Heiligabendgottesdienst unter freiem Himmel 2020 in Leer-Nüttermoor

Predigt von Kirchenpräsident Martin Heimbucher


© Pixabay

Liebe Gemeinde,

wunderschön sind sie anzuhören, die Weihnachtslieder,
die uns die Szene im Stall von Bethlehem vor Augen singen:
Vom kleinen Kind im Stroh, von Ochs und Esel,
die im Stall wachen und ihn vielleicht auch wärmen.
Wunderschön sind sie anzuschauen,
die vielen bunten Bilder von der Geburt Jesu,
die unsere Weihnachtskarten schmücken.
Szenen der Geborgenheit einer jungen Familie,
die zwar in den Häusern von Bethlehem keine Zuflucht fand,
aber immerhin dann in einem Stall.
Es ist ein romantisches Bild.
Denn Platz ist bekanntlich in der kleinsten Hütte …
…  auch für ein glücklich frisch gebackenes Elternpaar
mit seinem neugeborenen Kind.

Es ist ein vertrautes und schönes Bild.
Es hat nur einen Schönheitsfehler:
Es stimmt mit der biblischen Weihnachtsgeschichte nicht überein.
Achten Sie doch noch einmal darauf, was hier gesagt wird.
Und vor allem, wovon keine Rede ist.
„Während sie dort waren, kam die Zeit der Geburt.
Maria brachte ihren ersten Sohn zur Welt.
Sie wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Futterkrippe.
Denn sie hatten in der Herberge keinen Platz gefunden.“

Liebe Gemeinde, da ist keine Rede von Vielem,
was fromme Fantasie im Lauf der Jahrhunderte hinzugedichtet hat:
Da ist kein Stall. Von einem Dach über dem Kopf ist nicht die Rede.
Wir haben auch kein Stroh, um das Kindchen weich zu betten.
Es wäre auch etwas merkwürdig,
wenn dort im Nahen Osten plötzlich ein Tiroler Heustadel gestanden hätte.

Liebe Gemeinde,das Kind von Bethlehem wird offensichtlich auf der Straße geboren, obdachlos.
Wie das Wetter war, wissen wir nicht.
immerhin regnet es im Nahen Osten etwas weniger als hier.
Die Futterkrippe, in die das Kind gelegt wird,
ist nichts anderes als ein Zeichen der Not seiner Eltern.
Da gibt es kein Babybett und keine Wiege.
Sondern nur einen ausgehöhlten Stein,
in den sonst Futter reingestreut wird.
Hier ist aber auch kein Vieh zu sehen.
Kein Ochs und kein Esel verbreiten heimelige Wärme.
Wir haben leider auch keine Erstausstattung für das Kind,
mit Strampelhöschen und Strickjäckchen.
Das Neugeborene wird in Lumpen gewickelt,
eben was man dabei hatte oder irgendwo fand.

Man musste sich irgendwie behelfen, notdürftig.
So ähnlich wie wir uns heute eben behelfen,
wo wir uns nicht in der Kirche versammeln können,
in weihnachtlicher Geborgenheit.
Sondern unwirtlich draußen stehen, hier unter freiem Himmel.

Liebe Gemeinde,
nicht in einer traulichen Hütte kommt Gottes Kind zur Welt,
sondern in purer Not.
Jesus kommt unter Umständen zur Welt,
die ganz prekär den Umständen gleichen,
unter denen er auch einmal zu Tode kommen wird:
Draußen vor der Tür, vor den Toren der Stadt,
im äußersten Elend.

Liebe Gemeinde, wenn wir das begreifen,
dann verstehen wir auch die heilsame Radikalität der Weihnachtsbotschaft.
Gott kommt zu uns Menschen.
Aber eben nicht in unsere Komfortzonen.
Sondern in das äußerste Elend, in das Menschen hinausgestoßen werden.
Hier, an den Rändern des Lebens, solidarisiert sich Gott mit uns.
Hier macht er unser Elend zu seinem Elend, um es zu wenden.
Hier also haben wir Gott zu suchen: Bei denen da draußen.
Wann könnte das deutlicher werden,
als in einem Weihnachtsgottesdienst draußen, womöglich bei Regen und Wind?

Liebe Gemeinde, ja, es stimmt, die Innenstädte waren in den letzten Tagen leer.
Aber die Obdachlosen, die saßen noch da.
Zu denen kommt Gott.

Die Meldungen über Corona
haben die Meldungen über das Elend der Flüchtlinge
aus den Schlagzeilen verdrängt.
Aber sie sind noch da, in Moria und anderswo.
Und ihr Elend ist auch nicht gemildert.
Zu denen kommt Gott.

Und über aller Sorge darum,
wie wir trotzdem irgendwie Weihnachten feiern können,
vergessen wir die, die in den Klinken um das Leben ihrer Patienten ringen.
Und die, die mit dem Leben davon kommen,
viele schwer gezeichnet für ihr Leben.
Und die, die an Corona sterben, sehr plötzlich manche,
manche nach langem Kampf.
Diese Schicksale verschwinden hinter abstrakten Zahlen.
Liebe Gemeinde, zu denen kommt Gott.

Und weil das so ist, wird uns allen zugerufen:
„Fürchtet euch nicht! Habt keine Angst!“
Verkriecht euch nicht im Schneckenhaus eurer Furcht.
Lasst euch nicht lähmen von all den schlechten Nachrichten.
Denn die gute Nachricht lautet: Gott ist da. Mitten im Elend.
Er gibt Kraft in der Not.
Er schenkt Hoffnung in der Verzweiflung.
Er lässt es hell werden im Dunkel.

Das, liebe Gemeinde,
ist die frohe Botschaft dieses Heiligen Abends.
Diese Trostbotschaft wollen wir miteinander teilen.
Diese Ermutigung wollen wir mit nach Hause tragen,
und zu den Nachbarn nah und fern.
Gottes Fürsorge und Solidarität mit den Armen,
die wollen wir heute empfangen und weitergeben.

Amen.


Martin Heimbucher