Neujahrspredigt zur Jahreslosung 2012: 2. Korinther 12,9

von Martin Filitz, Domprediger zu Halle

"Doch der Herr hat zu mir gesagt: »Meine Gnade ist alles, was du brauchst, denn meine Kraft kommt gerade in der Schwachheit zur vollen Auswirkung." (NGÜ)

Predigttext:  2. Korinther 12,9
Predigtlied: EG
Schriftlesung: Lukas 4, 16-21
Wochenspruch: Johannes 1,14
Wochenpsalm: Psalm 8
Heidelberger Katechismus: Frage 28       

Doch der Herr hat zu mir gesagt: »Meine Gnade ist alles, was du brauchst, denn meine Kraft kommt gerade in der Schwachheit zur vollen Auswirkung. (NGÜ)

Und er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. (Luther 1984)

Liebe Gemeinde,

sich seiner Schwachheit rühmen, das klingt absurd. Und in unserem Verständnis ist es wohl auch so. Man rühmt sich seiner Stärken. Man zeigt, was man zu bieten hat, und das auf allen Gebieten. Wenn man uns als Kinder noch beigebracht hat „Eigenlob stinkt“ – in vielen Bereichen ist das heute ganz normal geworden. Man bekommt nur dann einen Arbeits- oder Ausbildungsplatz, wenn die Bewerbungsmappe top ist. Jede noch so kleine Fort- und Weiterbildung muss durch ein Zeugnis dokumentiert sein, damit man etwas vorweisen kann, und sei es, dass man sich auf nicht gerade üblichem Weg einen Titel verschafft, der bei Freunden und Feinden Eindruck machen soll. Niemand prahlt mit seinen Schwächen! Seine Stärken kehrt man hervor. Alle Welt soll sehen, was für ein toller Hecht dieser Mensch ist und dass er unter den anderen Menschen wirklich einen besonderen Platz einnimmt, oder einen besonderen Platz ein nehmen muss.

Das ist in der Kirche auch nicht anders als in der Freien Wirtschaft. Wer sich auf eine Pfarrstelle bewirbt,  und dem erwartet man, dass er oder sie nahezu alles kann: Kinder und Jugendarbeit, er oder sie soll Leitungs- und Gremienerfahrung haben, eine positive Ausstrahlung, soll mit den Alten ebenso gut können wie mit den Jungen. Wenn die Gemeinden, die ihre Pfarrstellen ausschreiben einmal kritisch sehen würden, was sie eigentlich von einem Menschen verlangen, und dass das meist übermenschlich ist, vielleiht würde manche Stellenanzeige bescheidener und damit auch ehrlicher ausfallen.

Niemand prahlt mit seinen Schwächen – niemand? Paulus scheint das anders zu sehen. Man erzählt sich die Anekdote, dass ein Presbyterium einen Pfarrer sucht. Alle Bewerber sind bisher abgelehnt worden. Der eine war zu ruhig, der andere zu verkopft, der dritte verstand nichts von der Verwaltung und der vierte hatte keinen Sinn für Kirchenmusik. Zum Schluss der Sitzung sagt der Vorsitzende: Ich habe hier noch eine Bewerbung. Es ist ein Mann in den besten Jahren, er hat reichlich Erfahrung, hat es aber nirgendwo lange ausgehalten. Meist hat es um seine Person Streit gegeben. Er selbst ält sich durchaus für begabt, aber die Gemeinden, mit denen er zu tun hatte, sagen, er sei ein schlechter Redner. Darauf ein Presbyteriumsmitglied. Über diese Bewerbung müssen wir gar nicht weiter reden. Der Mann kommt für uns nicht in Frage. Darauf der Vorsitzende: Es handelt sich bei dieser letzten Bewerbung um ein Berufs- und Lebensbild des Apostels Paulus.

Paulus hätte keine Chance gehabt, genommen zu werden. Eine Pfarrstelle hätte er nicht bekommen, weder in der Evangelischen Kirche Sachsens noch in der Ev. Kirche Mitteldeutschland. Da setzt man auf bessere Gestalten, auf Menschen, die die Kirche zukunftsfähig machen, aber nicht für solche, die sich ihrer Schwachheit rühmen wollen. Man muss schon nicht alle beisammen haben, wenn man sich an Leute ausliefert, die offensichtlich nichts darstellen und auch nichts darstellen wollen.

Es ist wahr: Paulus hat es schwer gehabt. Und der Satz, dass Gottes Kraft in der Schwachheit zu ihrem Ziel kommt, ist ihm auch nicht einfach an einem lauen Sommerabend in die Feder geflossen. Man sagte Paulus nach, dass seine Briefe stark und kräftig seien, dass er aber in der unmittelbaren Begegnung eher schwach wirke. Kein Mann, mit dem man Staat machen kann. Erfolgreiche Missionare stellt man sich anders vor.

Und dann, im 2. Brief an die Korinther gibt er auch noch gesundheitliche Probleme zu. Er spricht von einem Satansengel, der ihn mit Fäusten schlägt. Das ist heftig. Unzählige Versuche hat es gegeben, aus dem zeitlichen Abstand eine Diagnose seiner Krankheit zu stellen. Es spricht einiges dafür, dass Paulus unter Epilepsie gelitten hat, einer Anfallskrankheit, die Menschen jäh überfällt, und die nicht vorhersehbar ist. Für einen Missionar Jesu Christi eine schlimme Einschränkung. Strahlende Menschen wissen, zu überzeugen. Man muss gut aussehen wie der Amerikaner Billy Graham, der erfolgreichste Missionar aller Zeiten. Paulus kann die Erwartungen nicht erfüllen.

Er schreibt, wie er darunter gelitten hat. Er berichtet, wie er gebetet hat: dreimal habe ich zum  Herrn gebetet. Und der Herr hat seine Bitte nicht erfüllt. Paulus wurde nicht von seiner Krankheit befreit. Aber in seiner Krankheit hat er das Wort gehört, das zur Jahreslosung 2012 geworden ist: Laß die an meiner Gnade genug sein! Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Oder, wenn man es genau übersetzt: Meine Kraft kommt in der Schwachheit zu ihrem Ziel. Das ist eine Glaubenssaussage. Und ihr liegt eine Galubenserkenntnis zu Grunde.

Sichtbare Stärke ist für den Glauben kein Maßstab. Es hat genug Mächtige gegeben, die ihre Stärke zur Schau getragen und damit ganze Völker ins Unglück gestürzt haben. Man braucht kein klingendes Spiel, keine beeindruckenden Aufmärsche und keine Hofberichterstattung, die immer nur das Positive hervorhebt, und die die Schattenseiten nicht sieht und nicht sehen will.

Niemand braucht Menschen, die vor Kraft nicht gehen können, die starke Worte gebrauchen, und denen es an Einsicht und Vernunft fehlt, die Dinge mit Augenmaß zu regeln. Kraftmeier erreichen nur selten, was sie als Programm vorgegeben haben.

Meine Kraft kommt in der Schwachheit zum Ziel, sagt der auferstandene Christus dem verzweifelten Paulus. Das ist dem zum entscheidenden Wort seines Lebens geworden. Auch Christus, auch der Herr hat nicht mit Erfolgen geglänzt. Wenn die Menschen ihm zujubelten, dann hat er sich zurückgezogen. Seine Schwachheit wurde offenkundig, als man ihm in Jerusalem den Prozess machte. Die jüdische Priesterschaft und der römische Prokurator waren sich einig: der muss weg, sagten sie, und die Leute, die bezahlten Claqueure brüllten: Kreuzige ihn! Seine Nachfolger hatten weder den Mut noch die Kraft, der Stimme dieser Leute auf dem Hof der Burg Antonia wirkungsvoll zu widersprechen. Der gefolterte und dornengekrönte Jesus ist ein Bild des Jammers. Keine Spur von Macht und Kraft. Lass sehen, ob Elias komme und ihm helfe, spotten die Passanten als Jesus in seiner Verzweiflung nach Gott ruft.

Meine Kraft kommt in der Schwachheit zu ihrem Ziel, sagt der auferstandene Christus zu Paulus. Es gibt wohl kein sprechenderes Zeichen für die Schwachheit Jesu als Folter und Kreuz. Kein Machtwort Gottes, dass den Quälereien ein Ende gemacht hätte. Das Erdbeben von Golgatha haben nur die Verstanden, die wussten, dass Gott am Kreuz hing, dass das Leben selbst dem Tode entgegendämmerte, das Leben selbst dem Fluchtod am Kreuz.

Gott kommt in der Schwachheit Jesu zu ihrem Ziel. Gott schenkt Leben, indem er selbst sein Leben lässt. Glanz und Glamour mögen die Mächtigen dieser Welt für sich beanspruchen. Der lebendige Gott geht den unteren Weg. Er bleibt den Menschen nahe bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuz.

Gottes Hoheit ist seine Niedrigkeit. Wer hätte sich jemals denken können, dass Gott am Rande der Welt in einer Krippe zur Welt kommt.  Mensch wird und Mensch bleibt? Gott gehört in die höchsten Höhen, in die goldenen Tempel und in die prächtigsten Kathedralen. Niemand wir ihn in der Schwachheit suchen, im Stall, bei den Hirten.

Wer wäre je auf den Gedanken, Gott in der schwächsten Schwachheit zu suchen, dort, wo er sich selber nicht mehr helfen kann, und wo er dem Spott der Passanten ausgeliefert ist?

Paulus selbst ist nicht müde geworden, Christus, den gekreuzigten weiterzusagen. Jetzt ist er selbst gefragt, wo er für sich Gott sucht. Ob er ihn nur im Himmel haben will, umgeben von Engeln, ausgestattet mit aller Macht im Himmel und auf Erden; oder ob Paulus sich an den hält, von dem er immer geredet hat: Christus, den gekreuzigten, der den zerschlagenen nahe ist, denen, die aus eigener Kraft nicht mehr zurecht kommen, die schon mitten im Leben vom Tode gezeichnet sind. Ob er auf den Gott setzt, der keine strahlenden Propheten braucht, keine medienwirksamen Prediger, sondern der – wie Paulus selber es sagt – durch die törichte Predigt weitergesagt werden will.

Die Jahreslosung soll uns ein Jahr lang begleiten. Wir werden uns von Zeit zu Zeit an sie erinnern, besonders dann, wenn wir uns ohnmächtig fühlen, wenn wir spüren, dass wir nicht mithalten können mit den werbewirksamen Sprüchen, den Hochglanzbroschüren, den massenwirksamen Aktionen und Events.

Wir werden uns daran erinnern, wenn wir uns nach einem göttlichen Machtwort sehnen, das der ganzen Falschheit, der ganzen Blenderei und dem ganzen Mummenschanz, dem wir ausgesetzt sind, endlich ein Ende macht.

Wir werden uns an die Jahreslosung erinnern, wenn wir selber uns von den Großen Aktionen das Entscheidende erwarten.

Das ist keine Rede, die der Bequemlichkeit das Wort gönnt. Schwachheit ist auch kein Erfolgsprinzip und Faulheit ist nicht geeignet, das Evangelium unter die Leute zu bringen. Die Schwachheit wird gerade dann spürbar, wenn der Glaube in die Konflikte gerät, wenn er sich bewähren muss und erkennt, dass er keine Stütze hat außer dem, der selber schwach geworden ist, um uns das Leben zu geben, das kein Tod mehr zerstören kann.

Die Schwachheit, von der Paulus schreibt, ist kein Trick, um Stärke vorzutäuschen. Das gaukeln die Gruppen vor, die wirklich Macht erreichen wollen. Sie geben vor, dass sie verfolgt werden und ausgegrenzt. Und dann, wenn sie Oberwasser haben, dann  schlagen sie erbarmungslos zu und verschleiern ihre Gewalt als Notwehr, die sie leider haben anwenden müssen, weil sie angegriffen worden sind.

Die Schwachheit, von der Paulus schreibt, ist die Schwachheit des Kreuzes. Es ist die Schwachheit, die nicht beweisen kann, dass sie eine notwendige Folge der Wahrheit ist, die in der Welt und bei den Einflussreichen auf Widerstand stößt. Diese Schwachheit ist keine Masche, sie ist das Zeichen Gottes in der Welt. Sie ist die Zweideutigkeit, in der wir leben, bis zu dem Tag, an dem es keine Zweideutigkeiten mehr gibt, an dem alles klar und alles gut ist und Gott sein wird alles in allen. Immerhin fällt das Licht von Ostern auf unsere Schwachheit. Dieses Licht wird uns leuchten und uns begleiten alle 366Tage des Neuen Jahres hindurch. Amen

Gottesdienst am Sonntag, dem 1.Januar 2012 um 10.00 Uhr im Ev.-ref. Domgemeindehaus Halle –  Neujahrstag


Domprediger Martin Filitz, Halle, Dezember 2011