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Martha Nussbaum: Die neue religiöse Intoleranz. Ein Ausweg aus der Politik der Angst
Rezensiert von Ravinder Salooja
Es geht ihr um eine klare Erkenntnis mit Blick auf das Menschenrecht der Religionsfreiheit bzw. die „Idee, dass politische Grundsätze nicht zugunsten einer Religion die anderen vernachlässigen, sondern gleichen Respekt für alle bezeugen sollten“; und sie empfiehlt eine respektvolle Haltung als Grundlage einer mitfühlenden Phantasie und Empathie fremd erscheinenden Personen gegenüber.
Meinen persönlichen Zugang zu dem Buch fand ich über seine Mitte, das dritte Kapitel. Unter der Überschrift „Gleicher Respekt für das Gewissen“ erklärt Nussbaum, was es mit dem Recht auf Religionsfreiheit auf sich hat. Bei ihren historischen und rechtsphilosophischen Ausführungen steht die US-amerikanische Tradition im Zentrum. Nussbaum zeigt, wie das sich auf John Locke beziehende Prinzip der Neutralität (1) und das von Roger Williams herkommende Prinzip des Ausgleichs (2) gegenseitig positiv verstärken. Die Diskussion verschiedener Urteile US-amerikanischer Gerichte ermöglicht dem Leser, die Interdependenz beider Prinzipien nachzuvollziehen, und bereitet mit dem Plädoyer für einen „Geist der Neugierde […], der Offenheit, der Sympathie und der Großzügigkeit“, Nussbaums fünftes Kapitel über „Innere Augen“, vor. Spannend ist das vierte „Splitter im Auge meines Bruders“-Kapitel, in dem Nussbaum sich mit dem Burka-Verbot verschiedener westlicher Länder beschäftigt und deren z.T. scheinheilige Argumentation entlarvt.
Angst ist kein guter Wegweiser
Wichtig ist auch das zweite Kapitel über die Angst als narzisstisches Gefühl. Im Vergleich mit den antisemitischen „Protokollen der Weisen von Zion“ zeigt Nussbaum, wie Angst funktioniert und welche Wirkung mit ihrer Instrumentalisierung erzielt werden kann. Sie beschreibt zentrale Elemente und Mechanismen: Realitätsfiktion, Ersatzerklärung und Rekurs auf das verborgene Böse, Verfügbarkeitsheuristik und Reputationskaskade. Angst kann Gutes bewirken und auch heute noch sinnvoll eingesetzt werden: Nussbaum erinnert auf deren erfolgreiche, weil Menschenleben rettende Instrumentalisierung im Zuge einer Hurrikan-Katastrophenvorsorge an der Ostküste der USA 2011. Generell aber ist Angst für Nussbaum heute kein guter Wegweiser mehr: „Was den Menschen in der evolutionären Vorzeit das Überleben sicherte, ist heute längst nicht immer nützlich.“ Als politisch wacher und in Fragen von Diskriminierung sensibler Europäer sind mir sowohl ihre Analyse der anti-islamischen Minarett-Initiative in der Schweiz 2009 wie auch ihr Nachweis von Bezügen zwischen dem norwegischen Terroristen Anders Breivik und US-amerikanischen fremdenfeindlichen Gruppen und ebenso ihr Hinweis, dass das FBI zu Ausbildungszwecken über Jahre hinweg Islamdarstellungen fremdenfeindlicher Autoren verwendete, ein Gewinn.
Respekt und mitfühlende Phantasie
In ihrem fünften Kapitel über „Innere Augen: Respekt und mitfühlende Phantasie“ verweist Nussbaum auf die Macht von Erzählungen. In den Nachrichten unserer Tagen hören wir ja immer wieder davon, welche Bedrohung von Migranten vor allem muslimischer Religionszugehörigkeit ausgehen würden. Ohne diese kennen zu können, hält Nussbaum ihnen Erzählungen über Freundschaft und Verständigung entgegen: „Wie ist deine Stimmung, Nétop?“ und „Nétop heißt Freund“ zitiert Martha Nussbaum die ersten Sätze aus Roger Williams A Key into the Language of America über die Sprache der Narrangasset-Indianer und gelangt über Lessings Nathan der Weise und George Eliots Daniel Deronda zu Marguerite de Angelis Kinderbüchern Thee! Hannah! und Bright April. Nussbaum tut gut daran, uns an die Kraft von Erzählungen und Mythen zu erinnern:
„Gute politische Leitlinien und stringente Argumente wirken nur vor dem Hintergrund ethisch gegründeter Wahrnehmungen, und diese Wahrnehmungen bedürfen der Phantasie. Nur die 'inneren Augen' können uns mitteilen, dass das, was wir sehen, ein vollgültiger Mensch ist, der Wünsche und Ziele hat und eben keine Waffe ist, die unsere Sicherheit bedroht, oder ein Stück Müll.“
(1) Prinzip der Neutralität: „Gesetze, die religiösen Glauben nicht unter Strafe stellen, und Gesetze, die die religiöse Praxis nicht diskriminieren […] müssen […] auf jedermann in religiösen Belangen anwendbar sein“.
(2) Prinzip des Ausgleichs: „da Gesetze in einer Demokratie immer durch Mehrheiten gemacht werden und also naturgemäß stets Vorstellungen verkörpern, die der Mehrheit dienlich sind, […] können sie sich gegenüber Minderheiten als ungerecht erweisen... [Deshalb sollte] dem Minderheiten-Gläubigen eine bestimmte Ausnahme […] gewährt werden“.
Nussbaum, Martha
Die neue religiöse Intoleranz
Ein Ausweg aus der Politik der Angst
Wissenschaftliche Buchgesellschaft
2014
http://www.wbg-wissenverbindet.de/
Ravinder Salooja, Prälaturpfarrer in Heilbronn, Dienst für Mission, Ökumene und Entwicklung (DiMOE) Evangelische Landeskirche in Württemberg, November 2015