Duft statt Hast

Wo die Kunst des Verweilens und die ''reformierte Sache'' sich treffen.

Eine Mittwochs-Kolumne zur vita contemplativa. Von Barbara Schenck

Das schöne Wetter ist schuld an dieser Kolumne.
Auf der Terrasse genieße ich die Wärme, das Summen der Bienen. Das Leben ist schön. Der Lavendel blüht. Ich zerreibe eine Blüte. Mit dem Duft schwebt meine "Bremer Oma" herbei. Ein Fläschchen Lavendelparfüm trug sie stets in ihrer Handtasche - für die Fahrten mit der Straßenbahn. Setzte sich eine etwas unangenehm riechende Person neben sie, zückte sie ihr grünes Fläschchen, tropfte ein wenig von der öligen Substanz in ein Stofftaschentuch und hielt es sich unter die Nase. Der Lavendelduft blieb an ihr hängen, dreißig Jahre nach ihrem Tod hängt sie in diesem Duft.

Der Geruchssinn dient der Erinnerung, dem Wiedererweckung von Vergangenem. Marcel Prousts Madeleine, in Lindenblütentee getaucht, machte diese Wirkung berühmt. Was ist gegenwärtig, was vergangen? Die Zeit verdichtet sich. Die "duftende Essenz der Zeit löst ein Gefühl der Dauer aus", sagt Byung-Chul Han. Der Philosoph entwirft mit dem "Duft der Zeit" eine Metapher für die Kunst des Verweilens, für die vita contemplativa. Der "Duft der Zeit" steht der "Epoche der Hast" gegenüber. Er ist Gegenbild zur schwirrenden Zeit, zu Menschen, die hektisch von einem Termin zum nächsten hetzen und in ihrer Freizeit von einem Erlebnis zum nächsten Gig. "Der Duft ist träge", sagt Han: "Düfte kann man nicht so schnell aufeinanderfolgen lassen wie optische Bilder." Und sie lassen sich auch nicht "beschleunigen".
Verweilen ist also angesagt, vielleicht bei ein paar Fragen:
"Warum haben wir keine Zeit? Inwiefern wollen wir keine Zeit verlieren? Weil wir sie brauchen und verwenden wollen? Wofür? Für unsere alltäglichen Beschäftigungen, deren Sklaven wir längst geworden sind."? - Die Fragen sind ein Zitat aus Martin Heideggers Grundbegriffen der Metaphysik (1929/30). Sein Resümee lautet: Am Ende sei "dieses Keine-Zeit-haben eine größere Verlorenheit des Selbst als jenes sich Zeit lassende Zeitverschwenden".

Das tätig Leben verbraucht Zeit, das Verweilen gibt Zeit
Das "tätige Leben", dem "jede kontemplative Dimension fehlt", äußert sich "als beschleunigte Herstellung und Zerstörung", sagt Han: "Es verbraucht die Zeit." Das "kontemplative Verweilen" hingegen "gibt Zeit": "Es weitet das Sein, das mehr ist als Tätig-Sein. Das Leben gewinnt an Zeit und Raum, an Dauer und Weite, wenn es das kontemplative Vermögen wiedergewinnt."
Sogleich fühle ich mich noch wohler auf meiner Terrasse in der Sonne. Nebenbei: Auch der ökonomische Effekt der Muße ist nicht zu verachten. Die als Pause empfohlene Entspannung, das "Abschalten" dient nur dazu, die gewohnte Arbeitsfähigkeit wiederherzustellen. Nicht so die Muße. Sie weckt Kreativität, die Neues schaffen kann, gar "welt- und kulturbildende Ereignisse".
Den Duft gibt es nicht nur in und an Dingen. Auch die Sprache duftet. "Metaphern sind Düfte der Dinge, die diese freisetzen, wenn sie sich befreunden", sagt Han. In den Metaphern leuchtet die Schönheit der Dinge, also nicht ein augenblicklicher "Glanz oder Reiz", sondern das "Nachleuchten", die "Phosphoreszenz der Dinge". In diesem Sinne folgt nun die Metapher eines Dichters, bei dem das Verweilen und die "reformierte Sache" sich treffen: Gerhard Tersteegen. Der Mystiker besingt das Leben und Schweben in Gott:

"Du durchdringest alles;
lass dein schönes Lichte,
Herr, berühren mein Gesichte.
wie die zarten Blumen
willig sich entfalten
und der Sonne stille halten,
lass mich so
still und froh
deine Strahlen fassen
und dich wirken lassen."

aus: Gerhard Tersteegens Lied "Gott ist gegenwärtig" (EG 165)

Schöne Sommertage!
wünscht die Redaktion von reformiert-info den Lesenden.

Literatur
Byung-Chul Han, Duft der Zeit. Ein philosophischer Essay zur Kunst des Verweilens, Bielefeld 2013 (12009).

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Barbara Schenck, 10. Juli 2013