeanne gestattete, ihm wieder reformierte Hauslehrer zu geben. Sie sollte ihn erst 1564 wiedersehen.
Die Kirche in Béarn und Navarra
Ihre große Aufgabe sah Jeanne darin, die Reformation in Béarn durchzuführen.
Calvin stellte ihr Jean Raymond Merlin zur Seite, den früheren Professor für Hebräisch in Lausanne, wo er Kollege von Beza, dem Professor für Griechisch, und von Pierre Viret, dem Rektor der Akademie, gewesen war. Pierre Viret arbeitete nach seiner Zeit in Lausanne und Genf vor allem in Frankreich, besonders in den Kirchen von Lyons und Nîmes. Später sollte er für Jeanne d´Albret ihre Akademie in Orthez aufbauen. Merlin war übrigens mit einer Tochter von Marie Dentière verheiratet, derjenigen, die vor Jahren Jeanne eine selbstgeschriebene hebräische Grammatik zugesandt hatte (vgl. Graesslé13f.; Nielsen).
Merlin ging voll Eifer an die Aufgabe, eine reformierte Kirche in Béarn aufzubauen. Es gab viele Reformierte in Südfrankreich, aber meistens unter städtischen Eliten und Handwerkern. Die Reformierten waren meistens des Lesens fähig, vor allem des Lesen französischer Texte. In Südwestfrankreich sprach die Bevölkerung die langue d´oc, die alte oczitanische Sprache, in irgendeiner Form. Die Gascogne hatte ihre Sprache, in der ein Neues Testament und fünfzig Psalmen übersetzt wurden, und Béarn hatte béarnais sogar als Amtssprache. Hinzu kam, dass die Bevölkerung in Navarra Baskisch sprach. Wenn Merlin das ganze Land reformieren sollte, musste er diese Sprachbarrieren überwinden, denn die Landbevölkerung musste erreicht und für die Reformation gewonnen werden.
Jeanne d´Albret beauftragte eine Übersetzung des Neuen Testaments ins Baskische, und eine Übertragung der Psalmen, der Zehn Gebote, der Liturgie und des Katechismus Calvins in die Sprache Béarns. Der Anwalt, später Pastor, Arnaud de la Salette, stellte 1571 diese Übersetzung fertig, und obwohl sie erst 1583 gedruckt wurde, darf man annehmen, dass in der Zwischenzeit Manuskriptkopien verwendet wurden. Pastoren, die die béarnesische oder die baskische Sprache beherrschten, wurde händeringend gesucht, und von den Anderen wurde ausdrücklich verlangt, dass sie es lernen sollten. Katecheten, die vermutlich Landeskinder waren, wurden in die Gemeinden geschickt.
Allmählich verbot Jeanne katholische Riten und Gebräuche, zuerst die Fronleichnamsprozessionen, danach Maibäume und Jahrmärkte. Dann wurde die Messe abgeschafft. Der Dom von Lescar und die Kirche St. Martin in Pau wurden leergeräumt, und die dort befindlichen Schätze verkauft.
Für Merlin konnte dies nicht schnell genug gehen. In seinen Briefen an Calvin klagte er seine Not: die Bevölkerung sei stur – diese Holzköpfe! - und die Königin zu langsam und vorsichtig (CO 20, Nr. 3988 & Nr. 4061). Merlin hatte übrigens auch früher in Montargis Probleme mit Renée de France gehabt, Herzogin von Ferrara, die in ihrem Gebiet so vorsichtig war wie Jeanne in Béarn (vgl. Lambin, 2). Jeanne bekam Klagen auf der jährlichen Ständeversammlung, wo die Katholiken über den Verlust alter Freiheiten und Rechte klagten. In den sechziger Jahren musste sie mehrmals Aufstände niederschlagen.
Der Nachfolger für Merlin war Pierre Viret, der enge Freund Calvins. Er war Pastor und Rektor für die Akademie in Lausanne – mit Beza und Merlin als Kollegen – gewesen. Wegen eines Streits mit dem Stadtrat in Bern, übersiedelten 1559 alle Professoren nach Genf, um dort in der neu errichteten Akademie zu unterrichten. Von Genf begab Viret sich nach Frankreich, wo er in Lyon als Pastor arbeitete, danach leitete er die Nationalsynode in Nîmes und schließlich folgte er dem Ruf nach Béarn. Seine wesentlichste Aufgabe war es, die Akademie in Orthez aufzubauen. Die Fächer Theologie, Hebräisch, Griechisch, Philosophie und Mathematik wurden dort unterrichtet, während es keine Anzeigen für Professuren in Jura und Medizin gibt.
Vor ihrer akademischen Laufbahn absolvierten die Jungen eine fünfjährigen Ausbildung in einer Lateinschule (collège), während die Grundschule sowohl Jungen wie Mädchen unterrichtete, die Mädchen allerdings getrennt mit weiblichen Lehrkräften. Damit wurde das kleine Béarn das erste Land Europas, welches kostenlosen Unterricht für Mädchen zusicherte, und zwar mit der interessanten Begründung, dass sie so im Stande waren, ihr Brot zu verdienen und sich der Gesellschaft nützlich zu machen („Pareil rolle sera aussy faict des filles qui sont en bas aage et qui n´ont nul moyen de vivre et de s´entretenir, par toutes les églises, afin que de mesmes deniers et en écolle séparée elles soient enseignées, nourries et tenues par des femmes sages et pudiques, par leur industrie pouvoir aprés se nourrir et entretenir et servir au public“. Art. 32 der Verfassung der Akademie von 1566, zitiert nach Desplat 2004). Desplat unterstreicht die säkulare Ausrichtung der Ausbildung. Allgemein wird behauptet, der Zweck des Unterrichts in protestantischen Ländern sei, die Bevölkerung des Lesens der Bibel und des Katechismus zu befähigen. Hier werden nur die Vorteile eines Schulunterrichts für die Gesellschaft betont.
Die Akademie wurde 1566 geöffnet. Die ersten protestantischen Akademiegründungen in Frankreich fanden in Nîmes (1562) und Montpellier statt. Vorrangiges Ziel war es, die Kirchen mit Pastoren zu versorgen, da die Akademie in Genf die steigende Nachfrage der Gemeinden kaum nachkommen konnte. Da Papst Pius V. die katholischen Universitäten angewiesen hatte, Protestanten die Abschlüsse zu verweigern (Maag 2002, 140), brauchten junge Hugenotten ihre eigenen Universitäten, die dann auch gegründet wurden, vor allem in Leiden und Heidelberg, aber auch in Frankreich und benachbarten Gebieten wie Béarn, Orange und Sedan, die alle zu diesem Zeitpunkt unabhängig waren.
Jeanne hatte sehr gute Gründe, langsam und überlegt vorzugehen. Der Kardinal von Armagnac ließ sie wissen, dass sie die Bevölkerung Béarns in Ruhe lassen sollte, ihre Untertanen wollten ihren Katholizismus nicht aufgeben. Jeanne antwortete, dass sie in Béarn nur Gott über sich habe, dort könne sie ihrem Gewissen folgen, und in ihrem Land werde niemand wegen seines Glaubens verfolgt. Das letzte war ihr ein Anliegen, denn 1571 schrieb sie an ihren Statthalter, den Baron d´Arros, dass in ihrem Land niemand zum Glauben je gezwungen worden war und es auch nicht werden sollte („...intention n´a point esté et n´est encores qu´ilz soyent contraints par force et violence de se reanger à ladite Religion“, d´Aas 2002, 452).
Als sie sich bei der Einführung der Reformation in ihren Ländern unnachgiebig zeigte, zitierte der Papst sie nach Rom zwecks eines Ketzerprozesses. Da sie dieser Einladung nicht folgte, exkommunizierte er sie. Der Bann war eine ernste Bedrohung, da jeder katholische Herrscher jetzt das Recht hatte, ihre Länder an sich zu reißen und sie abzusetzen, eine Chance, die Philipp II. von Spanien sich nicht entgehen lassen würde. Katharina von Medici verteidigte deshalb Jeanne, weil sie keine spanische Präsenz auf der französischen Seite der Pyrenäen dulden wollte. Außerdem war sie eine Verfechterin der gallikanischen Freiheit der französischen Kirche und meinte deshalb, der Papst solle sich nicht in die Angelegenheiten der Kirche einmischen.
Königin der Hugenotten
Nach dem ersten Religionskrieg (1562-63) ließ Katharina von Medici den jungen Karl IX. mündig erklären und führte ihn mit dem Hof auf eine große Frankreichreise, die mehrere Jahre dauerte. Der Zweck dieser Reise war es, den König dem Volk zu zeigen, und damit die Loyalität der Bevölkerung zu erhalten. Jeanne wurde als Vasallin einberufen und stieß Ende Mai 1564 zum Zug in Macon.
Ihr Sohn Heinrich nahm auch Teil an diese Reise und seinetwegen stritten die zwei Königinnen sich, weil Jeanne ihn bei ihren protestantischen Gottesdiensten dabei haben wollte, und Katharina wünschte, dass er mit der königlichen Familie zur Messe gehe. Schließlich sandte Karl IX. Jeanne zu ihrem Besitz in Vendôme, während Heinrich als Gouverneur von Guyenne den Zug begleitete und in den Städten für den feierlichen Empfang des Königs sorgte.
Jeanne durfte nicht mit nach Bayonne, wo Katharina ihrer Tochter Elizabeth, Königin von Spanien, begegnen wollte. Philipp II. sandte als seinen Gesandten den Herzog von Alba, der auf dem Weg in die Niederlande war. Die Hugenotten waren später überzeugt, dass Alba und die Königinmutter in Bayonne ihre Ausrottung geplant hatten. Sicher ist, dass Alba in den Niederlanden mit aller Härte gegen die Protestanten vorging, und es ist durchaus möglich, dass er versuchte, Katharina auf seinen mörderischen Kurs einzustimmen. Schon 1568 – also vor der Bartholomäusnacht! – schrieb Jeanne, dass die Waffen, die gegen die Hugenotten verwendet werden sollten, in Bayonne geschmiedet worden seien (Ample déclaration).
Jeanne und Heinrich trafen sich später in Paris. 1566 ersuchte sie erneut um Erlaubnis, mit ihren beiden Kindern nach Béarn zu fahren, was ausgeschlagen wurde. Sie erhielt aber Erlaubnis, ihren Sohn in seinen französischen Ländereien herumzuführen, und Anfang 1567 reiste sie dann mit ihm nach Vendôme, und von dort setzte sie sich unerlaubt ab nach Béarn. Damit machte sie laut des Biographen Heinrichs, Pierre Babelon, aus einem französischen Prinzen einen Ausländer, und vor allem einen Hugenotten.
Von 1567 an arbeitete Jeanne für die Zukunft ihres Sohnes. Ihre Lebensaufgabe, schrieb sie selbst, sei: Gott, Königtum und ihr Blut. Mit Gott war die reformierte Religion, die wahre Kirche Gottes, gemeint. Mit dem König ihr Status als Vasallin und – trotz Béarn – als Französin, und mit dem „Blut“, die Familie, zuallererst ihr Sohn Heinrich. Er sollte von jetzt an kein Höfling mehr sein, sondern die Aufgaben eines Regenten lernen. Als ein Aufstand in Navarra niedergeschlagen worden war, wurde er dorthin geschickt, um die Basken zu befrieden. Als 14jähriger hielt er für seine Untertanen eine Rede, in welcher er ihr Fehlverhalten geißelte, ihnen die Gunst der Königin zusicherte, falls sie sich verbessern würden, und seinen berühmten Charme mit seinem Autoritätsanspruch verband.
Im Herbst 1567 versuchten die Hugenotten, die sich von der Aufrüstung des Königs bedroht fühlten, Karl IX. in ihre Gewalt zu bringen. Die Entführung missglückte, und die königliche Familie suchte, beschützt von den schweizerischen Söldnern, die die Ängste der Hugenotten verursacht hatten, Zuflucht in Paris. Die Hugenotten belagerten die Stadt. Im November wurden sie vor den Toren von St. Denis geschlagen und mussten sich in die Provinz zurückziehen, wo sie den Kampf bis zum Friedenschluss von Longjumeau im März 1568 fortsetzen.
Der Friedensvertrag war an sich nicht ungünstig für die Hugenotten, nur haperte es wie immer mit der Umsetzung. Katholische Behörden waren über die für die Hugenotten günstigen Bedingungen empört und setzten sie nicht um. Der Protestant La Noue schrieb in seinen Erinnerungen, dass der Krieg zwar viel Unheil bringe, aber dieser elende kleine Friedensvertrag sei viel schlimmer für die Reformierten, die in ihren Häuser umgebracht wurden, ohne dass sie sich zu wehren wagten („ …une guerre est misérable et qu´elle apporte avec soy beaucoup des maux…cette méchante petite paix est beaucoup pire pour ceux de la Réligion, qu´on assassinoit en leur maisons, et ne s´osoyent encores défendre“, d´Aas 2002, 382) Im Laufe des Sommers 1568 versuchten die Gruppierungen noch einmal miteinander zu reden, Karl IX. sandte einen Botschafter nach Béarn, und Jeanne verfasste ein Sendschreiben an den König mit dem Antrag, den Frieden in Guyenne wiederherzustellen.
In der Zwischenzeit fühlten sich der Prinz von Condé und der Admiral Coligny auf ihre Schlösser in Bourgogne zunehmend bedroht. Der Herzog von Alba wollte in den Niederlanden mit Feuer und Schwert den Protestantismus auszurotten, und Flüchtlinge berichteten ihnen von seinem Terror. Am 23. August 1568 flüchteten sie mit ihren Familien und Angehörigen über die Loire nach La Rochelle. Die Überquerung der Loire erinnerte fast an den biblischen Durchzug durchs Schilfmeer: so viele Hugenotten hatten sich angeschlossen, dass der Zug fast wie eine Völkerwanderung aussah, und die Loire hatte in der Augusthitze einen so niedrigen Wasserstand, dass Sandbanken in der Mitte auftauchten. Dementsprechend sangen alle Psalm 114 vom Auszug der Israeliten aus Ägypten, als sie hinüber waren. Die Parallele wurde noch einmal deutlich, als die königlichen Truppen, die sie verfolgten, wegen plötzlich einsetzenden Hochwassers den Fluss nicht überqueren konnten.
In dieser Situation war Jeanne zutiefst gespalten. Bislang hatte sie die Kriege moralisch unterstützt, aber nicht selbst teilgenommen. Falls es zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen sollte, konnte sie immer mit ihren Kindern in der uneinnehmbaren Festung Navarrenx Zuflucht suchen. Sie hatte jedoch ihren Sohn, der als zukünftiger Führer der Hugenotten das Kriegshandwerk lernen sollte, und so musste sie wählen, ob sie in Béarn unter ihrem Volk bleiben oder sich den Hugenotten anschließen sollte: „ich hatte den Krieg im Bauch“ schrieb sie danach („J´eu la guerre en mes entrailles“, Ample declaration). Sie setzte den Baron d´Arros als Statthalter ein, und Anfang September begab sie sich in Eilmarsch nach La Rochelle (Cocula 2004). Dort konnte sie ihren Sohn dem Prinzen von Condé überantworten. Sie schrieb unterwegs eine Reihe Briefe an Karl IX., an Katharina von Medici, an ihren Schwager, den Kardinal von Bourbon und an die Königin Elizabeth von England, um ihren Entschluss zu begründen. Angekommen in La Rochelle schrieb sie eine Erklärung („Ample declaration“) um der Öffentlichkeit zu erklären, warum sie sich der hugenottischen Armee zugesellte.
Die Hugenotten unter ihren Anführer aus der königlichen Familie wollten nicht als Aufrührer dastehen. Sie behaupteten, die erzkatholische Partei sei schuld daran, dass königliche Befehle nicht vollzogen wurden. Die Katholiken mit ihren Verbindungen nach Spanien und Rom seien Landesverräter. Die Politik des Kardinals von Lorraine verdient laut Sutherland (1974) keinen anderer Namen. Wenn Jeanne vom Frieden sprach, meinte sie eine Duldung der Hugenotten in Frankreich. Die Forderungen der Hugenotten waren immer dieselbe: Erlaubnis, Gottesdienste zu feiern, Gerichte mit zur Hälfte hugenottischen Richtern, sichere Zufluchtsstädte – deren Anzahl schwankte in den Verhandlungen – und Zugang zu Ausbildung und Beamtenstellen gleichrangig mit den Katholiken. Die Provinz Languedoc unter dem moderat katholischen Gouverneur Montmorency-Damville war ein friedlicher Ort in den Religionskriegen, weil Damville den Hugenotten solche Rechte einräumte, und die katholische Bevölkerung sich damit abfand.
Im März 1569 fand eine Schlacht bei Jarnac statt. Der Prinz von Condé kämpfte mit, wurde verwundet und nach der Schlacht ermordet. Es gelang Admiral Coligny, die hugenottischen Truppen zusammenzuhalten, aber der Verlust des Prinzen war ein herber Schlag. Heinrich von Navarra war jetzt der ranghöchste Prinz, und zusammen mit seinem Vetter, dem gleichaltrigen Heinrich von Condé, wurde er jetzt Oberbefehlshaber über die Armee der Prinzen. In Wirklichkeit lag die Verantwortung für die Kriegsführung bei dem erfahrenen Admiral, und die beiden Prinzen wurden seine Pagen genannt.
Jeanne blieb in La Rochelle, während Coligny mit den Prinzen im Krieg war, und sie konnte, unterstützt von einem Rat adliger Hugenotten, die „Regierungsgeschäfte“ regeln. Sie schrieb an England und nach Deutschland. Sie unterzeichnete Erlässe, versuchte Geld für das Heer aufzutreiben, pfändete ihren schönsten Schmuck für einen Kriegsdarlehen an Elizabeth von England und ließ ein Kriegsschiff namens „Die Hugenottin“ bauen.
So wie sie immer behauptete, nicht gegen den König, sondern gegen seine schlechten Ratgeber zu kämpfen, so behauptete Karl IX., dass sie in La Rochelle von den Hugenotten gefangen gehalten wurde, und er ließ den Baron Terride mit einer „Befreiungsarmee“ in Béarn einfallen. In kürzester Zeit waren ganz Béarn und Navarra erobert und zum Katholizismus zurückgeführt. Nur der Baron d`Arros hielt im Navarrenx stand. Um ihre Länder zurückzuerobern, sandte Jeanne den Graf von Montgommery mit einer „Hilfsarmee“ nach Navarrenx. In noch kürzerer Zeit als Terride gebraucht hatte, verjagte er ihn aus Béarn. Die Befreiung von Terride wurde in Pau mit einem Festgottesdienst gefeiert, wobei Pierre Viret über Psalm 124, 7: „Unsere Seele ist aus dem Netz des Vogelfängers entkommen“ predigte.
Vom Winter 1569 bis zum Frühjahr 1570 führte Coligny sein Heer mit den Prinzen Heinrich von Navarra und Heinrich von Condé durch ganz Südfrankreich und von Provence nach Norden, bis er Paris bedrohte. Der König hatte kein Geld mehr, um Krieg zu führen, und musste notgedrungen Friedensverhandlungen einleiten. Im August 1570 wurde dann der Frieden von St. Germain geschlossen. Wiederum war Jeanne d´Albret diejenige, die auf Augenhöhe mit dem König verhandeln konnte. Der Vertragstext erklärt immer wieder, dass der König die Bedingungen seiner Tante erfüllen wollte (Sutherland 1980, Potter 1997).
Jeanne blieb vorläufig in La Rochelle. Im April 1571 fand dort die Nationalsynode der reformierten Kirchen Frankreichs statt. Theodor Beza kam aus Genf angereist, um die Synode zu leiten. Pierre Viret wollte teilnehmen, starb aber vorher, vermutlich hatte seine Gesundheit in der Gefangenschaft unter Baron Terride gelitten. Auf der Synode wurde das französische Glaubensbekenntnis von 1559 neu verhandelt und die endgültige Fassung als „Bekenntnis von La Rochelle“ beschlossen. Darüber hinaus wurde eine Kirchenordnung für Béarn beschlossen, und die Synode diskutierte Fragen, die Jeanne d´Albret gestellt hatte. Als Ersatz für Pierre Viret bekam sie Nicolas des Gallars zur Seite gestellt. Er war Calvins Sekretär gewesen, danach hatte er die „Strangers´ Church“, die Kirche für Ausländer in London, als Nachfolger für Johannes à Lasco geleitet und dann an Bezas Seite im Colloquium von Poissy 1561 gestanden. Er war Pastor in Orléans gewesen und wurde jetzt Seelsorger für Jeanne d´Albret und ihr theologischer Ratgeber für die Kirche in ihrem Land.
Er war eine gute Wahl, denn während Beza sehr an dem Konzept von Genf hing und ein presbyteriales Kirchenverständnis (Kingdon 1967) hatte, war des Gallars in England gewesen, als Königin Elizabeth nach dem Tod ihrer katholischen Schwester die anglikanische Kirche einführte. Außerdem behauptet Bernard Roussel (2004), dass er das Buch Martin Bucers „De regno Christi“ von 1550 mitbrachte. Dieses Buch ist dem englischen König Edward VI. gewidmet und beschreibt, wie ein König eine reformierte Kirche leiten kann. Damit hatte des Gallars ein Konzept für eine von einer Fürstin geleitete Kirche, die dann in den Jahren als Heinrich und Katharina von Navarra das Erbe der Mutter verwalteten, Bestand hatte.
Während Jeanne in La Rochelle noch weilte, ereilte sie ein Angebot von Katharina von Medici, ob ihren Sohn Heinrich die Tochter Katharinas heiraten mochte. Hugenotten und Katholiken würden sich versöhnen und die Häuser Valois und Bourbon sich nahekommen. Dieses Angebot war zu verlockend, um es auszuschlagen, aber Jeanne traute Katharina nicht so recht, jedenfalls wollte sie nicht gleich nach Paris ziehen, um über die Ehe zu verhandeln.
Stattdessen fuhr sie nach Pau zurück, führte die neu beschlossene Kirchenordnung ein und kümmerte sich um ihre Länder. Die Tuberkulose machte sich bemerkbar und sie wollte zur Kur in die Bergen fahren. Währenddessen zogen sich die Eheverhandlungen hin, bis Jeanne endlich im Frühjahr 1572 nach Paris zog. In den Briefen an ihren Sohn hört man von den Verhandlungen, von ihrer Missbilligung des höfischen Lebens und von ihrem Ärger mit Katharina. Jeanne wollte so viele Rechte wie möglich für ihren Sohn und die Hugenotten aushandeln. Am Ende musste sie es aufgeben, Margareta von Valois, Margot genannt, zum reformierten Glauben zu bekehren. Dafür hoffte sie aber, dass das Brautpaar nach Béarn ziehen würde. Eine königliche Mischehe war etwas ganz Neues und musste in Detail besprochen und geplant werden. Jeanne handelte das Meistmögliche für ihren Sohn aus und im April 1572 wurde eine Einigung erzielt. Heinrich sollte allerdings noch eine Weile in Béarn bleiben und Jeanne bereitete in Paris die Hochzeit vor.
Die zähen Verhandlungen im Frühjahr hatten viel Kraft gekostet, Jeanne hielt sich aber tapfer. Im Juni brach sie zusammen und starb am 9. Juni an der Tuberkulose, die sie seit Jahren geplagt hatte. Später entstanden Gerüchte, sie sei von Katharina von Medici vergiftet worden. Diese sollte ihr ein Paar Handschuhe, die von ihrem privaten Giftmischer präpariert worden seien, geschenkt haben. Da Katharina nach den Massakern von St. Bartholomäus, die in der Periode von August bis November 1572 stattfanden, von den Hugenotten als der Inbegriff des Bösen dargestellt wurde, gehört der Giftmord an Jeanne d´Albret zu den Verleumdungen.
Heinrich traf erst etwas später in Paris ein. Im Testament Jeannes hatte sie sich gewünscht, in Béarn bei ihrem Vater beerdigt zu werden. Ihr Sohn setzte sich über ihren letzten Willen hinweg: sie wurde nach Vendôme geführt und neben ihrem Mann, Anton von Bourbon, bestattet.
Trotz ihre Fähigkeiten wurde sie eine Fußnote in der Geschichte Frankreichs: ihr Sohn wurde zwar als Heinrich IV. König von Frankreich, aber er wurde katholisch und aus den Hugenotten wurde, dank des Ediktes von Nantes 1598, eine geduldete Minderheit. Die Kirche, die Jeanne in Béarn aufgebaut hatte, wurde unter ihrem Enkelsohn, Ludwig XIII., verboten. 1685 wurde dann das Edikt von Nantes aufgehoben, und die Reformierten wurden grausam verfolgt. Viele flüchteten, viele konvertierten und viele wurden umgebracht. Die großen Hoffnungen, die die Hugenotten um Jahr 1560, als Jeanne konvertierte, hegten, erwiesen sich als trügerisch.
Wenn auch letztlich nicht erfolgreich, war sie dennoch bewundernswert. Mit dem Admiral Coligny zusammen hatte sie den Frieden von St. Germain errungen, dann eine Landeskirche aufgebaut und ihre Kinder gefördert. Sie war die reformierte Präsenz in der königlichen Familie und in ihren letzten Jahren wurde sie die Königin der Hugenotten.
Stammtafeln der Familie von Valois und der Familie von Bourbon (PDF)
Literatur
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Das Neue Testament als Zuwendung zu Israel
''Israel'' in der Theologie Johannes Calvins
I Calvin als Ausleger des Alten Testaments
Die großen Kommentare sind die Belege: Zeit seines Lebens hat Calvin insbesondere im Alten Testament geforscht. Die Auslegungswerke, deren umfangreiche philologische und historische Arbeiten die deutschen Übersetzungen auch nicht entfernt erahnen lassen, zeichnen sich aus durch eine im Geist des Humanismus durchgeführte strenge und genaue exegetische Forschung am hebräischen Urtext. Wir wissen heute, daß Calvin sich nicht damit begnügte, die schriftgelehrten Kommentare der großen jüdischen Exegeten Ibn Esra (1092-1167), Kimchi (1160-1232) und Raschi (1040-1105) in den Kompendien des Nikolaus von Lyra (1270-1340) zu erarbeiten, wie z.B. Luther es getan hat, sondern daß er diese Kommentare im Grundtext las und sich ständig auf sie bezog.
Ad fontes - »zu den Quellen«, das war die Losung humanistischer Wissenschaft. Calvin suchte die Quellen des hebräischen Sprachverständnisses bei den Juden auf. Sie waren für ihn die authentischen Sprachlehrer. So heißt es immer wieder in den Kommentaren: »Die Juden erklären hier ...« Man kann wohl sagen, daß in Calvins Rezeption der mittelalterlichen Opera jüdischer Gelehrter der Grundstein moderner Bibelwissenschaft gelegt worden ist. Auf das Spezifikum des Lernens von den Juden werde ich noch zurückkommen.
Es entspricht humanistischem Geschichtsverständnis, daß Israel in seiner geschichtlichen Existenz gesehen und im Kontext seiner Geschichte erklärt wird. Ich werde diesen Satz später korrigieren müssen, halte aber zunächst daran fest, daß Calvin in entscheidenden, grundlegenden Phasen seiner Exegese der hebräischen Bibel sich als Historiker erweist. Damit wird dem christlichen Brauch und Bedürfnis das Alte Testament für die Predigt der Kirche zu annektieren, ein Riegel vorgeschoben. Die Botschaft des Mose und der Propheten ist an das geschichtliche Israel gerichtet. Zu Jes 6,10 schreibt Calvin: »Jesaja war nicht zu irgendwem gesandt, sondern zu den Juden.«
Genau wird die jeweilige geschichtliche Situation ermittelt. Selbstverständlich verliert Calvin keinen Augenblick aus dem Auge, daß in der hebräischen Bibel die besondere Bestimmung und Sendung Israels überall aufleuchtet und den Weg des Volkes kennzeichnet. Zu Joh 4,22 erklärt der Genfer Reformator: »Nur deshalb waren die Israeliten von den übrigen Völkern abgesondert worden, daß von ihnen aus die wahre Erkenntnis Gottes schließlich auf die ganze Welt übergehen sollte.« In diesem Sinn ist Joh 4,22 zu verstehen: »Das Heil kommt von den Juden.«
Im Zentrum steht die TORA, das Gesetz. Im Strom der kirchlichen Auslegungstradition steht Calvin wie ein einsamer, herausragender Felsen. Immer wieder war die Exegese der Kirche versucht, der markionitischen Trennung und Entgegensetzung von »Gesetz« und »Evangelium« zu folgen, das »Gesetz« als jüdische, hinfällige Religionsstufe zu erklären und entsprechend abgehoben das »Evangelium« als »Erfüllung« zu feiern. Es kann hier im einzelnen nicht dargelegt werden, inwieweit auch Luther dieser Versuchung erlegen ist. Calvin setzt sich den Aussagen des Alten Testaments aus und nimmt das TORA-Verständnis Israels aus. Und zwar in dem Sinn: Durch Erwählung und Bund ist Israel gewürdigt, Gottes TORA zu empfangen, zu hören und zu befolgen.
Unter dieser TORA zu leben ist keineswegs eine »gesetzliche Strenge« und Sklavendienst, sondern Vorzug und Inbegriff der Freude. Der Name Gottes, »Inbegriff seiner geoffenbarten Gnade und Macht«, ist Israel bekannt gemacht worden. Es heißt in Inst 11.11.11: »Diesem Volk allein hat er die Kenntnis seines Namens zuteil werden lassen, so daß es allein unter allen Völkern ihm gehörte, seinen Bund hat er ihm gewissermaßen in den Schoß gelegt, seine göttliche Majestät hat er ihm gegenwärtig offenbart, mit lauter Vorrechten hat er es geschmückt.« Mit diesen und ähnlichen Sätzen preist Calvin die einzigartigen Vorrechte des erwählten Volkes. Denn Israel war Gottes geliebter »Sohn« (Ex 4,22), die anderen waren Fremde; Israel war von Gott geheiligt, die anderen waren Gottferne (profani). Im Unterschied zu Luther hält Calvin an dem biblisch-alttestamentlichen Tora Verständnis fest. Das zeigt sich am deutlichsten in seiner Erklärung des Dekalogs, der von der Präambel her gedeutet wird: »Ich bin der Herr dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus dem Sklavenhaus herausgeführt habe« (Ex 20,2). Inst. 11.8.15: »Gott hat sein Volk aus elender Sklaverei dazu befreit, daß es nun seinen Befreier in freudiger Bereitschaft gehorsam verehre.«
Der Exodus ist Befreiungsgeschehen. Die Gebote stehen unter diesem Vorzeichen. Calvin kann sagen: Mit seinem Wort und seinen Geboten führt der Gott des Bundes in das »regnum libertatis« (Reich der Freiheit). So könnte man, wie Karl Barth und Kornelis Heiko Miskotte im Anschluß an Calvin gedeutet haben, die Gebote vernehmen als von dem Ruf durchdrungen: »Bleibe bei deinem Befreier, Israel!« Wenn Paulus in Röm 8,2 vom »Gesetz des Geistes« spricht, dann muß man sagen, daß Calvin dieses »Gesetz des Geistes« in Israel wirksam sieht. Inst II.11.8: Die Unterscheidung von Buchstaben und Geist darf man ... nicht so verstehen, als ob der Herr den Juden die TORA ohne Frucht gegeben hätte ...« Vor allem im Ps 119 erkennt Calvin das in Israel effektive »Gesetz des Geistes«.
Man hat Calvin oft den Vorwurf gemacht, mit der Aufrichtung und Preisung des »Gesetzes« habe er eine neue (reformierte) »Gesetzlichkeit« heraufgeführt. Aber hier ist eine einschneidende Neubesinnung notwendig. Denn wir alle kennen den Vorwurf bzw. das Urteil, das Christen Juden gegenüber erheben, wenn sie von »gesetzlicher Religion« oder »Gesetzlichkeit« reden. Calvin aber belehrt uns, daß derartige Urteile vor dem genuinen TORA-Verständnis des Alten Testaments nicht zu halten und zu verantworten sind. Die TORA-Theologie Calvins, so denke ich, öffnet den Christen ein besseres Verständnis der TORA-Frömmigkeit der Juden; sie baut die Schranken ab, die ein traditionelles Vorurteil aufgerichtet hat. Ich halte es darum für ein bemerkenswertes Zeichen, wenn in den durch Calvins Theologie geprägten Niederlanden in den reformierten Gemeinden eine viel größere Offenheit und Vorurteilsfreiheit den Juden gegenüber besteht als bei uns. Aber hier geht es nicht um konfessionelle Eigenart, sondern um Treue gegenüber dem biblischen Wort und um ein vorurteilsfreies TORA-Verständnis, wie es heutzutage in der alttestamentlichen Wissenschaft, vor allem in der Theologie Gerhard von Rads, sich durchgesetzt hat.
II Kirche und Israel
Ich habe zu zeigen versucht, daß das humanistisch geprägte Geschichtsverständnis Calvins die Vereinnahmung des Alten Testaments zurückweist und Israel dadurch in die Distanz zur Kirche rückt. Doch angesichts dieser Tatsache erhebt sich sogleich die Frage: Was verbindet denn die Kirche mit Israel? Was motiviert das Interesse der neutestamentlichen Gemeinde am Alten Testament? Vor allen ekklesiologischen Versuchen der Beantwortung dieser Fragen ist das messianisch-christologische Argument zu bedenken. Jesus als der Christus verbindet die Kirche mit Israel. Genauer sagt Calvin: Der Jude Jesus von Nazareth als der Messias Israels und Herr der Kirche begründet die Gemeinschaft der Kirche mit Israel, dem Gottesvolk des Alten Testaments. Die beiden Akzente: Jesus als »wahrer Jude« und als Messias Israels werden schärfer gesetzt, als es sonst in der christlichen Tradition geschieht.
Calvins Christologie ist eine alttestamentlich bestimmte Messianologie vor allem in der Triplex-munus-Lehre, die der Heidelberger Katechismus in der Frage 31 aufgenommen hat: Als Messias, als Geist-Gesalbter, ist Jesus der endzeitliche Prophet, Priester und König, der sein Charisma den Christen mitteilt und sie an seinen messianischen Gaben partizipieren läßt. In Christus geschieht Bestätigung und Erfüllung alttestamentlicher Weissagungen und Verheißungen. Augustinus lehrte: »Christus universae scripturae scopus est.« Die Reformatoren, so auch Calvin, bekannten sich zu diesem Satz, allerdings mit unterschiedlicher praktisch-exegetischer Ausführungsweise. In seinen Auslegungen des Alten Testaments erweist sich der Genfer Reformator in der Frage christologischer Interpretation des Alten Testaments als äußerst zurückhaltend und vorsichtig. An entscheidenden Stellen schert er aus der christlichen Auslegungstradition aus
Ich nenne zwei Beispiele: 1. Den Psalm 72 deutete man in der Auslegungstradition der Kirche christologisch. Calvin hingegen eröffnet die Interpretation dieses Psalms mit folgender Erklärung: »Den Psalm ohne weiteres auf das Königtum Christi zu beziehen ist eine Gewaltsamkeit. Wir sollten den Juden keinen berechtigten Anlaß zu dem Vorwurf geben, wir würden alles unbedacht verdrehen, indem wir alle Einzelheiten auf Christus beziehen, die doch durchaus nicht von ihm handeln.« Wann und wo hat es das in der Kirche schon einmal gegeben, daß ein christlicher Theologe sich in seiner Erklärung der Hebräischen Bibel den Juden gegenüber verantwortlich weiß?! Daß er jüdische Reaktion mitbedenkt?! Ursache solcher Aufmerksamkeit ist die Tatsache, daß Calvin ständig in den jüdischen Kommentaren, die ich erwähnte, arbeitete und forschte. 2. Ergebnis solcher intensiven Befassung mit jüdischer Auslegung ist die Leugnung und Ausscheidung des sog. Protevangeliums. Gen 3,15 wurde in der christlichen Auslegungstradition als Protevangelium, d.h. als erste Ankündigung des Evangeliums von der den Satan überwindenden Macht Christi, verstanden: »Ich will Feindschaft setzen zwischen dir und der Frau und zwischen deinen Nachkommen und ihren Nachkommen; der soll dir den Kopf zertreten, und du wirst ihn in die Ferse stechen.«
Calvin hat sich von den jüdischen Gelehrten des Mittelalters belehren lassen, daß das hebräische Wort sära (Same) keineswegs auf einen speziellen Nachkommen bezogen werden kann, sondern kollektivisch offenbleibt, also den unabsehbaren Konflikt zwischen Schlangen und Menschen ankündigt. Ich zitiere aus dem Genesis-Kommentar Calvins: »Ich meine, daß hier eine wirkliche Schlange gemeint ist, keineswegs aber eine Allegorie vorliegt.« Gen 3,15 ist also so zu verstehen, »daß immerwährend zwischen dem Menschengeschlecht und den Schlangen ein Kriegszustand herrschen wird«. »Es ist nicht erlaubt, den Sammelbegriff sära (Samen oder Nachkommenschaft) auf eine einzige Person zu deuten. Von einer fortwährenden Feindschaft ist die Rede.«
Damit ist das sog. Protevangelium natürlich erledigt, doch sind die Verfasser des Heidelberger Katechismus in dieser Sache keine aufmerksamen Schüler Calvins gewesen, denn sie haben die alte Theorie zu neuem Leben erweckt: »Gott selbst hat anfänglich das heilige Evangelium im Paradies geoffenbart« (Frage 19; die Randnotiz verweist auf Gen 3,15). Man kann sagen, daß durch Calvin Tabus gebrochen wurden, denn tatsächlich hat die Kirche bestimmte Verheißungen und Weissagungen des Alten Testaments christologisch tabuisiert, um auf diese Weise Altes und Neues Testament eng zu verklammern. Wo immer aber Calvin selbst christologische Erklärungen in seine Auslegungen des Alten Testaments einbringt, da geschieht dies in messianischer Perspektive und sachlicher Konsequenz, unter betonter Ausscheidung jeder allegorischen oder typologischen Kunstgriffe.
Es bleibt also zuerst festzustellen: Der Jude Jesus von Nazareth als der vom Alten Testament angekündigte Messias verbindet die Kirche mit Israel. Aber nun bedürfen die christologischen Argumente der ekklesiologischen Konkretisierung. In der Geschichte der Kirche findet man - von den Anfängen an - immer wieder die Enterbungs- oder Substitutionstheorie. Diese Theorie, die das Gewicht eines Dogmas hat, besagt: Israel hat den Bund gebrochen und ist von Gott enterbt worden; Erbe der Erwählung, des Bundes und aller Verheißungen ist die Kirche geworden; ihr gehört das Alte Testament, das für sie nun ohne weiteres zugänglich ist. In der Gestalt der Substitutionsthese heißt dies: An die Stelle Israels ist die Kirche getreten, denn Gott hat sein Volk Israel verstoßen. Daß diese Erklärungen und die entsprechenden Verfahrensweisen der Kirchen von weitreichender Wirkung für ihr Verhältnis zu den Juden wurden, wird uns immer mehr bewußt.
Die Position Calvins in dieser Sache ist die eines einsamen und energischen Widerspruchs, denn er hat stets der Gewißheit Ausdruck gegeben, daß der Bund Gottes mit Israel ewigen Bestand hat und ungekündigt besteht. Wer hier einmal genau hinhört und vergleicht, der wird erkennen müssen, daß es in der Tat eine einsame Stimme in der Kirche ist, die dies zu sagen wagt - gegen ein eingewurzeltes dogmatisches Urteil. Wie kommt Calvin zu dieser außergewöhnlichen Aussage?
Zum einen weist der Ausleger des Alten Testaments darauf hin, daß in der Verheißung des Neuen Bundes Jer 31,31-34 keineswegs von einer Verwerfung Israels die Rede ist, vielmehr wird ja doch ausdrücklich gesagt, der Neue Bund werde mit dem »Haus Israel« und mit dem »Haus Judas« geschlossen. Zum anderen bezieht Calvin sich auf die Ausführungen des Apostels Paulus in Röm 9-11. Es heißt in Röm 11,2 kategorisch: »Gott hat sein Volk nicht verstoßen, welches er zuvor ersehen (erwählt) hat«.
Calvin geht, Paulus folgend, keineswegs an der Tatsache vorüber, daß Israel den Bund gebrochen hat. Aber er schreibt dann folgendes in seiner Erklärung zum Römerbrief:
»Es erhebt sich eine ganz andere Schwierigkeit: Es fragt sich, ob der Bund, den Gott einst mit den Erzvätern geschlossen hat, wirklich habe abgeschafft werden können. War auch die Strafe des Volkes eine wohlverdiente, so wäre es doch ungereimt, wenn der Menschen Treulosigkeit den Bund sollte ins Wanken bringen können. Denn der Grundsatz steht unbedingt fest, daß die Annahme zur Kindschaft ein Werk der freien Gnade ist, nicht auf Menschen, sondern allein auf Gottes Grund gebaut, daß sie also fest und unbeweglich stehen muß, wenn auch aller Unglaube der Menschen sich wider sie auflehnt. Dieser Knoten muß entwirrt werden, wenn nicht der Schein entstehen soll, als hinge Gottes Wahrheit und Erwählung an der Menschen Würdigkeit.«
Soweit Calvin, der zum Ausdruck bringt und stets wiederholt hat: Die Bundestreue Gottes hat kein Ende. Israel ist und bleibt Gottes erwähltes Volk. Wer dem widerspricht, zerstört die Fundamente des Heils, die auf Gottes freier Gnade beruhen und nicht hinfällig werden. Das reformatorische »sola gratia« (allein aus Gnade) ist in Israel verwurzelt und verbürgt. D.h. aber: Israel ist nicht nur, wie in der Kirche bisweilen gedeutet wird, ein Anschauungsunterricht der Bundestreue Gottes für die Kirche. Die Bundestreue Gottes ist und bleibt vielmehr für Israel geschichtlich real und konkret - bis zum Letzten. Dieses »Letzte« wird vom Apostel Paulus mit den Worten bezeichnet, daß am Ende, wenn die Fülle der Heiden in das Reich Gottes eingegangen sein wird, »das ganze Israel gerettet wird« (Röm 11,26).
Sicher nicht sachgemäß versteht Calvin unter »ganz Israel« das Gottesvolk aus Juden und Heiden. Aber beachtlich und bezeichnend sind seine Ausführungen:
»Wenn nämlich die Heiden in Gottes Reich eingegangen sein werden und zugleich auch die Juden ... zum Gehorsam des Glaubens sich sammeln werden, dann wird das Heil des ganzen Israel Gottes, welches er aus beiden sich sammeln will, sein Ziel erreicht haben, doch so, daß die Juden als die Erstgeborenen der Familie Gottes den ersten Platz einnehmen.«
Bis in die eschatologische Vollendung hinein bleibt die Prärogative Israels als der Ersterwählten bestehen. Unermüdlich betont Calvin die Würde und das Vorrecht der Ersterwählten, der Juden. Er bedient sich dabei einer sehr wichtigen ekklesiologischen Bezeichnung. Das Gottesvolk des Alten und des Neuen Testaments bildet zusammen und als Einheit die »familia Dei«, die »Familie Gottes«, in der die Juden die älteren Geschwister sind. Hätte die Kirche, durch Calvin belehrt, so die Juden angesehen: als die älteren Geschwister ein- und derselben Familie Gottes, des Vaters, dann wäre wohl all das Schreckliche nicht möglich gewesen, das Christen den Juden angetan haben an Haß, Verfolgung und Versagung von Beistand und Hilfe in den mörderischen Pogromen.
Calvin weiß wohl um den Schmerz und das Leid der getrennten Wege, auf denen Kirche und Synagoge wandeln. Aber er schaut aus nach der großen Wende und sehnt sie herbei. Im Kommentar zu den Psalmen wird der Stachel spürbar, daß Israel und die Kirche, Juden und Christen, getrennt mit denselben Liedern und Gebeten Gott loben. Calvin spricht diese schmerzliche Tatsache aus und sehnt sich nach der Vollendung, wenn Juden und Christen gemeinsam mit den Psalmen Israels Gott loben und anbeten.
Wenn es sich darum handelt, das Verbindende zwischen Kirche und Israel zu bezeichnen, dann könnte die ekklesiologische Formulierung »familia Dei« wohl eine Hilfe sein. Aber Calvin bemüht sich - vor allem in der Institutio - noch um andere Zuordnungskategorien. Davon muß die Rede sein, auch wenn der Begriff der »Zuordnungskategorien« schon gewisse Schematismen ankündigt, die wir kritisch zur Kenntnis nehmen müssen. Ich setze ein mit dem ekklesiologischen Theologumenon »ecclesia aeterna« (ewige Kirche), das zum unverzichtbaren Inventar des kirchlichen Dogmas gehört: Die Kirche besteht in Ewigkeit.
Die großen Bekenntnisse, die in die Exegese des Alten Testaments hineinwirken, lauten dann z.B. so: Von Anfang der Schöpfung an existiert Kirche. Die Urväter und Erzväter sind die Prototypen der »ecclesia aeterna«. Israel ist Bestandteil der »ewigen Kirche«. Es ist unschwer zu erkennen, daß mit dem Dogma »ecclesia aeterna« das gesamte Alte Testament mitsamt den Erzvätern, Israeliten und Propheten von der Kirche »vereinnahmt«, in die »ewige Kirche« eingeordnet wird. Dies ist im Verlauf der Kirchen- und Theologiegeschichte oft auf sehr plumpe Weise geschehen, immer aber so, als verstehe es sich von selbst, daß sich in der Geschichte der Offenbarung alles allein um die Kirche dreht.
Auch Calvin konnte sich dem Bann der Idee »ecclesia aeterna« nicht entziehen. Aber er rezipierte diese Idee in einer eigenartigen und differenzierten Weise. Und zwar unter Berufung auf neutestamentliche Texte, über deren sachgemäße Interpretation man streiten könnte. In einer Kombination von Gal 3,24 (»Das Gesetz ist unser Zuchtmeister [Erzieher] auf Christus hin gewesen«) und Eph 4,13 (»bis wir gelangen zur Erkenntnis des Sohnes Gottes, zum vollendeten Mannesalter, zum vollendeten Maß der Fülle Christi«) - in der Kombination dieser beiden Texte entwirft Calvin die Vorstellung vorn Wachstum eines Menschen, der unter Gottes Erziehung heranwächst.
Der heranwachsende und im Neuen Testament ausgereifte Mensch lebt im Alten Testament in der »aetas puerilis«, im knabenhaften, kindlichen Zeitalter. Er bedarf der Erziehung durch die Tora, der - wie der humanistische Begriff heißt - eruditio. Inst II.11.2: »Die Menschen des Alten Bundes haben das gleiche Erbe, das auch für uns bestimmt ist; aber in ihrem Alter waren sie noch nicht fähig, dieses Erbe anzutreten oder zu verwalten. Es war unter ihnen die gleiche Kirche (eadem ecclesia) - aber sie stand noch im Kindesalter. So hat sie der Herr unter dieser Erziehung gehalten, und dabei hat er ihnen die geistlichen Verheißungen nicht bloß und offen gegeben, sondern gewissermaßen unter irdischen Verheißungen verdeckt.«
Nach Calvin ist also die Heilsgeschichte Erziehungsgeschichte, die die Kirche durchläuft. Im Unterschied zur Rede von der familia Dei wird jetzt auf Identität und Kontinuität der Kirche (eadem ecclesia) insistiert. Dabei ist nun freilich für die christliche Kirche die Erziehungsphase des Alten Testaments nicht einfach überwunden; sie muß für die Kirche immer noch wirksam sein zur besseren Erkenntnis Christi, zur immer neuen Heranführung an die messianische Erfüllung. Dies ist der eine, durch das Neue Testament motivierte Argumentationsstrang; der andere rekurriert auf Kol 2,17; Hebr 8,5 und Hebr 10,1. In diesen Texten werden Institutionen des Alten Testaments als skia, als »Schatten« des Zukünftigen bzw. des Himmlischen verstanden.
Unter Anleitung dieser Unterscheidung von eschatologischer bzw. himmlischer Realgestalt und deren vorankündigenden, vorauflaufenden »Schatten« wird das Alte Testament gedeutet. Und es kann nicht übersehen werden, daß Calvin hier platonischen Ideen Einlaß gibt, wenn die neutestamentliche Unterscheidung durch das Schema platonischer Philosophie in ein Urbild-Abbild-Verhältnis gerückt wird. Und immer steht, auch in diesen Variationen, die Idee der »ecclesia aeterna« im Hintergrund. Auf diese Weise wird der Zugang zum Alten Testament reguliert und erleichtert. Es wird eine Aneignung der Texte Israels möglich.
Deutlich unterscheidet sich diese systematisch-dogmatische Kategorisierung von dem humanistisch-historischen Ansatz der Exegese, den ich im 1. Teil schilderte. Aber man wird die Unterschiede nicht dramatisieren und überschätzen dürfen. Denn stets, sowohl in der humanistisch angeleiteten historischen Forschung wie auch auf den Bahnen der Regulierung durch das »Erziehungs«- und »Schatten«-System, fragt Calvin nach dem »Wort Gottes« im Zeugnis der Heiligen Schrift. Er sucht die Anrede Gottes in den alttestamentlichen Texten - des Gottes, der für ihn, den Christen, der »Gott Israels« ist und bleibt: in der Unverwechselbarkeit seines heiligen Namens.
Wir müssen uns heute kritisch von all den Aneignungsregulationen, mit denen die Kirche sich des Alten Testaments zu bemächtigen sucht, distanzieren. Denn es geschieht zumeist nichts anderes als eine oft latente, häufig manifeste »Enterbung Israels«. Wenn in dieser Sache ein zwiespältiger Eindruck bei der Kenntnisnahme der Israel Theologie Calvins entsteht und der Bann der Idee der »ecclesia aeterna« nicht geleugnet werden kann, so sind doch die positiven, für die Begründung eines neuen Verhältnisses von Christen und Juden dominanten Züge unverkennbar. Und dies gilt auch für die Stellung der Kirche zum Alten Testament. Immer wieder kennzeichnet Calvin die Grenze der geschichtlichen und durch Erwählung herausgehobenen Eigenexistenz Israels, der die Kirche gegenübersteht.
Würde man ihn fragen, mit welchem Recht die Kirche sich auf das Alte Testament bezieht, so gilt für ihn nicht nur die messianische Perspektive, sondern - oft betont - der Abraham-Bund, der Anteil am Segen Israels allen Völkern verheißt. Wollte man die Teilhabe der Kirche am Weg Israels, wie Calvin sie in seinen Kommentaren zum Alten Testament praktiziert, genauer beschreiben, dann könnte man Dietrich Bonhoeffer zitieren: »... wir ziehen, uns selbst vergessend und verlierend, mit durch das Rote Meer, durch die Wüste, über den Jordan ins gelobte Land, wir fallen mit Israel in Zweifel und Unglauben und erfahren durch Strafe und Buße wieder Gottes Hilfe und Treue, und das alles ist nicht Träumerei, sondern heilige, göttliche Wirklichkeit« (Gemeinsames Leben, S. 43).
Es geht zunächst um den Sprachgebrauch, um den Kontext der Bezeichnungen. Da ist zu unterscheiden zwischen einem biblischen und einem nachbiblischen Begriff »Juden« in der Theologie Calvins. Als nach der Zerstörung des Nordreichs Israel im Jahr 722 v.Chr. nur noch das Südreich »Juda« existiert, liegt es nahe, die Einwohner dieses Südreichs »Judaei«, »Juden« zu nennen. So verfährt auch Calvin, wobei jedoch die Unterscheidung keine Scheidung vollzieht, sondern in der Bezeichnung »Juden« - »Israel« meint. Dies ist um so bemerkenswerter, als Calvin seine frühmittelalterlichen Lehrer und Gewährsmänner von Raschi bis Ibn Esra auch »Judaei«, »Juden« nennt - ohne eine unterscheidende Erklärung einzufügen. So stehen die biblische und die nachbiblische Bezeichnung oft unvermittelt nebeneinander. Und dies hat natürlich Grund und Voraussetzung in der von mir erwähnten Tatsache, daß der Bund mit Israel ungekündigt ist und, wie dem alttestamentlichen Israel, so auch den in der nachbiblischen Ära lebenden Juden gilt. Sie gehören zusammen, sie sind eine Einheit: Israel und die Juden. Dies ist in der kirchlichen Tradition - ich sagte es schon - ein Novum, ein einsamer Vorstoß mit erheblichen Folgen.
Um das Israel des Alten Testaments, ja überhaupt die hebräische Heilige Schrift zu verstehen, müssen Christen bei den Juden in die Schule gehen. Sie müssen einen umfassenden und tiefreichenden »Sprachunterricht« nehmen. Denn wer anders als der Jude kann Auskunft geben über die Idiome der hebräischen Sprache? Christen sind immer wieder versucht, ihre ethnisch-griechische Begrifflichkeit in die Erklärung des Alten Testaments zu transportieren und sich mit Allegorie und Typologie die fremden Aussagen anzueignen, sie auf ein neutestamentliches »Niveau« emporzuheben. Allen diesen Versuchen und Versuchungen widerspricht Calvin scharf und streng. Unter Berufung auf die hebräischen Lehrer klagt er über den Unverstand der allegorischen Exegese, der auch Luther verfallen war.
Nehmen wir als Beispiel die Überschrift zum 22. Psalm, wörtlich zu übersetzen: »Ein Psalm Davids, vorzusingen nach der Weise »Die Hirschkuh, die früh gejagt wird«. Luther übersetzt »Hände der Morgenröte«. Calvin fragt »die Juden« (ein namentliches Zitieren gab es damals noch nicht), was diese Überschrift wohl bedeutet, und nimmt die Erklärung auf: Es handelt sich um ein profanes Volkslied, ein Jagdlied, das für Ps 22 die »Melodie« angibt. Man muß diese einfache und sachliche Erklärung nun einmal vergleichen mit all dem allegorischen Zauber, den christliche Exegeten in die Überschrift hineingeheimnißt haben, zumal in diesem Psalm das Wort Jesu am Kreuz »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« zu finden ist. Luther nimmt die Erwähnung der »Morgenröte« zum Anlaß, einen heilsgeschichtlichen Sonnenaufgang angekündigt zu sehen. Was der historisch-kritischen Forschung heute kein Problem mehr ist, war zur Zeit der Reformation eine erstaunliche Provokation: der Ausbruch aus einem klerikalisierten Welt- und Sprachverständnis.
Zu seiner Zeit, in der ersten Hälfte des 16. Jh.s, hatte Calvin kaum eine Gelegenheit, Juden zu begegnen. In Genf gab es keinen Judenbezirk, keine Synagoge. Ein Dialog zwischen Kirche und Synagoge, Christen und Juden lag - nach Jahrhunderten währender Trennung - außerhalb der Möglichkeiten. Zeittypisch war vielmehr die Anschuldigung aus der Distanz, wie sie aus Luthers Traktat »Von den Juden und ihren Lügen« (1543) bekannt ist. Um so erstaunlicher ist es, daß sich in der schriftlichen Hinterlassenschaft Calvins, veröffentlicht in CR XXXVII, 653-674, ein Dokument mit folgender Überschrift findet: »Ad quaestiones et objecta Iudaei cuiusdam« (Zu Fragen und Einwänden eines Juden), also ein Dialog des Genfer Reformators mit einem (ungenannten und unbekannten) Juden.
Anders als der berühmte »Dialog mit dem Juden Tryphon« des Apologeten Justin aus dem 2. Jh. n.Chr. führt Calvin nicht einen fiktiven Dialog, in dem es nur darum geht, die Wahrheit des Christentums an einem Zerrbild des Judentums darzutun. Es werden vielmehr theologische Fragen an Calvin gerichtet, die in erster Linie das rechte Verständnis der Auslegung des Alten Testaments und die Messianität Jesu betreffen. [1] Ich kann diesen umfangreichen Dialog jetzt nicht referieren, sondern nur ein paar zusammenfassende Bemerkungen vortragen. Die Fragen des Juden, auf die geantwortet wird, erstrecken sich auf die allgemein bekannten Unterschiede und Konflikte zwischen Juden und Christen. Sie sind offensichtlich von Calvin zusammengestellt worden.
Ich möchte nun zwei positive Kennzeichen dieses Dialogs zuerst benennen: 1. Calvin erweist sich als ein aufmerksamer, aufgeschlossener Zuhörer, der die Pointen der Frage sorgfältig wiederholt, Rückfragen stellt und seinem »Gegenüber« gerecht werden will. 2. Die Fragen werden auf dem gemeinsamen Grund der Hebräischen Bibel ausgetragen, in exegetischen Hinweisen und Erklärungen. Beides ist, auf der Folie traditioneller Verfahrensweise gesehen, ungewöhnlich und eben wohl auch beispielhaft.
Sicher nicht positiv zu bewerten ist die Schlußpassage jeder »Antwort«. Letztlich ist es für Calvin - wie er immer wieder betont - »ein Leichtes«, die in den Fragen des Juden enthaltenen Einwände gegen den Christus-Glauben der Christen zu widerlegen. Calvin will nicht zugestehen, daß der Jude (wie es Bonhoeffer einmal ausgedrückt hat) »die Christusfrage offenhält«. Für ihn ist letztlich doch alles im Kontext des kirchlichen Dogmas abgeschlossen und besiegelt. Auch Calvin weiß sich im Lager der ecclesia triumphans gegenüber den Juden. Ein Exodus aus dieser Position zeichnet sich - bei allen positiven Ansätzen - nicht ab. Auch er behaftet, wie es in der Kirche üblich war, die Juden mehr bei ihren »Übertretungen« - statt nun gerade ihnen gegenüber von der ewigen Bundestreue des Gottes Israels zu reden, wie er es doch in der theologischen Theorie getan hat.
Aber diese Feststellung bedarf nun doch einer in den Bibelauslegungen zu beobachtenden Klärung. Wenn im Alten Testament, vor allem in den prophetischen Anklage- und Gerichtsbotschaften, die Schuld Israels aufgedeckt wird, ja wenn im Neuen Testament von der Schuld der Juden, der Pharisäer und Schriftgelehrten, die Rede ist, dann unternimmt Calvin es nicht, die Schuldaussage für Israel und die Juden festzuschreiben, sie auf Israel und die Juden zu fixieren. Vielmehr erweist er sich darin als Hörer der Anrede des Wortes Gottes im Alten und Neuen Testament, daß er selbst sich in jeder Schuldenthüllung als der Getroffene weiß, daß er die christliche Kirche als die akut Angesprochenen erkennt.
Die apostolische Mahnung »Sei nicht stolz, sondern fürchte dich!« (Röm 11,20) erklärt diese Grundhaltung. Denn dies eine kann man Calvin nicht nachsagen, daß er ein Vertreter jenes kirchlichen Stolzes und Hochmuts dem Judentum gegenüber gewesen sei, wie ihn die Kirchengeschichte allüberall in Erscheinung treten läßt. Tief eingeprägt in die gesamte Theologie Calvins ist das Paulus-Wort: »Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich« (Röm 11,18). Israel ist der Geschichtsgrund der Kirche. Auf diesem Grund erhebt sich das Haus der Kirche. Das tragende Fundament bestimmt bis in die Einzelheiten das ganze Gebäude. Dieser Tatsache entsprechend ist das Neue Testament auszulegen - eben nicht in der ständigen Antithese zum Judentum, wie sie vor allem von Markion und den zahlreichen Markioniten in der Kirche betrieben wurde, sondern in der permanenten Zuwendung zu dem tragenden Geschichtsgrund Israel.
Hier müßte nun eigentlich ein Kapitel »Calvin als Ausleger des Neuen Testaments« folgen, in dem gezeigt werden könnte, wie konsequent Calvin mit allen philologischen und historischen Erkenntnismitteln aufweist, daß Begriffe und Aussagen des Neuen Testaments aus der Wurzel Israel, aus dem Alten Testament hervorgegangen und entsprechend zu erklären sind. Calvin ist in der Neuzeit der erste Repräsentant einer Israel-Theologie der Kirche, wie sie heute von denjenigen erstrebt und verfochten wird, die den Dialog mit den Juden aufgenommen und demgemäß auch die Entwicklung des kirchlichen Dogmas kritisch zu befragen begonnen haben. Ich meine dies im Sinne der These des neuen Buches von Friedrich-Wilhelm Marquardt »Von Elend und Heimsuchung der Theologie«, wo es auf S. 35 heißt: »Grund der Theologie ist die biblisch bezeugte und bis heute sich weiter ereignende Geschichte des Gottes Abrahams, Isaaks, Jakobs und des Vaters Jesu Christi mit dem Volk Israel und allen Völkern um es herum. - Theologie bekennt sich zu ihrem Grund, wenn sie sich zur nachdenkenden Teilnahme an dieser Geschichte bekennt.«
Abschließend aber möchte ich noch einmal zu bedenken geben, welche Konsequenzen die Begegnung und der Dialog zwischen Christen und Juden hat, wenn ausgegangen wird von der Gewißheit, daß der Bund mit Israel unkündbar besteht. »Gottes Gaben und Berufung sind unkündbar«, sagt der Apostel Paulus in Röm 11,29. Israel lebt. Bis auf den heutigen Tag. Diese Tatsache bestimmt die Begegnung mit dem Alten Testament und mit dem Judentum; sie führt die Kirche in Buße und Umkehr, die Theologie in einen bis in die Wurzel des Denkens und Forschens reichenden Umsturz.
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Quelle: Hans-Joachim Kraus, Rückkehr zu Israel. Beiträge zum christlich-jüdischen Dialog, Neukirchen-Vluyn 191, S. 189-199
[1] Anm. der Redaktion reformiert-info: Die Schrift „Zu den Fragen und Einwürfen irgendeines Juden“ (ca. 1563) ist in lateinischer Fassung und deutscher Übersetzung, eingeleitet von Achim Detmers abgedruckt in: Calvin Studienausgabe, Bd. 4: Reformatorische Klärungen, hrsg. von E. Busch, M. Freudenberg, A. Heron, Chr. Link, P. Opitz, E. Saxer, H. Scholl, S. 366-405, Neukirchen-Vluyn 2002. Sehr wahrscheinlich hat Calvin die 23 Fragen eine hebräischen Übersetzung des Matthäusevangeliums, einer Abschrift von Schemtobs „Eben bochan“ entnommen. Calvin spricht in seiner Schrift seine jüdischen Gegner nicht persönlich an, sondern schreibt in der 3. Person über sie. „Calvin wandte sich also nicht an eine jüdische, sondern eindeutig an eine christliche Leserschaft […] Calvin beabsichtigte, Gegenfragen für den christlichen Gebrauch zu formulieren.“ (Ebd. 361)
Prof. Dr. Hans-Joachim Kraus (1918-2000)
Hans-Joachim Kraus, „Israel“ in der Theologie Calvins (1988).pdf