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Die Sehnsucht nach dem 'Gamechanger'
Predigt zu Sacharja 8,23
Liebe Gemeinde,
Unser Predigttext ist Teil einer regelrecht „irre“ klingenden Verheißung aus dem Buch des Propheten Sacharja. Sie beschreibt, wie die Völker, also Heiden, keine frommen Juden, zum Tempelberg in Jerusalem hinaufziehen, um Gott gemeinsam anzubeten. Und zwar kommen diese Heiden, wie es bei Sacharja heißt, „in Scharen“ (Sach 8,22)! Nicht einzeln und in kleinen Gruppen – nein, ein gewaltiger Strom von Heiden entsteht, die immer mehr und mehr werden, und die gemeinsam hinaufziehen zum Tempelberg! Sie sind alle miteinander Gottessucher! Sie strömen nach Jerusalem, weil sie ein Gerücht gehört haben: Dort gibt es Menschen, mit denen Gott ist. Und so heißt es in Sach 8,23, unsrem Predigttext: „So spricht der Herr Zebaoth: Zu der Zeit werden zehn Männer aus allen Sprachen der Heiden einen jüdischen Mann beim Zipfel seines Gewandes packen und sagen: ‚Wir wollen mit euch gehen, denn wir hören, dass Gott mit euch ist.‘“
Liebe Gemeinde, das ist eine unglaubliche Verheißung. Wenn man sie übersetzt in eine Verheißung für unsere Kirche und überträgt auf unsere Gemeinden, dann wird man meschugge, fängt an zu heulen oder reagiert auf eine der vielen anderen Weisen, mit denen Mensch zu reagieren pflegen, wenn sie Kontrasterfahrungen machen und starke Dissonanzen erleben. Zehn Männer halten einen jüdischen Mann beim Zipfel seines Gewandes… Man stelle sich das vor: Zehn Menschen bedrängen eine*n Mitarbeitende*n, aus unserer Gemeinde: „Dürfen wir mitmachen? Können wir dabei sein? Wir haben gehört, dass Gott mit euch ist.“ Zehn Männer – hier ist tatsächlich von einer Verzehnfachung die Rede.1 Und wenn jeder von ihnen genau so wirkt, dann handelt es sich um exponentielles Wachstum. Wir wissen aus der Coronakrise, wie sich Ansteckungen verbreiten. Es geht um einen riesigen Wachstumsprozess, bei dem sich die Bestandsgröße immer um denselben Faktor vervielfacht.
Ja ach – und wenn man dagegenhält, welch jämmerliches Bild Kirche in unseren Tagen abgibt? Da werden Tränen nicht ausbleiben; und/oder es packt einen die Wut. Immer mehr Missbrauchsfälle treten zutage und immer mehr Menschen treten aus der Kirche aus. Vor wenigen Tagen las ich in der Zeitung: Nur noch 41,6 Prozent der Menschen in der Region Hannover gehören einer Kirche an.2 Wohlgemerkt nicht der evangelischen Kirche, sondern allen christlichen Kirchen, egal ob evangelisch oder katholisch, freikirchlich oder volkskirchlich. Das ist eine dramatische Entwicklung – umgekehrt proportional zu dem Wachstum, das in der Vision des Propheten Sacharja umschrieben wird. Wenn man das liest und die Verheißung Sacharjas dagegenhält, dann kann man bei einem solchen Abgleich nur verzweifeln. Denn von Gemeindeaufbau und einem „Wachsen gegen den Trend“ redet längst niemand mehr, nur noch von palliativer Ekklesiologie.3 Ja, Kirche scheint auf der Palliativstation angekommen zu sein, wo es nur noch darum geht, in Würde sterben zu dürfen.
Dabei ist ja nicht so, als gäbe es keine Gottessuchenden mehr und als wären die Menschen über Nacht alle religiös unmusikalisch geworden. „Gott ist ein unsterbliches Gerücht“ – so hat es der Philosoph Robert Spaemann4 einmal gesagt. Und diesem Gerücht scheint man überall nachzugehen – nur nicht bei „Kirchens“. Jetzt kann man*frau natürlich mit ihrem*seinem Kirchenschmerz hingehen und einen theologischen Trick anwenden: „Nicht die Kirche ist schuld, sondern die biblische Verheißung. Wie kann man nur mit so großen Zahlen operieren und solch überzogene Erwartungen wecken! Das ist doch unverantwortlich! Und, ach ja“, so sagt die beschwichtigende Stimme in uns, „diese Vision bei Sacharja, bei irgend so einem kleinen Propheten, das ist nur eine einzelne biblische Stimme, die lässt sich wegdrücken. Es handelt sich halt nur um ein Minderheitenvotum!“
Das Dumme ist nur: Nein, es handelt sich um keine Einzelstimme, keinen Einzelfall im biblischen Kanon. Die Prophetenbücher sind voll von solchen Verheißungen für die Völker.5 Denken wir nur an ganz ähnliche Texte etwa in Jes 2,2–4, wo auch von einer Völkerwallfahrt zum Zion die Rede ist, ja sogar davon, dass Gott die Völker vom Zion aus unterweisen wird und sie das Kriegführen verlernen: „Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen“ (Jes 2,4).6 Wiederrum ganz ähnlich auch die Vision in Mi 4,1–5, wo ebenfalls große Völker und viele Heiden unterwegs sind und von Gott Weisung erhalten. Auch hier ist wiederum von der Umwidmung der Waffen die Rede. Aber lassen wir für heute lieber den Weltfrieden beiseite. Ansonsten verschärft sich unser Kirchenschmerz noch zusätzlich und weicht endgültig Resignation und Melancholie, die auch noch die letzten Reste von Engagement ersticken.
Noch ein zweiter theologischer Einwand ist zur Sprache zu bringen. Und dieser ist sehr ernst zu nehmen: „Die Verheißung von der Völkerwallfahrt zum Zion, sie gelten ja gar nicht der Kirche, sondern dem Volk Israel. Es geht nicht an, Israel gleichsam mit Kirche zu ersetzen. Wer das tut, muss sich nicht wundern, wenn ihm*ihr die Verheißung auf die Füße fällt und Kirchenschmerz erzeugt. Ja, in der Tat. Es geht nicht an, Israel die Verheißungen gewissermaßen wegzunehmen und damit das bleibend ersterwählte Volk Gottes zu enterben und die Verheißungen auf die Kirche zu übertragen.“ Das stimmt. Gleichwohl ist auch die Kirche von der Verheißung betroffen. Denn wir sind ja „Miterben der Verheißung“ (Eph 3,6).7 Wir gehören nach der Verheißung des Propheten Sacharja gleichsam auf die Seite der Heiden, die zum Zion ziehen. Insofern bleibt es auch bei einer anderer Rollenzuweisung dabei: Auch wenn wir alle Kirche mit den Heidenvölkern zum Zion ziehen, so bleibt uns mit Blick auf die gegenwärtige Kirche der Schmerz nicht erspart, wie wenige da unterwegs zu sein scheinen.
Liebe Gemeinde, ich weiß nicht, wie es ihnen geht, aber wenn man diese biblischen Verheißungen liest und die kirchliche Wirklichkeit dagegenhält, dann entsteht bei mir eine große Sehnsucht – die Sehnsucht nach dem „Gamechanger“, die Sehnsucht nach dem radikalen Spielveränderer, dem erfolgreichen Regelbrecher, der den Schalter umlegt und das Vorzeichen vor der Klammer ändert. Ja, einen „Gamechanger“ braucht es – und Gamechanger werden in unseren Tagen vermehrt gesucht, sei es in der Fußballnationalmannschaft oder in der Politik, denn irgendwie scheint sich bei vielen das Bewusstsein einzuschleichen, dass die Art und Weise, wie Dinge als Ganzes getan werden, signifikant verändert werden müssen. Ein Kurs-, ein Strategie-, ein Charakterwechsel scheint angesagt. Von Walter Benjamin stammt der Satz: „Daß es ‚so weiter‘ geht, ist die Katastrophe.“8 Doch Vorsicht! Mit dem „Gamechanger“ hat man in Deutschland so seine Erfahrungen gemacht. „Gamechanger“ ist nicht gleich „Gamechanger“!
Wenn wir nun in unserem Predigttext genau hinsehen, dann machen wir eine befreiende Entdeckung. Der wahre „Gamechanger“ – von ihm ist dort die Rede. Sicherlich verborgen, aber er steckt doch gewissermaßen im Text: „Wir wollen mit euch gehen, denn wir hören, dass Gott mit euch ist“. So unser Predigttext. „Gott mit uns“ das heißt auf Hebräisch: Immanuel. Und wenn wir die ersten Blätter des Neuen Testaments aufschlagen, dann lesen wir bei Matthäus: „Siehe eine Jungfrau wird schwanger und einen Sohn gebären und sie werden ihm den Namen Immanuel geben, das heißt übersetzt: ‚Gott mit uns‘“ (Mt 1,23).
Liebe Gemeinde, der Immanuel, der „Gamechanger“, er ist geboren. Als Sohn zweier armer, unverheirateter Menschen kam er in einem Stall in einer Futterkrippe zur Welt. Man nagelte ihn an ein Kreuz und begrub ihn, doch er blieb nicht bei den Toten. Er ist auferstanden und er sagt es seinen Jünger am Ende des Matthäusevangeliums bleibend gültig zu: „Siehe, ich bin bei Euch alle Tage, bis an der Welt Ende“ (Mt 28,20). Immanuel – mit diesem Namen beginnt und endet das Matthäusevangelium. Dieser Name bildet die Klammer, den Anfang und das Ende.9 Immanuel – mit diesem Namen wird die Botschaft des Evangeliums auf den Punkt gebracht:10 Gott ist mit uns. Er, der uns nicht braucht, er, der ohne uns Gott sein könnte, er will doch ohne uns nicht Gott sein. Deshalb wird Gott Mensch, leidet, stirbt und steht am Ostermorgen auf und wir sind mit dabei: In seinem Tod sterben wir und in seiner Auferstehung stehen wir als neue Menschen auf. Der Immanuel – er ist „Gamechanger“; er hat das Spiel unseres Lebens gedreht. Seit Ostern erwarten wir mit Bonhoeffer „getrost, was kommen mag. / Gott ist mit uns am Abend und am Morgen / und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“
Gott sagt es uns in seinem Immanuel zu: „Ihr braucht keine Angst zu haben – vor mir nicht und vor irgendwelchen Zahlen, Prognosen und Diagnosen auch nicht. Ich bin der, der die Welt in seinen Händen hält. Ich habe Abraham aus Steinen Kinder erweckt (vgl. Mt 3,9). Ich habe mein Volk am Roten Meer vor den Ägyptern bewahrt (Ex 14). Und ich habe dem im Sturm ertrinkenden Jona einen rettenden Walfisch geschickt (Jo 2,1) – wie, ja wie, sollte ich da nicht auch mit Euch sein in den Stürmen Eures Lebens? Wie sollte ich Euch verlassen, jetzt in der Not, wo ihr Angst vor dem Ertrinken habt? Sie sollte ich da plötzlich ein anderer sein als der, als der ich mich immer schon erwiesen habe? – Ich bin und ich bleibe an Eurer Seite! Ich bin der, der ich bin, von Ewigkeit her: Der Gott mit Euch! Der, der Bund und Treue hält ewiglich – gestern, heute und morgen!
Nicht wahr, liebe Gemeinde, im Umgang mit dem Bedrohlichen, den Katastrophennachrichten für unsere Kirche und für uns selbst, wird es sich entscheiden, ob wir „im Glauben oder im Schauen“ (2Kor 5,7) leben, im Glauben an die Empirie und die Stärke unserer Strategien und Konzeptionen oder im Vertrauen darauf, dass Gott seine Verheißungen wahr macht. Es kommt dabei stets und entscheidend auf die Blickrichtung an. Blicken wir auf uns selbst oder blicken auf Gott? Unser Predigttext sagt: Es geht nicht um uns, es geht um Gott. Er ist mit uns. Und nur weil und insofern es um Gott geht, der seine Verheißungen wahr macht, geht es dann auch um uns. Aber in dieser Reihenfolge! Nicht anders! Schauen wir auf uns selbst, so werden wir untergehen, so, wie der sinkende Petrus auf dem See Genezareth (Mt 14,30). Drehen uns um und schauen von Gott weg, so werden wir zur Salzsäule erstarren wie Lots Frau (Gen 19,26). Darum, liebe Gemeinde: Lasst uns auf Gott schauen! Lasst uns ihn in den Blick nehmen! Blicken wir auf ihn, so werden wir zu sehen bekommen, wie er gegen den Augenschein seine Verheißungen wahr macht, wie zehn Männer aus allen Sprachen der Heiden, einen jüdischen Mann beim Zipfel seines Gewandes ergreifen und sagen: „Wir wollen mit euch gehen, denn wir hören, dass Gott mit euch ist.“
Amen
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1 So Werner H. Schmidt, Alttestamentlicher Glaube, 11. Aufl., Neukirchen-Vluyn 2011, 436.
2 Simon Benne, Nur noch 42 Prozent sind Kirchenmitglieder, in: HAZ vom 28.8.2023, 9.
3 Ekklesiologie meint Kirchenlehre
4 Robert Spaemann, Das unsterbliche Gerücht. Die Frage nach Gott und der Aberglaube der Moderne, Stuttgart 2005.
5 Vgl. Jörg Jeremias, Theologie des Alten Testaments, GAT 6, Göttingen 2015, 432–446.
6 Vgl. Michaela Bauks, Theologie des Alten Testaments. Religionsgeschichtliche und bibelhermeneutische Perspektiven, Göttingen 2019, 250; Walter Brueggemann, Theology of the Old Testament. Testimony, Dispute, Advocacy, Minneapolis 1997, 594.
7 Vgl. Bertold Klappert, Miterben der Verheißung. Beiträge zum jüdisch-christlichen Dialog, NBST 25, Neukirchen-Vluyn 2000, 203–240.
8 Walter Benjamin, Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus (Zentralpark, 1937), in: Gesammelte Schriften. 1. Band, hg. von Rolf Tiedemann / Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1991, 683.
9 Vgl. Matthias Konradt, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 1, Göttingen 2015, 11–15.
10 Vgl. den Abschnitt „Gott mit uns“ in: Karl Barth, KD IV/1, 1–22.
Marco Hofheinz