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Meditation zur Jahreslosung 2011
''Laß dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem.'' - Römer 12, 21
Gedanken rund um die Jahreslsoung 2011 von Stoa und Arthur Schopenhauer über Johannes Calvin und Ulrich Wickens zu einer Erzählung aus dem Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes von Johann Peter Hebel
Liest man diesen Vers so isoliert, wie er hier als Jahreslosung 2011 präsentiert wird, dann scheint es sich um kaum mehr als um eine allgemein gültige ethische Maxime zu handeln, wie sie seit der antiken Philosophie, etwa in der Stoa, immer wieder vertreten worden ist. So schreibt Arthur Schopenhauer, vor 150 Jahren in Frankfurt am Main gestorben, im § 6 seiner „Preisschrift über die Grundlage der Moral“, der vom „obersten Grundsatz der Kantischen Ethik“ handelt, er wolle „das Prinzip, den Grundsatz, über dessen Inhalt alle Ethiker eigentlich einig sind, in so verschiedene Formen sie ihn auch kleiden, gleich hier auf den Ausdruck zurückführen, den ich für den allerfeinsten und reinsten halte: <Neminem laede, imo omnes, quantum potes, iuva!> [Verletze niemanden, vielmehr hilf allen, soviel du kannst!] Dies ist eigentlich der Satz, welchen zu begründen alle Sittenlehrer sich abmühen, das gemeinsame Resultat ihrer so verschiedenartigen Deduktionen …“
Nun, Paulus ist sicher kein Sittenlehrer im Schopenhauerschen Sinne, aber den Satz „Laß dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem“ hat er sehr wohl deduziert, also hergeleitet. Er ist nämlich ohne seinen Zusammenhang gar nicht zu verstehen, ja, er ist vielmehr End- und Höhepunkt einer Deduktion, die sich in den vorher gehenden Versen findet. Die Verse 17-21 stellen nämlich eine thematische Einheit dar. Der gesamte Abschnitt erst macht deutlich, dass es in Vers 21 eben nicht um eine allgemein gültige ethische Maxime geht. Denn Paulus wendet sich hier an einen genauen Adressaten, die christliche Gemeinde, die sich als Ganze, wie auch in ihren einzelnen Mitgliedern, von jüdischen und heidnischen Gegnern bedrängt und bedroht sieht. Ihr gilt in dieser gefahrvollen, vielleicht sogar lebensbedrohenden Situation die apostolische Mahnung, nicht Böses mit Bösem zu vergelten, sondern es zu wagen, das Böse mit Gutem zu überwinden. Der Aufruf, wenn immer möglich Frieden zu bewahren, gründet in der Erfahrung, dass Friede nur zustande kommt, wenn alle Beteiligten sich um ihn bemühen. Daher darf es unter keinen Umständen dazu kommen, dass Christen ihnen angetanes Unrecht selbst rächen, sondern sie sollen die Vergeltung Gott überlassen. Das darf freilich keinesfalls bedeuten, dem Gegner die göttliche Vergeltung geradezu an den Hals zu wünschen. Feurige Kohlen auf sein Haupt zu sammeln bedeutet vielmehr, so hofft Paulus wohl, ihn durch Taten der Liebe zu Schuldbewusstsein, Scham und Reue zu bewegen. Calvin, in seinem Kommentar zur Stelle (ich zitiere aus J.C., Auslegung der Heiligen Schrift, Neue Reihe 16. Band, Neukirchen 1960): „Ich glaube, dass der Apostel einfach sagen will, dass der Sinn des Feindes nach irgendeiner Richtung zur Entscheidung getrieben werden muß. Die Wohltaten werden ihn entweder milde stimmen, oder, wenn er mit seiner allzu großen Heftigkeit dazu nicht fähig sein sollte, so wird das Zeugnis seines Gewissens so in ihm brennen, dass er wenigstens spüren muß, wie wir mit unserer Güte innerlich den Sieg über ihn davontragen.“
Zwar fehlt im ganzen Abschnitt ein ausdrücklicher christologischer Bezug, gleichwohl ist er implizit darin enthalten. Und das unterscheidet denn auch den Vers 21 von dem Prinzip und dem Grundsatz, „über dessen Inhalt alle Ethiker eigentlich einig sind“, wie Schopenhauer meint. Denn da durch Christi Tod und Auferstehung dem Bösen die Macht genommen worden ist, ist es dem Christen in der Kraft des Geistes möglich, der Mahnung des Paulus nachzukommen, sich nicht vom Bösen überwinden zu lassen, sondern es umgekehrt mit dem Guten zu überwinden. Würde der Christ Böses mit Bösem vergelten, so hätte das Böse über ihn gesiegt und er selbst Christus verleugnet. Der Sieg Christi über das Böse soll jedoch im Verhältnis der Menschen untereinander offenbar werden. Wo wir ihm Raum geben, wird Gewalt nicht mit Gegengewalt, sondern in der Kraft eben jenes Sieges überwunden, die unser Herz erfüllt, so dass es auch dem Feinde nur Gutes will. Noch einmal Calvin: „Vergelten wir dagegen Böses mit Gutem, so beweisen wir damit die unbesiegte Stärke unseres Geistes, und das ist ohne Zweifel der schönste Sieg, dessen Frucht wir nicht nur spüren, sondern auch sehen werden.“ Diese Liebe soll nicht nur das Zusammenleben innerhalb der christlichen Gemeinde prägen, sondern darüber hinaus auch die Begegnung mit der jüdischen und heidnischen Nachbarschaft. Hier kann es keine unterschiedlichen Standarts geben, für die einen, die dazu gehören und für die anderen, die außen vor sind. So kann Ulrich Wilckens, Professor für Neues Testament in Hamburg und danach von 1981-1991 Bischof in der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche in seiner kommentierenden Übersetzung des Neuen Testaments, die 1970 erstmals erschienen ist und seither immer wieder nachgedruckt wurde, zu Recht vom Vers 21 sagen, er sei „eine magna charta des Christlichen“.
An Johann Peter Hebel, vor 250 Jahren im reformierten Basel geboren und getauft, den studierten Pfarrer, der sich große Verdienste um die Union der Lutheraner und Reformierten zur Landeskirche des neugegründeten Großherzogtums Baden erworben hatte, deren oberster Geistlicher er als Prälat von 1819 bis zu seinem Tode 1826 gewesen ist – an ihn also ist zu Recht vielfältig und festlich in diesem Jahre erinnert worden. Ehrlich gesagt allerdings kaum an den Theologen. Denn groß und berühmt geworden ist er als Verfasser der „Alemannischen Gedichte“ und mehr noch als Kalenderschreiber, als „rheinischer Hausfreund“, dessen „Schatzkästlein“ bis heute Bewunderung und Entzücken erregt. Freilich kann sich der Theologe auch im Schatzkästlein nicht gänzlich verleugnen, und so finden wir dort eine Reihe von Geschichten, die geradezu theologisch imprägniert sind. Eine davon heißt „Der Husar in Neiße“ >>> und in ihr spielt unser Text die entscheidende Rolle.
Während der französischen Revolution kamen preußische Soldaten als Besatzung in die Champagne, unter ihnen ein Husar. Er nimmt einer Familie ihr ganzes Geld, „zuletzt auch noch das schöne Bett mit nagelneuem Überzug, und misshandelte Mann und Frau. Ein Knabe von 8 Jahren bat ihn knieend, er möchte doch seinen Eltern nur das Bett wiedergeben. Der Husar stößt ihn unbarmherzig von sich. Die Tochter läuft ihm nach, hält ihn am Dolman fest, und fleht um Barmherzigkeit. Er nimmt sie und wirft sie in den Sodbrunnen, so im Hofe steht, und rettet seinen Raub.“ Nach seinem Abschied aus der Armee lässt er sich im schlesischen Neiße nieder. Im Verlauf der preußischen Niederlage gegen Napoleon 1806 wird ein junger französischer Sergeant in Neiße abends bei einer Frau einquartiert. Er ist der Sohn des geplünderten Mannes in der Champagne und erkennt in dem Bett, in dem er schläft, jenes Bettzeug wieder, das seinen Eltern vor 18 Jahren geraubt worden war, „die roten Namensbuchstaben, womit sie die Mutter gezeichnet hatte, waren ja auch noch daran.“ Die Frau erzählt ihm, dass sie das Bettzeug von einem Husaren gekauft habe, der hier in Neiße wohne und sie führt den Sergeanten dorthin. Er stellt den Husaren zur Rede und der merkt, dass er den Sohn der Familie vor sich hat, dessen Eltern er geplündert und dessen Schwester er zu Tode gebracht hatte.
„Der geneigte Leser denkt vielleicht: Jetzt wird der Franzos den Husaren zusammenhauen, und freut sich schon darauf. Allein das könnte mit der Wahrheit doch nicht bestehen. Denn wenn das Herz bewegt ist, und vor Schmerz fast brechen will, mag der Mensch keine Rache nehmen. Da ist ihm die Rache zu klein und verächtlich und er denkt: Wir sind in Gottes Hand, und will nicht Böses mit Bösem vergelten. So dachte der Franzose auch, und sagte: ‚Daß du mich misshandelst hast, das verzeihe ich dir. Daß du meine Eltern misshandelt und zu armen Leuten gemacht hast, das werden dir meine Eltern verzeihen. Daß du meine Schwester in den Brunnen geworfen hast, und ist nimmer davon gekommen, das verzeihe dir Gott.’ - Mit diesen Worten ging er dort, ohne dem Husaren das geringste zuleide zu tun, und es ward ihm in seinem Herzen wieder wohl. Dem Husaren aber war es nachher zumut, als wenn er vor dem Jüngsten Gericht gestanden wäre, und hätte keinen guten Bescheid bekommen. Denn er hatte von dieser Zeit an keine ruhige Stunde mehr, und soll nach einem Vierteljahr gestorben sein."
Pfr. Hans-Peter Friedrich, Evangelische Kirche im Rheinland