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Den Armen wird das Evangelium verkündigt
Predigt über Matthäus 11, 2-6 von Gudrun Kuhn, Nürnberg
2 Als Johannes nun im Gefängnis von den Taten des Christus hörte, sandte er seine Jünger zu ihm 3 und ließ ihn fragen: Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten? 4 Jesus antwortete ihnen: Geht und erzählt Johannes, was ihr hört und seht: 5 Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, und Tote werden auferweckt, und Armen wird das Evangelium verkündig.; 6 Und selig ist, wer an mir keinen Anstoß nimmt. (Matth. 11, 2-6)
Sie kennen vielleicht auch den schönen Chorsatz von Johannes Eccard: „Übers Gebirg Maria geht zu ihrer Bas‘ Elisabeth“. Auf jeden Fall kennen sie die entsprechende Szene aus dem Lukasevangelium: Die beiden Frauen sind guter Hoffnung. Und als die Mutter des künftigen Propheten Johannes Maria begrüßt: „hüpft(e) das Kind in ihrem Leibe“. Eine liebenswerte Geschichte. Aber wie kommt sie überhaupt in die Bibel?
Sie gehört in eine ganze Kette von Johannes–Jesus–Erzählungen, die alle die gleiche Tendenz haben: Elisabeth begrüßt Maria mit den Worten: „Wer bin ich, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt?“ (Lukas 1, 34) Und Johannes sagt über Jesus: „... ich bin es nicht wert, mich zu bücken, um ihm die Schuhe aufzuschnüren.“ (Mark. 1,7; cf. Matth. 3, 11; Joh. 1,27) Starke Demutsgesten. Warum waren sie den Evangelisten wichtig?
Unschwer ist zu erkennen, dass die frühen Christen sich in einer Konkurrenzsituation befanden. Vom Kreis der Johannesjünger wird ihnen der Rang Jesu streitig gemacht. Und das mit propagandistisch harten Mitteln. Im Gegensatz zu Johannes, dem „Rufer in der Wüste“, der sich ja – wie wir alle wissen – von Heuschrecken ernährt hat, nennt man Jesus einen „Fresser und Säufer“, einen „Freund der Zöllner und Sünder“. So nachzulesen wenige Verse nach unserem Predigttext (Matth. 11,19). Es gab offensichtlich für asketisch orientierte religiöse Menschen durchaus einen Grund, an Jesus „Anstoß“ zu nehmen (6).
Die Rechtfertigung muss mit großem Aufwand betrieben werden. Beweise für die Hoheit Jesu sind gefordert. Und welcher Beweis kann unumstößlicher sein als einer aus der Schrift, aus den Verkündigungen der Propheten über das Zeitalter des Messias.
Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. Dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch, und die Zunge der Stummen wird frohlocken. (Jes. 35, 5f.)
Der Geist des HERRN ist auf ihm, dem Gesalbten, dem Christus, und er ist gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen. (Jes. 61, 1)
Ich lese diese vertrauten Stellen bei Jesaja. Die neutestamentliche Tradition bezieht solche Prophetenworte zuversichtlich auf ihren Herrn, bei der Schilderung von Jesu Taufe bereits und jetzt – vor dem Tod des Johannes – noch einmal. Und ich stehe dankbar in dieser Tradition.
Aber da gibt es auch ein gewisses Unbehagen. Erst in jüngster Zeit habe ich wieder Berichte über die Verfolgung der Mandäer im Irak und Iran gelesen, einer Religionsgemeinschaft, die sich auf den Kreis der Johannesjünger zurückführt. Es gibt auch Asylanten aus dieser Gemeinschaft in unserer Stadt. Und ich kann das Unrecht, das heute noch geschieht, nicht abtun mit dem Hinweis darauf, dass es eben die real existierenden islamischen Staaten sind, die Intoleranz üben. Auch unsere christliche Geschichte kann sich davon nicht freisprechen.
Wer ist größer? So rechten die Johannes- und Jesus-Jünger miteinander. Ja, wer ist der Kleinste und wer wird der Größte sein im Himmelreich? (11f.). So geht der Streit.
Dabei kann man mitten in dieser Überbietungsrhetorik eine große Nähe zwischen beiden finden, dem Mann in der Wüste und dem Mann aus Nazareth, grausam zum Gespött der Leute gemacht und hingerichtet der eine wie der andere.
Die Beweiskette des Evangelisten ist klar: Johannes hat Jesus den Weg bereitet, darum hat es „keinen größeren Menschen gegeben“ als ihn. Danach aber kam die Zeit der „Zeichen und Wunder“, die Jesus als Messias ausgewiesen haben, „wie es durch den Mund der Propheten angekündigt war.“
Nun: einige dieser „Zeichen und Wunder“ sind zur Zeit Jesu so aufsehenerregend auch wieder nicht. Sie erzählen von Jesu Wirken als Heiler und von Auferweckungen. Aber wenn man die zeitgenössischen Berichte über Männer, die als Messias gefeiert wurden, nachliest, dann ist das gerade mal das Mindeste, was man dafür vorweisen muss. Selbst von Kaiser Vespasian in Rom werden Heilungswunder berichtet.
Das Andere freilich findet sich nicht in dessen Biografie – das Andere, das Wesentliche: Den Armen wird das Evangelium verkündet. Weiß Gott keine Kleinigkeit … Gerechtigkeit für die Armen im „nahe herbeigekommenen Himmelreich“ (Matth. 3,2), wie Johannes es verkündet hatte. Keine Kleinigkeit, Gott weiß es. Eher möchte man erwarten, dass Lahme gehen und Blinde sehen, ja gar Tote auferweckt werden, als dass das Wirklichkeit wird: Gerechtigkeit für die Armen.
Johannes kannte solche Verheißungen der Väter. Und er kannte seine Mitmenschen, ein „Otterngezücht“, wie er sie tituliert. Trotzdem kamen sie und ließen sich taufen, tauchten ein in das Reinigungsritual als ernsthaftes Zeichen ihrer Reue und Umkehr.
Und dann? Wie sah es danach aus mit der Gerechtigkeit für die Armen? Weiterhin denkbar schlecht. Wie könnte sonst Jesus bei Matthäus (11,12) urteilen, dass „seit den Tagen Johannes’ des Täufers bis heute dem Gottesreich Gewalt angetan“ wird. Bis heute? Bis heute!
Den Armen wird das Evangelium verkündet. Ich bin nicht arm. Und während ich mich über den pensionierten Tatort-Kommissar amüsiere, der Herrn Ackermann verhaften möchte, habe ich vielleicht gar kein Recht zum Lachen. Ich fürchte, dieses Gefängnis hat viele Zellen. Auch für kleinere Sünder.
Der Uno-Generalsekretär hat es uns vorgerechnet, wie viele Kinder vor dem Hungertod gerettet werden könnten für die Milliarden, mit denen jetzt ein marodes, vernunft-und moralloses Bank- und Wirtschaftssystem stabilisiert wird. Und wir stecken alle irgendwie mit darin. Fast alle.
Die Armen, das sind im griechischen Urtext die Bettler. Die Notleidenden. Dieses Wort habe ich zuletzt an der Videowand meiner U-Bahn-Haltestelle gelesen: Als notleidend wird dort die Handy-Branche bezeichnet. Die Autoindustrie ist notleidend. Und am allernotleidendsten ist das Bankwesen.
Die Menschen erscheinen in den Statistiken allenfalls als Kostenfaktor für notwendige staatliche Zuwendungen. Verloren gegeben sind längst die Armen. Die Armen in unserem Land. Und erst recht die Ärmsten der Armen in aller Welt. Viel Grund gäbe es also auch für uns, zu Johannes an den Jordan zu ziehen und uns rein waschen zu lassen.
Und dann? Wie sähe es danach aus mit der Gerechtigkeit für die Armen? Haben nicht alle die Recht, die uns vorwerfen, dass 2000 Jahre Christentum die Welt um keinen Deut gerechter gemacht haben?
In der Frühzeit gab es immer wieder Neu-Christen, die diesem Dilemma zwischen Bekehrung und Rückfall in den alten Trott auszuweichen versuchten. Sie zögerten die Taufe möglichst bis zum Totenbett hinaus, bis zu dem Moment, da sie so gebrechlich waren, dass sie ohnehin nicht mehr sündigen konnten. Und die Religionsgemeinschaft der Mandäer wiederholt jeden Sonntag für alle das Taufritual.
Und wir? Wie können wir mit unseren eigenen Widersprüchlichkeiten leben? Da gibt es die Tage der Verdrängungskunst. Solange man „keine Zeitungen hält, Ist die Welt noch in Ordnung“. (Sarah Kirsch)
Da gibt es die Tage der Selbstrechtfertigung. Man ist doch nicht für die Misere verantwortlich. Und schließlich hat man nicht wenig überwiesen auf das Konto von Brot für die Welt.
Da gibt es die Tage der Verzweiflung, wenn die eigenen Ängste und Nöte jeden Gedanken an andere ohnehin unmöglich machen.
Da gibt es die Tage der Selbstgerechtigkeit. Wie kann das nur passieren, dass jemand Geld veruntreut und krumme Bankgeschäfte betreibt?
Da gibt es die Tage der Verteidigung. Warum sollte gerade ich eine zweite Mutter Theresa werden!
Da gibt es die Tage des Selbstmitleids. Wer hilft eigentlich mir?
Da gibt es die Tage des Zynismus. Hat man es nicht schon immer gewusst, dass der Kapitalismus irgendwann an seinen eigenen Widersprüchen zugrunde gehen wird?
Da gibt es die Tage der Gleichgültigkeit.
Und die Tage der Flucht in den sinnlosen Konsum.
Und die Tage der Zukunftsangst.
Und die Tage der Scham.
Und die Tage der Auflehnung gegen Gott, wie sie Kurt Marti formuliert hat:
DU [GOTT]
der den triumphen
des bösen
über das gute
so häufig
zu häufig
untätig zuschaut
uns aber vorhält
dass wir es sind
die den triumphen
des bösen
so häufig
zu häufig
untätig zuschauen[1]
Und mitten in diesem heillosen Durcheinander von Schuld und Unterlassungen, von Überforderung und Resignation, von Klage und Anklage – haben wir alle Jahre wieder die geradezu unverschämte Gelassenheit Weihnachten feiern zu wollen.
Weihnachten, das Fest, in dem es – entgegen anders lautenden Meldungen – nicht um die Familie und auch nicht irgendwie um Liebe und so geht, sondern – um das ganz Andere, das Wesentliche:
Den Armen wird das Evangelium verkündet.
Den Armen wurde das Evangelium verkündet.
Den Armen wird das Evangelium verkündet werden.
Ist es dieser Spannungsbogen zwischen Vergangenheit und Zukunft, der unseren Widerspruchsgeist gegen Resignation und Gleichgültigkeit wach hält, der uns hier versammelt unter dem alten Wort, der uns den Mut gibt, doch immer wieder den Kopf zu heben und nach vorne zu schauen? Nach vorne, indem wir zurückschauen.
Versuchen wir uns doch hineinzuversetzen in die Situation der Evangelisten. Sie ist so viel anders auch nicht als die unsere. Sie erleben selber keine„Zeichen und Wunder“, auch wenn sie davon berichten. Johannes ist tot und Jesus ist gestorben. Das Elend der Elenden ist nicht weniger geworden. Jerusalem ist zerstört. Die Weltmacht Rom entfaltet ihre größte militärische Ausdehnung. Und in den Gemeinden wird gestritten: Johannesjünger gegen Jesusjünger, Juden gegen Christen, Christen gegen Christen. Die ersten Getauften sind bereits verstorben und die ersehnte Wiederkunft des Herrn lässt auf sich warten.
In diese trostlosen Zeiten hinein verkünden die Evangelisten Jesus, den Christus. Wie er war, warum er ist, dass er kommen wird. Verheißen von den Propheten, geglaubt von den Zeugen, erwartet von aller Zukunft.
Gewaltiges hat er vollbracht mit seinem Arm,
zerstreut hat er, die hochmütig sind in ihrem Herzen,
Mächtige hat er vom Thron gestürzt
und Niedrige erhöht,
Hungrige hat er gesättigt mit Gutem
Und Reiche leer ausgehen lassen.
So singt die Mutter Jesu im Lukasevangelium während ihres Besuchs bei Elisabeth von der Zeit des Heils.
Sie wundern sich vielleicht, dass die Zürcher Bibel hier die Vergangenheitsform wörtlich übersetzt, anders als Luther, der seinen Lobgesang Marias in eine verheißungsvolle Gegenwartsform eingekleidet hat:
Er übet Gewalt mit seinem Arm
Und zerstreuet die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn.
Er stößet die Gewaltigen vom Thron
Und erhebt die Niedrigen.
Die Hungrigen füllet er mit Gütern
Und lässt die Reichen leer.
Diese Übersetzungsvarianten vermögen sehr gut zu spiegeln, wie wir zwischen Erfüllung und Verheißung gestellt sind. Was wir – im Vertrauen auf die Tradition – in Jesus als schon erfüllt glauben, scheint in unserer Gegenwart auf und ist uns für die Zukunft in Aussicht gestellt.
„So soll es sein, so wird es sein“ hat Wolf Biermann in seiner Vision von der Gerechtigkeit für die Armen vor vielen Jahren gesungen. Und – wo er Recht hat, hat er Recht.
Den Armen wird das Evangelium verkündet. Und den Reichen. Wie sonst könnten wir diesen Graben zwischen Scheitern und Vollenden, zwischen Hilflosigkeit und kleinen Gesten der Gerechtigkeit, zwischen Angst und Hoffnung – wie sonst könnten wir diesen Graben zwischen Sünde und Gnade überhaupt aushalten?
Wir müssen darauf vertrauen, dass auch wir mit gemeint sind, wenn den Hirten die Geburt des Heilands verkündet wird.
Das mag Teil des Anstoßes gewesen sein, den Johannes-Jünger am Handeln Jesu nahmen. In ihrem Streben nach Reinheit und untadeliger Lebensführung war es für sie undenkbar, mit Zöllnern und Sündern zu Tisch zu sitzen. Das „nahe herbeigekommene Himmelreich“ sollte durch asketische Lebensleistungen sofort und vollkommen verwirklicht werden. Aber auch Selbstgerechtigkeit kann zu menschenverachtendem Verhalten führen.
Das „Himmelreich“ jedenfalls lässt sich weder ins Jenseits abschieben noch ins Diesseits auflösen. Es ist in die Schwebe gehalten von Vor-Zeit und Nach-Zeit, von Da-Sein und Irgendort im Noch-Nicht.
Wir aber haben – im Handeln und im Hoffen – wir haben Anteil am Leben der Welt, die im Kommen ist, weil Gott seinen Sohn gesandt hat, als die Zeit erfüllt war (Gal. 4,4).
Amen.
[1] Kurt Marti: Du. Eine Rühmung. Radius-Verlag 2007. S.10f.
Dr. Gudrun Kuhn, Nürnberg (Ältestenpredigerin der Ev.-ref. Gemeinde St. Martha); Predigt aus dem Jahr 2008