Männerblicke

Markus 14, 3-9 - Predigt für den Psalmsonntag von Gudrun Kuhn


Welche Rolle spielen Frauen bei Jesus? Eine Orientierung zwischen den Berichten der Evangelisten, Kurt Marti und Wagners Parsifal

LESUNG    Lukas 8  

1Und danach geschah es, dass [Jesus] von Stadt zu Stadt und von Dorf zu Dorf zog und das Evangelium vom Reich Gottes verkündigte. Und die Zwölf waren mit ihm, 2auch einige Frauen, die von bösen Geistern und Krankheiten geheilt worden waren: Maria, genannt Magdalena, aus der sieben Dämonen ausgefahren waren, 3und Johanna, die Frau des Chuza, eines Ver­wal­ters des Herodes, und Susanna und viele andere, die ihn unterstützten mit dem, was sie be­saßen.

Kurt Marti:

Jesus, ein Mann,
doch kein Patriarch,
Frauen Unterwerfung gebietend
Im Bett, im Haus,
erst recht in der Öffentlichkeit. 
Entschieden widersprach Er Ehegesetzen,
die männlicher Willkür Rechtskraft verliehen,
stets lagen Frauen mit ihm zu Tisch,
Verstoßene, Verarmte, Prostituierte darunter.
Von einer Heidin ließ Er sich theologisch belehren. 
Ein Mann: aber frei und befreiend
zum neuen Schalom zwischen Mann und Frau!
Und so scharten sich eigenständige Frauen um ihn: 
Maria aus Magdala oder Susanna
oder Johanna, Gattin eines herodianischen Beamten
„und viele andere, die
mit ihrem Vermögen für sie sorgten.“

(Kurt Marti: Die gesellige Gottheit. Stuttgart 2015. S.23f.)

Beinahe wäre ich heute in Bayreuth falsch abgebogen: nach rechts hinauf zum Grünen Hügel anstatt nach links zur Reformierten Gemeinde. Meine Gedanken wanderten ins Festspielhaus. Zum 3. Akt des Parsifal. Da kann man miterleben, wie eine Frau ihrem Helden die Füße wäscht und mit ihren Haaren trock­net. „Mit demutsvollem Eifer“ – wie Meister Wagner angibt – voll­zieht sie die Handlung. Ein Soft­por­no für die verklemmten Bürger von 1882, so könnte man das abtun, wenn da nicht die­se hin­reißende Musik wäre. Parsifal sollte nach dem Willen Wagners kein Mu­sikdrama wie an­de­re sein, sondern ein Bühnen­weihfestspiel. Es bot den der Kirche längst entfremdeten Bürgern fei­erlichen religiösen Kitsch mit Abend­mahl und Taufe und Sal­bung und Be­gräb­nis­ri­tual und Kö­nigskrönung auf offener Bühne. Religiösen Kitisch in Ein­heit mit einer diffusen Be­frie­digung von Männerfantasien. Oder vorsichtiger: von Fantasien der Män­ner­welt von 1882. Kun­dry, die da Parsifal die Füße wäscht, ist – nebst einer Schar so ge­nannter Blumenmädchen – die ein­zi­ge Frau inmitten einer psycho­pa­thi­schen Män­nerwelt. Die anderen Sopran- und Altstimmen, die Wagner für den voll­en­deten Klang braucht, müssen sich im Gralstempel durch ein Pagen­kos­tüm tarnen. Dafür ist Kundrys Weib­lich­keit in der männlichen Wahrnehmung dreifach prä­sent: Im 1. Akt rätseln die zölibatär Ver­küm­mer­ten, ob sie ein Tier sei. Im 2. Akt darf sie be­tö­rend verführerisch singen: eine teuflisch gefährliche Hure. Um dann im 3. Akt gänzlich zu ver­stum­men – als Heilige. Ihr letztes Wort „Dienen“ darf sie noch tonlos von sich geben, um am En­de einfach so dahinzusterben.

Nun bin ich aber nicht im Festspielhaus, sondern hier in der Bayreuther Kirche. Und Sie haben na­türlich alle längst gemerkt, um welche biblische Geschichte es heute gehen wird: Die Sal­bung Jesu in Bethanien durch eine Frau. In ihrer ursprünglichsten Form endet sie bei Markus mit einem rätselhaften Satz Jesu: 9Amen, ich sage euch: Wo immer in der ganzen Welt das Evan­gelium ver­kün­digt wird, da wird auch erzählt werden, was sie getan hat, zu ihrem Ge­dächtnis.

Diese Prophezeiung scheint Richard Wagner erfüllt zu haben. Auch wenn sein Werk nur für Wag­­nerianer ein Evangelium ist. In seiner Kundry wird die Frau aus Bethanien ge­spie­gelt. Und als ver­führerische Schönheit mit Lockenpracht kennen wir sie auch von vielen Ge­mälden. Ich fürch­te allerdings, diesen männlichen Blick auf eine demütig gewordene „Sün­de­rin“ hat Wagner Ende des 19. Jahrhunderts nicht erfunden. Diese Karriere wurde der na­men­lo­sen Frau aus dem Markusevangelium schon innerhalb des Neuen Testaments bereitet.

Aber zuerst einmal der Text nach Markus 14

3Als [Jesus] in Betanien im Haus Simons des Aussätzigen war und bei Tisch saß, kam eine Frau mit einem Alabastergefäß voll echten, kostbaren Nardenöls; sie zerbrach das Gefäß und goss es ihm über das Haupt. 4Da wurden einige unwillig und sagten zueinander: Wozu geschah die­se Verschwendung des Öls? 5Dieses Öl hätte man für mehr als dreihundert Denar ver­kau­fen und den Erlös den Armen geben können. Und sie fuhren sie an. 6Jesus aber sprach: Lasst sie! Was bringt ihr sie in Verlegenheit? Sie hat eine schöne Tat an mir vollbracht. 7Arme habt ihr ja allezeit bei euch und könnt ihnen Gutes tun, sooft ihr wollt; mich aber habt ihr nicht al­lezeit. 8Was sie vermochte, hat sie getan. Sie hat meinen Leib im Voraus zum Begräbnis ge­salbt. 9Amen, ich sage euch: Wo immer in der ganzen Welt das Evangelium verkündigt wird, da wird auch erzählt werden, was sie getan hat, zu ihrem Gedächtnis.

Es gibt plausible  Argumente für einen historischen Kern dieser aufregenden Geschichte.

  • Die Handlung der Frau und die Reaktion Jesu sind außergewöhnlich. So etwas erfindet sich nicht einfach so. Der erzählte Unwille der anderen Gäste spiegelt wohl auch die Skep­sis des Evan­gelisten gegenüber dieser Überlieferung. Darum wird eine Deutung not­wen­dig: Die Sal­bung wird zur Vorausschau auf Jesu Tod und auf Frauen als Zeuginnen der Auf­er­ste­hung. 
  • Der Schlusssatz verwundert. Wo immer in der ganzen Welt das Evangelium verkündigt wird, da wird auch erzählt werden, was sie getan hat, zu ihrem Gedächtnis. Von Lukas und Johannes wird er aus der Über­lie­fe­rung ge­strichen. Und von Jesus selbst kann er wört­­lich so nicht formuliert sein. Den Begriff Evan­ge­lium gab es zu seinen Leb­zei­ten noch nicht. Und eine Weltmission kommt in seiner Reich-Gottes-Verkündigung nicht vor. Aber in dem Satz hat sich offensichtlich die Er­in­ne­rung erhalten, dass Jesus den Frau­en in sei­ner Anhängerschaft ein ungewöhnlich gro­ßes Ge­­wicht ein­ge­räumt hat. Und um die­ses Ge­wicht gab es in den ersten Jahr­hun­der­ten einen lang an­hal­tenden Konflikt. Bis heute – in der katholischen Kirche. Es gibt ja sogar ein ‚Evangelium nach Maria Magdalena‘. Nur bruch­stück­­haft ist es über­lie­fert und wurde frühestens im 2. Jahr­­hun­dert verfasst. Doch es hat in den Figuren des Pet­rus und der Jüngerin aus Mag­dala Spu­ren des Streits um ein Frauen-Apos­tolat bewahrt. Auch das Tho­mas­­evan­ge­lium weiß da­rum. Al­ler­dings er­­ringt dort Maria ihre Aner­ken­nung nur da­durch, dass sie ihrer Weib­lich­keit be­raubt wird. Durch den Geist habe Jesus sie männ­lich ge­macht.

Das ist der Blick des Patriarchats auf die Frau. Durch die Brille einer frauenfeindlichen Män­ner­kirche wie durch die Brille eines bürgerlichen Opernpublikums. Eine nur schwer auszu­haltende Zu­mu­tung. 

Ich will versuchen, die Frau mit dem Salböl aus diesem Blick heraustreten zu lassen. Ich will der Figur eine eigene Stimme geben. Die Namenlose erzählt den jüngeren Frauen: 

„Lange hatte ich das Öl aufbewahrt für einen besonderen Gast. Meine Familie war ja mit Wohl­stand gesegnet. Wie auch Simon. Er konnte es sich leisten, Jesus und seinen Kreis ein­zu­la­den. Gastfreundschaft gilt uns viel. Von Gott singen wir ja im Psalm: Du salbst mein Haupt mit Öl und schenkst mir voll ein. So war es auch für uns eine gerne geübte Pflicht. Frisches Wasser für die vom Weg müden Glieder, ein duftendes Schweißtuch für die Stirn und dann – die Gläser rand­voll! Wie beglückt wir alle waren, dass Jesus uns mit seiner An­we­sen­heit be­schenk­te! Das war der richtige Moment. Für ihn war das kostbare Öl richtig. Seine Stirn salb­te ich damit. Doch dabei hatte ich nicht mit den giftigen Blicken und den bösen Worten ge­rechnet, die mich jetzt trafen. Was das Öl gekostet hatte, wusste ich gar nicht mehr. Jetzt aber wurde es mir vor­gerechnet. Verschwendung sei das. Und ich hätte es besser den Armen geben sollen. Als ob ich nie an die Armen dächte! Was wussten die denn von mir! Für einen Gast wie Jesus war doch das Kostbarste gerade recht. Oder etwa nicht? Schon wollte ich beschämt den Raum ver­lassen. Da hörte ich seine zärtliche Stimme: Was bringt ihr sie in Verlegenheit? Sie hat eine schöne Tat an mir vollbracht. Mit diesen Worten gab er mir meine Würde zurück. Spä­ter dann, als er so schmählich seinen Tod am Kreuz erlitt, erinnerten wir uns wieder an die­­ses Er­eig­nis. Wir Frauen waren ihm ja bis nach Jerusalem ge­folgt und hatten von ferne zu­­­sehen müssen, wie er starb. Maria aus Magdala und Salome und die Mutter von Johannes und Jakobus und viele andere. Die Män­­­ner aus seinem Kreis waren alle geflohen. Ach, wie un­­tröstlich wir waren, dass uns nicht möglich war, sei­nen geschundenen toten Körper zu wa­schen und zu salben, wie es Sitte ist. Viele erzählten zwar später, dass er ein ordentliches Be­­gräbnis erhalten habe im Grab eines reichen Mannes. Aber wir Frauen wissen es besser. Wir wissen es und halten das Unge­heuer­li­che aus: kein Grab für einen Gekreuzigten.“ – „Aber Großmutter“, ruft da ein junges Mädchen, „du hast ihn doch gesalbt! Damals, als er bei Simon zu Gast war. Ohne es zu wissen, hast du ihn mit dei­nem kostbaren Öl gesalbt – schon bevor er starb.“ – “Ja, so kann man das rückblickend deuten. Und – wir glauben es doch, dass er auch ohne Balsam und Spezereien bewahrt wurde. Er ist lebendig. Wir müssen kein Grab pfle­gen. Wir suchen den Lebendigen nicht bei den Toten. Er ist da – mitten unter uns.“ Die Geschichte der namenlosen Frau wurde wei­ter­er­zählt. Aber viele Jahre später macht die En­kelin ihrer Em­pö­rung Luft: „Hat man euch auch schon aus diesem Evan­gelium nach Lukas vor­gelesen?“ Die Freundinnen verneinen. „Ich kann es nicht fassen, was da aus meiner Groß­mutter wurde: eine stadt­be­kann­te Prostituierte! Und wie der Evangelist die Geschichte übertreibt. Jesus legt er Vorwürfe gegen den Gastgeber in den Mund: ‚Siehst du diese Frau? Ich bin in dein Haus gekommen: Wasser für die Füße hast du mir nicht gegeben, sie aber hat mei­ne Füße mit ihren Tränen benetzt und mit ihrem Haar ge­trock­net. 45Einen Kuss hast du mir nicht gegeben, sie aber hat, seit sie hereingekommen ist, nicht aufgehört, mei­ne Füße zu küssen. 46Mit Öl hast du mein Haupt nicht ge­salbt, sie aber hat mit Balsam meine Füße gesalbt.‘ Ja, wir küssen uns in der Ge­meinde mit dem „heiligen Kuss“, wie es Paulus beschrieben hat. Aber einem Gast die Füße küs­sen und mit Tränen netzen – das ist doch über­trie­ben. Offenbar soll alles auf einen schlechten Le­­benswandel der Frau verweisen. Als Sünderin wird sie dar­ge­stellt, die sich vor Jesus überschwänglich demütigt. ‚Ihre vielen Sünden sind vergeben, denn sie hat viel geliebt.‘ Soll er das wirklich gesagt haben? Nie sonst habe ich ge­hört, dass Jesus sol­che Reuegesten er­wartet hat. Sein Zuspruch der Sündenvergebung ist doch be­din­gungs­los für alle, die ihm vertrauen. Oder kennt ihr Geschichten von Männern, die ihre Reue so theatralisch zeigen mussten, bevor ihnen vergeben wurde? Nein, mit der Er­zäh­lung meiner Groß­mutter hat diese Geschichte des Lukas ganz und gar nichts mehr gemein. Und auch nichts mit Maria aus Magdala. Manche sehen ja in ihr die Sünderin. Aber wie sie da­rauf kom­men, können sie mir nicht erklären. Warum kann man uns Frauen nicht einfach Men­­schen sein lassen, ohne aus uns Sünderinnen oder Büßerinnen zu machen?“

Da meldet sich ein Mädchen zu Wort, das aus Ephesus zu Besuch kam. „Ich kenne noch eine an­dere Version der Geschichte. Bei uns liest man sie nach Johannes. Und sie hört sich da ge­­nauso an, wie du es uns von deiner Großmutter erzählt hast. Allerdings wird die Salbung einer anderen Frau aus Betanien zugeschrieben: Maria, der Schwester des Lazarus. Aber auch der Evangelist Johannes übertreibt gerne. Hört einmal, wie er das Salböl rühmt: ‚3Da nahm Maria ein Pfund echten, kostbaren Nardenöls, salbte Jesus die Füße und trocknete seine Füße mit ihrem Haar. Das Haus wurde erfüllt vom Duft des Öls.‘ Ich meine freilich, dass es diesem Evangelisten ohnehin um etwas ganz anderes geht. Darum, den Junger Judas Iskariot als Ausgeburt der Hölle darzustellen. Er ist es, der den Vorwurf der Verschwendung äußert. Aber nur, damit er gleich danach wieder schlecht gemacht werden kann: ‚6Das sagte er aber nicht, weil ihm die Armen am Herzen lagen, sondern weil er ein Dieb war und als Kassenverwalter Einnahmen auf die Seite schaffte.‘ 

Wie schwierig es doch für uns ist, die Wahrheit hinter all diesen Geschichten zu finden! Ob wohl unsere Nachfahren sich leichter tun werden?“ Ach nein – wir tun uns noch viel schwerer. Es sei denn, wir haben den Mut, uns unseres eigenen Glaubens-Verstandes zu bedienen. 

Bei Wagner wird Kundry von Parsifal in ihre Schranken gewiesen: 

Du salbtest mir die Füße,
das Haupt nun salbe Titurels Genoss,
dass heute noch als König er mich grüße!

Bei Kurt Marti heißt es:

Er, der Christus, der Gesalbte – 
Wer aber hat ihn gesalbt?
Kein Priester, kein König, kein Jünger.
Eine Frau hat’s getan,
ohne Regel und Ritus, intuitiv.
Eine Frau ohne Namen
(vom Patriarchat um ihren Namen gebracht):

„Und wahrlich, ich sage euch:
Wo immer auf der ganzen Welt
Das Evangelium verkündet wird,
da wird zu ihrem Gedächtnis erzählt werden, 
was sie getan hat.“ (Markus 14,9) (a.a.O. S.24)

AMEN – so soll es sein.

FÜRBITTENGEBET

Gott – 
wir können dich nicht anfassen und nicht erfassen.
Und was uns überliefert ist, bleibt uns oft unfassbar.
So sind wir dankbar, wenn andere fühlen und tun, 
was wir nicht können. 

Wir denken an die Frau aus Betanien
und an alle Frauen und Männer,
die uns von Kindheit an 
mit Liebe überschüttet haben.

Wir denken an die Frau aus Betanien
und an alle Frauen und Männer,
die uns immer wieder mit Gaben überhäufen,
ohne nach dem Preis zu fragen.

Wir denken an die Frau aus Betanien
und an alle Frauen und Männer,
die uns durch Gefühle und Gesten
den Weg zu Gott zeigen.

Wir denken an die Frau aus Betanien
und ihr bedingungsloses Vertrauen.
Und an alle Frauen und Männer,
die Jesus mit dem Herzen bei sich aufgenommen haben.

Wir wollen sie nicht vergessen,
wenn wir uns einsam und ratlos und glaubenslos fühlen.
Wir brauchen ihr Beispiel,
damit wir nicht hart und gefühllos werden.

AMEN.


Georg Rieger