'Das atomare Wettrüsten unterbrechen. Nuklearwaffen ächten und abbauen'

Einführung in das Votum des Friedensausschusses vor der Synode der Evangelisch Reformierten Kirche am 18.11.2021 in Emden


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Von Marco Hofheinz

Hohe Synode, liebe Schwestern und Brüder,

ich freue mich, Ihnen und Euch nun stellvertretend für den Friedensausschuss unserer Landeskirche unser Votum vorstellen zu dürfen: „Das atomare Wettrüsten unterbrechen – Nuklearwaffen ächten und abbauen“. Gerne möchte ich Euch und Ihnen einige Hintergründe erläutern, die ein Verstehen erleichtern.

Unser Votum lag bereits auf der letzten Synode vor. Unmittelbaren Anlass bildete der am 22. Januar 2021 in Kraft getretene Vertrag der Vereinten Nationen über das Verbot von Atomwaffen. Dieser Vertrag ist damit geltendes Völkerrecht geworden. Dort wird ein Verbot von Atomwaffen ausgesprochen. „Der Verbotsvertrag war von 122 UN-Mitgliedsstaaten verabschiedet worden und erhielt 90 Tage nach der Ratifizierung durch den 50. Vertragsstaat seine Gültigkeit.“1 Der Vertrag „verbietet den Einsatz von Atomwaffen ebenso wie dessen Androhung, die Entwicklung, Herstellung, Besitz, Weitergabe, Lagerung und Stationierung. […] UN-Generalsekretär António Guterres bezeichnete das Abkommen als Höhepunkt einer weltweiten Bewegung und als einen wichtigen Schritt hin zu einer Welt ohne nukleare Kriegsgeräte. Das Abkommen war von dem Friedensnetzwerk Ican initiiert worden.“2 Es handelt sich bei dem ratifizierten Vertrag – ich betone es nochmals – um gültiges Völkerrecht.

Wir sind als Friedensausschuss der Meinung, dass dies ein Ereignis von enormer politischer Tragweite und auch theologischer Bedeutung ist. Denn die Rechtsfrage ist keineswegs theologisch belanglos, wie die aktuelle Friedensdenkschrift „Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen“ (2007) bezeichnenderweise unter der Überschrift „Frieden durch Recht“3 herausgearbeitet hat. Der rechtsethische Impuls ist ein besonderes reformiertes Anliegen. Nicht zuletzt hat ihn Johannes Calvin in seinen Deuteronomiumspredigten herausgearbeitet.4 Christian Link summiert Calvins Auffassung: „Das Recht […] ist eine providentielle Gabe Gottes zur Erhaltung der Menschheit und als solche zugleich ein Bollwerk gegen den Zusammenbruch des sozialen Lebens. Es soll die Menschen zum Frieden und zum gerechten Miteinander fähig machen.“5 Ohne das Recht in seiner pazifizierenden Funktion ist politischer Frieden nach Calvin nicht denkbar. Bereits auf der ersten Ökumenischen Vollversammlung in Amsterdam 1948 bekannten die Kirchen aus gutem Grund nicht nur: „Frieden soll nach Gottes willen nicht sein“, sondern auch: „Die Völker der Welt müssen sich zu der Herrschaft des Rechts bekennen.“6 Genau dies tun aber nicht nur nicht die USA und Russland sowie die offiziellen Atommächte China, Frankreich und Großbritannien sowie die inoffiziellen Atomwaffenstaaten Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea in seltener Einigkeit und Geschlossenheit, sondern dies tut auch die Bundesrepublik Deutschland nicht nebst den anderen NATO-Staaten, die im Zuge der Abschreckungsstrategie unter dem nuklearen Schutzschirm der USA stehen.

Wir sind indes der Meinung, dass eine solche Abschreckungsstrategie nicht länger hinnehmbar ist. Die Drohung mit Atomwaffen stellt kein legitimes Mittel der Selbstverteidigung dar. Atomwaffen sind – mit Karl Barth gesprochen – schlicht „Teufelszeug“7. Wir stehen mit diesem Urteil nicht nur in der Tradition des „Neins ohne jedes Ja“ der Erklärung des Moderamens des Reformierten Bundes von 1982,8 sondern wissen uns ganz einig mit der Einschätzung des Rates und der Synode der EKD. Wir sind also keineswegs in den 1980er Jahren stehengeblieben, auch wenn wir aus gegebenem Anlass vor allem auf die Atomwaffenfrage Bezug nehmen. Wir wissen, dass die friedensethischen Herausforderungen heute weitaus mehr umfassen als nur die Atomwaffenfrage, nämlich u.a. Klimawandel, internationalen Terrorismus, militärische Interventionen wie in Afghanistan, hybride Kriege, Kriegsführung im Cyberraum, automatisierte und teilautonome Waffensysteme („Drohnen“) etc. Die EKD-Synode im November 2019 in Dresden hat dies unterstrichen. Fand sich noch in der EKD-Friedensdenkschrift von 2007 eine argumentative Gabelung, in der neben dem Nein zur Nuklearabschreckung ein ebensolches Ja expliziert wurde und nur in der gemeinsamen Ablehnung der Drohung mit Nuklearwaffen ein Konsens artikuliert werden konnte,9 so formulierte nun die 12. Synode der EKD in wünschenswerter Klarheit:

Politisches Ziel bleibt […] ein Global Zero: eine Welt ohne Atomwaffen. Während dieses Ziel breiter Konsens ist, ist der Weg dorthin umstritten. Dennoch erscheint uns heute angesichts einer mangelnden Abrüstung, der Modernisierung und der Verbreitung der Atomwaffen die Einsicht unausweichlich, dass nur die völkerrechtliche Ächtung und das Verbot von Atomwaffen den notwendigen Druck aufbaut, diese Waffen gänzlich aus der Welt zu verbannen. Der Bruch des Budapester Memorandums zu Lasten der Ukraine ist ein massiver Rückschlag im Bemühen um weitere atomare Abrüstung. Die Aufkündigung des INF-Vertrages erhöht noch einmal das Risiko einer nuklearen Aufrüstung. Je länger Atomwaffen produziert, modernisiert, weiterentwickelt und einsatzbereit gehalten werden, desto größer ist die Gefahr, dass es zu einem Einsatz von Atomwaffen oder zu einem katastrophalen Unfall kommt. Es hat sich gezeigt, dass der Atomwaffenbesitz vor Angriffen mit konventionellen Waffen nicht schützt. Dass auch vom deutschen Boden (Büchel) atomare Bedrohung ausgeht, kann uns nicht ruhig lassen. Die Tatsache, dass es noch immer ca. 16.000 Atomsprengköpfe auf der Welt gibt und in den vergangenen Jahren keine Abrüstung im Rahmen des Nichtverbreitungsvertrages gelungen ist, zeigt, dass der Atomwaffenverbotsvertrag überfällig ist, der 2017 aufgrund einer Resolution der UN-Generalversammlung ausgehandelt wurde.
Wir fordern die Bundesregierung auf, konkrete Schritte einzuleiten mit dem Ziel, den Atomwaffenverbotsvertrag zu unterzeichnen. Dies setzt Gespräche und Verhandlungen mit den Partnern in NATO, EU und OSZE voraus:
• über eine Weiterentwicklung des Atomwaffenverbotsvertrages - besonders der Überprüfungsmechanismen,
• über ein weltweites Moratorium der Modernisierung der Atomwaffen,
• über eine Initiative zu negativen Sicherheitsgarantien, d.h. Verpflichtungen der Nuklearwaffenstaaten, keine Nuklearwaffen gegen Nicht-Nuklearwaffenstaaten einzusetzen oder mit ihnen zu drohen,
• über neue Bemühungen für Abrüstung und Rüstungskontrolle.“10

Wir befinden uns im Übrigen auch mit dem Heiligen Stuhl und Papst Franziskus in Übereinstimmung, der zu Recht im November 2018 festgestellt hat, dass die Strategie der atomaren Abschreckung ethisch nicht länger verantwortet werden kann und die Atomwaffen völkerrechtlich geächtet werden müssen.11 Der Hauptgrund liegt schlicht in dem moralischen Dilemma, zum Zweck der Abschreckung glaubwürdig mit einem Einsatz drohen zu müssen, der sich moralisch nicht rechtfertigen lässt, nämlich dem Einsatz von Atomwaffen.12 Aus diesem Dilemma kommt man nicht heraus – trotz hehrer Intentionen, die man bei unserer Regierung und unseren Militärs ja gar nicht in Abrede stellen muss, kann oder soll. Das ändert aber nichts daran: Der Grundwiderspruch, die Aporie bleibt bei einem Ja zur Abschreckungsstrategie bestehen und besagt, um es nochmals auf den Punkt zu bringen, dass die Abschreckung mit Atomwaffen nur dann glaubwürdig ist, wenn die Bereitschaft zum Einsatz besteht. Dass exakt diese Bereitschaft besteht, hat die Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer in ihrem Interview im Deutschlandfunk am 21. Oktober 2021 unterstrichen: „Wir müssen Russland gegenüber sehr deutlich machen, dass wir am Ende – und das ist ja auch die Abschreckungsdoktrin – bereit sind, auch solche Mittel einzusetzen, damit es vorher abschreckend wirkt und niemand auf die Idee kommt, etwa die Räume über dem Baltikum oder im Schwarzmeer NATO-Partner anzugreifen. Das ist der Kerngedanke der NATO, dieses Bündnisses“.13

Dieser unaufhebbare Grundwiderspruch, diese Aporie – man droht mit dem Einsatz solcher Mittel, die sich moralisch nicht rechtfertigen lassen – muss benannt werden und dies tun wir in unserem Votum. Neu ist diese Benennung freilich nicht. Neu ist aber der rechtliche Kontext, in dem diese Benennung erfolgt, nämlich die veränderte völkerrechtliche Lage. Die ethische Disqualifizierung der Atomwaffen hat nämlich seit dem 22. Januar 2021 (völker-)rechtliche Abbildung gefunden. Und das, liebe Schwestern und Brüder, das können wir als Kirche nicht ignorieren! „Die Völker der Welt müssen sich zur Herrschaft des Rechts bekennen.“ Das schließt ein, dass wir mit der EKD Abschied nehmen müssen von den Heidelberger Thesen,14 die noch davon ausgingen, dass die Friedenssicherung mit Atomwaffen „eine heute noch mögliche christliche Handlungsweise“ sei. Nein sagen müssen wir auch zu der damaligen These: „Für den Soldaten einer atomaren bewaffneten Armee gilt: Wer A gesagt hat, muss damit rechnen, auch B sagen zu müssen: aber wehe den Leichtfertigen!“ Diese Automatik, wer A sagt, muss auch B sagen, darf es indes nicht geben.15 Der Soldat muss vielmehr den Befehl zur Zündung der Atombombe verweigern, denn er ist schlicht völkerrechtswidrig.

Nun mag es einige geben, die sagen: „Momentan mal! Überhebt euch nicht, wenn ihr meint, als Kirche Politik machen zu müssen. Ihr überblickt nicht die politischen Konsequenzen und die Tragweite eurer Appelle und Forderungen. Ihr seht nicht die militärstrategischen Strukturen und geopolitischen Sachzusammenhänge.“

Ja, liebe Schwestern und Brüder, an diesem Einwand ist durchaus etwas dran: Die Rolle der Kirche ist eine andere als die des Staates. Gewiss darf die Kirche-Staat-Differenz nicht abgeschliffen werden. Aber die Kirche darf diesen Waffen, die mit dem Glauben unvereinbar sind, um ihres Glaubens willen keine Legitimität zubilligen. Und dass der Einsatz dieser Waffen, der alles Leben auf Erden zerstört, in einem grundlegenden Widerspruch zu dem Willen des Gottes steht, der uns – wie Johannes Calvin sagt – dazu geschaffen hat, friedlich miteinander zu leben,16 das bedarf wohl keiner weiteren Demonstration. Dass darüber hinaus aber auch die ausgesprochene und unausgesprochene Drohung mit solchen Waffen ethisch nicht zu rechtfertigen ist, wurde bereits betont. Die Wahrhaftigkeit des christlichen Zeugnisses und damit das christliche Zeugnis selbst wird durch die Strategie der Abschreckung untergraben, weil diese nur dann funktioniert, wenn man mit etwas droht, zu dessen Einsatz man auch bereit ist. Die Glaubwürdigkeit der Abschreckung widerspricht mit anderen Worten der Glaubwürdigkeit des christlichen Zeugnisses. Aus der Aporie der Abschreckungsstrategie resultiert die Inkohärenz eines Friedenszeugnisses, das sich ihrer bedient: „Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel“ (Mt 5,37), sagt der Bergprediger und er betont damit die Notwendigkeit jener Kohärenz des christlichen Zeugnisses, die sich mit dem schönen Ausdruck der „Wahrhaftigkeit“ umschreiben lässt. Zudem: „Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem“ (Röm 12,21; vgl. Mt 5,39), sagt Paulus und er verwirft damit die Wahl böser Mittel, um Gutes zu bewirken. Atomwaffen aber sind zweifellos böse Mittel.

Wenn der Friedensausschuss dies indes in seinem Votum betont, so hat dies nichts mit politischer Blauäugigkeit und/oder Humanitätsduselei zu tun, sondern schlicht der Überzeugung, dass Politik – wie Hannah Arendt betont – initiiert werden muss.17 Die Kirche ist gewiss nicht der Staat, und eine Synode gewiss kein Parlament, und doch bewegt sich Kirche im Raum der Gesellschaft. Sie ist, ob sie will oder nicht, ein zivilgesellschaftlicher Player, eine „intermediäre Institution“ wie Wolfgang Huber sagt,18 von der man zu Recht erwarten kann, dass sie nicht trotz, sondern gerade aufgrund ihrer Evangeliumsbindung Impulse in die Gesellschaft hinein gibt. Diese sind freilich, und das ist der Anspruch an dem man sie bemessen kann und soll, auf ihren Glauben hin transparent zu machen und an ihrer Evangeliumsbindung zu messen. Dem gilt es zu genügen. Der Friedensausschuss unserer Landeskirche hat sich bemüht, dem Rechnung zu tragen, indem er zweierlei geleistet hat. Er hat erstens bereits vor fünf Jahren, im Herbst 2016, als ich schon einmal an dieser Stelle stand,19 ein umfangreiches Grundlagenpapier zur friedensethischen Urteilsbildung vorgelegt und er versucht nun zweitens, auf der Grundlage dieses Papieres konkrete Konsequenzen zu benennen.

Dazu sind Zuspitzungen nötig, allzumal in einem Kontext und einer Gegenwart, die uns die Déjà-vu-Erfahrung bescheren, dass Atomwaffen nicht reduziert, sondern modernisiert werden. Der aktuelle Befund besagt: Wir befinden uns in seiner Aufrüstungs- statt Abrüstungsspirale. Hier können und dürfen wir nicht einfach zuschauen. „Nach den jüngsten Zahlen des Friedensforschungsinstituts Sipri verfügen die USA über 5.550 Sprengköpfe, von denen 1.800 einsatzfähig gehalten werden. Russland kommt auf 6.255, davon 1.625 abschussbereit. Zusammen sind das 90 Prozent aller Atomwaffen.“20 Die Sprengköpfe und Trägersysteme und auch die Zahl der einsatzbereiten Bomben sind um je 50 erhöht worden.21 Zwar haben wenige Tage nach Bidens Amtsantritt die USA und Russland das New-Start-Abkommen zur Begrenzung der strategischen Atomwaffen und ihrer Trägersysteme bis 2026 verlängert. „Sie verhinderten damit den kompletten Zusammenbruch der Rüstungskontrolle.“22 Doch man sollte sich nichts vormachen: „Die Verlängerung von New Start ist […] kein Neustart. Vor allem ein neuer INF-Vertrag über Mittelstreckenraketen würde das Leben in Europa sicherer machen.“23 Der Gesamtbefund ist mehr als ernüchternd: „[D]ie über Jahrzehnte aufgebaute Architektur von Verträgen [liegt] in Trümmern, die seit den Hochzeiten des Kalten Krieges eine drastische Reduzierung der strategischen Atomwaffen bewirkt hat und das Risiko eines Krieges mindern sollte.“24 Und die Aussicht, dass die Systemrivalitäten nach den Zeiten der Blockkonfrontation in einer multipolaren Welt mit einem neuen „big player“ wie China zunehmen, stimmt nicht gerade zuversichtlich – um es noch einigermaßen euphemistisch auszudrücken.25 Angesichts der unabsehbaren Folgen einer schwer zu leugnenden Krise der regelbasierten multilateralen Weltordnung steigt die Notwendigkeit, die Atomwaffen zu vernichten, d.h. die Notwendigkeit eines Global Zero.

Die politischen Argumente des Abschieds von den Atomwaffen liegen auf der Hand. Sie bestehen: 1. in der Unkalkulierbarkeit des Umgangs mit Atomwaffen, 2. in der Irrationalität staatlicher Führungsfiguren und 3. in der Zunahme der Atomwaffenmächte als Steigerung des atomaren Gefahrenpotentials. Zu den einzelnen Punkten:

  1. Die Unkalkulierbarkeit des Umgangs mit Atomwaffen

Man denke nur an mögliche Fehler in der Alarmkette; der Fall des Stanislaw J. Petrow darf hier in Erinnerung gerufen werden:

Er „betrifft den 26. September 1983, in der Nähe von Moskau. Der Oberstleutnant der Sowjetischen Luftwaffe, Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow, tut seinen Dienst im Serpuchov-15-Bunker. Seine Aufgabe: die Überwachung des sowjetischen Luftraums per Satellit und Computer. Plötzlich meldet sein Rechner fünf auf die Sowjetunion anfliegende Atomraketen. Stanislaw J. Petrow gerät unter einen ganz unglaublichen Druck, denn eigentlich müsste er die Information sofort weiterleiten, damit unverzüglich die Vorbereitungen für einen raschen Gegenschlag anlaufen und der Gegenangriff mit den sowjetischen Raketen gerichtet auf Westeuropa, besonders auf die BRD. Hätte er getan, was ihm befohlen war, wäre der atomare Krieg zwischen Ost und West ausgebrochen. Wir säßen hier nicht. Aber Stanislaw J. Petrow entscheidet sich dafür, das Ganze für einen Fehlalarm zu halten und einen amerikanischen Angriff mit ‚nur‘ fünf Raketen für unwahrscheinlich anzusehen. Er hat damit unzweifelhaft die Welt vor einem Atomkrieg aus Versehen gerettet. […]Seit seinem eigenmächtigen Handeln galt Stanislaw J. Petrow den Militärs nicht mehr als zuverlässiger Offizier. Seine bis dahin ungebrochen verlaufene Karriere endete abrupt. Auch einzelne, unbekannt gebliebene Ehrungen im Westen konnten nicht mehr verhindern, dass er zu einem gebrochenen Mann wurde, der heute verarmt und alkoholkrank in der Nähe von Moskau lebt.“26


 

  1. Die Irrationalität staatlicher Führungsfiguren

Man denke nur an die Trumps und Kim-Jong Un dieser Erde. Ich weiß nicht, wie es Euch geht, liebe Schwestern und Brüder, aber uns treibt es noch nachträglich einen kalten Schauer über den Rücken, vier Jahre lang „ausgerechnet den Finger Trumps in der Nähe des Atomknopfes zu wissen“.27 Braucht die Menschheit diesen „Kick“ noch ein zweites, drittes oder gar viertes Mal? Steigt das Risiko des „Over Kills“ nach allen Gesetzmäßigkeiten der Stochastik nicht mit jedem Trump und jedem Kim-Jong Un? Wenn die HAZ vorgestern titelte: „Kommt Trump zurück?“28 – dann ist das wahrlich keine Aussicht, die uns in dieser Hinsicht beschwichtigt.


 

  1. Die Zunahme der Atomwaffenmächte als Steigerung des atomaren Gefahrenpotentials

Der Journalist Hubert Wetzel schrieb vor einem Jahr zum 75. Jahrestag des Atombombenabwurfs auf Hiroshima und Nagasaki: „Dass die Menschheit in den vergangenen 75 Jahren einem Atomkrieg entgangen ist, bedeutet […] nicht, dass das auch in den kommenden 75 Jahren so sein wird. Washington und Moskau haben in den vergangenen Jahrzehnten zwar Tausende Atomwaffen verschrottet. Aber die vertragliche Rüstungskontrolle zwischen beiden Ländern zerbröckelt langsam. Abkommen mit Kürzeln wie ABM, INF oder START, die zumeist nur Fachleuchte kennen, die aber trotzdem überlebenswichtig waren, wurden gekündigt oder stehen auf der Kippe. Denn warum soll sich der Rest der Welt bei der Atomrüstung an Regeln und Beschränkungen halten, wenn auch die beiden größten Nuklearstaaten das nicht tun? Noch beunruhigender ist, dass immer mehr Länder Nuklearwaffen haben oder danach streben. Der Traum von einer atomwaffenfreien Welt, den der damalige US-Präsident Barack Obama 2009 in einer Rede in Prag beschwor, hat sich als genau das herausgestellt – als Traum. Die Realität ist finster: Überall wird gerüstet. Die alten Atommächte, Amerika und Russland, modernisieren ihre Arsenale. Die jüngeren, darunter China und Nordkorea, vergrößern ihre. Iran schleicht wieder auf die Bombe zu, mit unabsehbaren Folgen für den Nahen Osten.“29

Und nun könnten einige Kritiker*innen unseres Votums angesichts dieser „finsteren Realität“ hingehen und sagen: „Ja, irgendwie habt ihr schon Recht. Aber das, was ihr da fordert, ist unrealistisch. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Die ‚Abschreckung nuklearer Bedrohung durch nukleare Bewaffnung gehört zum Daseinskern der westlichen Allianz. Dazu hat sich bislang noch jede […] Bundesregierung bekannt.‘30 Wollt ihr etwa aus der NATO austreten?“ Dazu dreierlei:

1. Um einen NATO-Austritt geht es uns keineswegs. Man sollte nicht verkennen, dass es auch NATO-Staaten gibt, die eben nicht unter dem nuklearen Abwehrschirm der USA stehen, wie Spanien, Island, Dänemark, Norwegen und eine ganze Reihe weiterer NATO-Staaten.

2. Ganz so unrealistisch und politikfern wie uns mit diesem möglichen Einwand unterstellt wird, fällt unser Votum keineswegs aus. Es sei daran erinnert: Vor zwölf Jahren „hat der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier einen Wunsch geäußert, der sich bis heute [leider] nicht erfüllt hat. Steinmeier, seinerzeit Kanzlerkandidat, formulierte auf der Münchener Sicherheitskonferenz die ‚Erwartung‘, dass die in Deutschland gelagerten Atomwaffen in die USA zurückgebracht würden. Der damalige FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle ging im Wahlkampf noch weiter und versprach, sich aktiv für den Abzug von Atombomben einzusetzen. Zu Beginn seiner Amtszeit als Außenminister startete er tatsächlich eine Initiative mit diesem Zweck. Sie verlief allerdings im Sand, wiewohl US-Präsident Barack Obama sich 2009 zur moralischen Verantwortung für das Streben nach einer atomwaffenfreien Welt bekannte.“31 Unsere Forderung nach dem Ende der deutschen „nuklearen Teilhabe“ steht also durchaus in einer veritablen politischen Tradition und ist keineswegs so politikfern, wie der Einwand suggeriert.

Und schließlich 3. noch etwas Grundsätzliches: Selbst wenn das, was wir in unserem Votum zur Sprache bringen, „Träumerei“ sein sollte, dann ist sie dennoch keineswegs entbehrlich. Denn nochmals: Politik muss initiiert werden. Es sind unsere Träume, die sie beflügeln. „Ein Volk ohne Visionen geht zugrunde“, heißt es in den Sprüchen Salomos (29,18).32 Und, liebe Schwestern und Brüder, welcher Traum könnte schöner und politisch stimulierender sein als der alte Traum des Propheten Jesaja von der Verschrottung der Waffen (Jes 2,2–5; Mi 4,1–5). Die Völker wallfahrten zum Zion, dem Tempelberg Gottes, und Gott wird zwischen ihnen schlichten (Jes 2,4), indem er Recht („Völkerrecht“) spricht. Daraufhin geschieht die berühmte Umformung der Schwerter zu Pflugscharen. Hier wird gleichsam – mit Rainer Albertz gesprochen – Gottes „himmlische UNO“33 projektiert, eine Welt, in der die Völker ihre Konflikte friedlich beilegen.34 Was für ein Traum, hohe Synode, ein regelrechter Menschheitstraum! Er verweist uns auf das Recht – das Recht für alle Völker. Am 22. Januar 2021 wurde der Vertrag der Vereinten Nationen über das Verbot von Atomwaffen geltendes Völkerrecht. Anlass genug für ein kräftiges, eindeutiges Votum unserer Kirche: „Die Völker der Welt müssen sich zur Herrschaft des Rechts bekennen.“

Ich danke für Ihre/Eure Aufmerksamkeit.

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1 Paul-Anton Krüger, Biden will New Start verlängern, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 18 vom 23./24. Januar 2021, 9.

2 Ebd.

3 Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2007, 57–79 (Kap. 3).

4 Vgl. Eberhard Busch u.a. (Hg.), Calvin-Studienausgabe Bd. 7: Predigten über das Deuteronomium und den 1. Timotheusbrief (1555/1956). Eine Auswahl (= CStA 7), Neukirchen-Vluyn 2009.

5 A.a.O., 98.

6 Zit. nach Wilfried Härle, Ethik, Berlin / Boston 22018, 369f.

7 Karl Barth, Aber seid getrost! Predigt zu Joh16,33, in: ders., Predigten 1954 – 1967, hg. von Hinrich Stoevesandt, Karl Barth GA I/ 12, Zürich 21981, (242–251) 246.

8 Vgl. Das Bekenntnis zu Jesus Christus und die Friedensverantwortung der Kirche. Eine Erklärung des Reformierten Bundes mit erweitertem Anhang, Gütersloh 21983, 16.

9 Vgl. die in Ziffer 162 versus Ziffer 164 dargestellten Argumentationen in: Aus Gottes Frieden leben, 103f.

11 Die Ächtung der Atomwaffen als Beginn nuklearer Abrüstung. Ein Positionspapier der Deutschen Kommission Justitia et Pax, Schriftenreihe Gerechtigkeit und Frieden 137, Berlin 2019, 15.

12 Vgl. a.a.O., 10; 19.

14 Zum Hintergrund der Heidelberger Thesen vgl. Hans-Richard Reuter, Zum ethischen Problem nuklearer Abschreckung heute. Aktuelle Relektüre der „Heidelberger Thesen“ von 1959, in: ders., Recht und Frieden. Beiträge zur politischen Ethik, ÖTh 28, Leipzig 2013, 122–134; Ulrich Möller, Im Prozeß des Bekennens. Brennpunkte der kirchlichen Atomwaffendiskussion im deutschen Protestantismus 1957–1962, NBST 24, Neukirchen-Vluyn 1999, bes. 186–250.

15 So bereits Helmut Gollwitzer, Das Ergebnis der bisherigen Beratungen, in: Günter Howe (Hg.), Atomzeitalter – Krieg und Frieden, Witten / Berlin 31962, (247–267) 264.

16 Johannes Calvin, Predigt zu Dtn 5,17, in: CStA 7,40,33f. – CO 26,325. Dazu: Marco Hofheinz, Johannes Calvins theologische Friedensethik, ThFr 41, Stuttgart 2012, 218.

17 Hannah Arendt, Macht und Gewalt. Aus dem Englischen von Gisela Uellenberg, München / Zürich 142000, 81. Vgl. Hans G. Ulrich, Frieden als Thema einer Ethik de Politischen aus theologischer Sicht, in: RPI Loccum (Hg.), Frieden als Thema in Elternhaus, Schule, Kirche und Bundeswehr, Loccum 1988, (67–83) 75–77.

18 Vgl. Wolfgang Huber, Kirche in der Zeitenwende. Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung der Kirche, Gütersloh 1998, 267–282.

19 Vgl. Marco Hofheinz, Theologische Vergewisserung für eine friedenspolitische Orientierung. Sechs Fragenkaskaden anhand eines Diskussionspapiers des Friedensausschusses der Evangelisch-reformierten Kirche, http://www.reformiert-info.de/16641-0-8-14.html

20 Paul-Anton Krüger, Wie hältst du es mit der Bombe? In: Süddeutsche Zeitung Nr. 134 vom 15. Juni 2021, 7.

21 Vgl. ebd.

22 Ebd.

23 Frank Nienhuysen, Wertvolle Zeit, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 22 vom 28. Januar 2021, 4.

24 P.-A. Krüger, Wie hältst di es mit der Bombe, 7.

25 Auch der Blick in unser eigenes Land sollte nicht verklärt ausfallen: Zu Recht haben die Kirchen der Bundesregierung „Verstöße gegen ihre eigenen Regeln für Rüstungsexporte vor[geworfen]“ (Kirche rügen Waffenexporte, Süddeutsche Zeitung Nr. 293 vom 18. Dezember 2020, 7 [dpa]). Es ist von einer „wachsenden Kluft zwischen restriktiver Rhetorik und einer alles andere als restriktiven Praxis“ (ebd.) bei der Genehmigung von Waffenlieferungen vor allem an Staaten außerhalb von NATO und EU die Rede. Der neue Rekordwert der Genehmigung von 8,02 Milliarden Euro für Rüstungsexporte spricht für sich. Vgl. ebd.

26 Rolf Wischnath, Bekennen in der Friedensfrage. Eine Erinnerung an die Reformierte Friedenserklärung 1982, in: Maren Bienert / Marco Hofheinz / Carsten Jochum-Bortfeld (Hg.), Neuere reformierte Bekenntnisse im Fokus. Studien zu ihrer Entstehung und Geltung, reformiert! Bd. 2, Zürich 2017, (221–236) 229f.

27 Daniel Brössler, Falsche Hoffnung, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 103 vom 5. Mai 2020, 4.

28 HAZ Nr. 268 vom 16.11.2021, 1.

29 Hubert Wetzel, Der Schrecken bleibt, Süddeutsche Zeitung Nr. 180 vom 6. August 2020, 4.

30 D. Brössler, Falsche Hoffnung, 4.

31 Ebd.

32 Vgl. Okko Herlyn, „Wenn hinterm Mond ein Stern zerplatzt ist…“ Einstige Visionen und spätere Desillusionierungen eines gesellschaftlichen Aufbruchs, RKZ 10/1998, 419–423.

33 Rainer Albertz, Eine himmlische UNO. Religiös fundierte Friedensvermittlung nach Jes 2,2–5, in: Gerd Althoff (Hg.), Frieden stiften. Vermittlung und Konfliktlösung vom Mittelalter bis heute, Darmstadt 2011, (37–56) 41f.: „[I]n einer fernen Zukunft [wird] der Zion, der Jerusalemer Tempelberg, zum höchsten Berg der Region erhöht werden. Dann werden alle Völker zu diesem weithin sichtbaren Markierungspunkt der Welt herbeiströmen, um sich dort ihre Konflikte schlichten zu lassen. Und dabei üben die konfliktschlichtenden Weisungen des dort anwesenden Gottes eine solche Attraktivität aus, dass die Völker freiwillig kommen und die göttlichen Schiedssprüche wie selbstverständlich akzeptieren. Darum werden sie – nach Hause zurückgekehrt – selber ihre überflüssig gewordenen Waffen zerstören und die in ihnen gebundenen Rohstoffe in nützlicheres Ackergerät umwandeln. So wird die kriegerische Austragung der Konflikte aufhören und das Kriegshandwerk vergessen werden wie andere überflüssig gewordene Kulturtechniken auch. Der Text handelt also in der Tat von einer wunderbaren göttlichen Friedensvermittlung, einer Art himmlischer UNO in Jerusalem, die mit ihrer gelingenden Mediation alle Schwierigkeiten und Misserfolge unserer irdischen UNO weit hinter sich lässt.“

34 Vgl. dazu Marco Hofheinz, Visionär oder Relikt der Vergangenheit?, in: ders. / Cornelia Johnsdorf (Hg.), The Grand International Challenges. Theologisch-ethische Perspektiven, Stuttgart 2021, 101–119.