Provokation

Herausforderung

Absurdes und Nachdenkenswertes aus den sozialen Medien kommentiert von Georg Rieger

Ordnung, Recht und Freiheit

»Der von den Kirchen heute wie morgen zu vertretende christliche Begriff des rechten Staates hat zweifellos eine bestimmte Grenze und eine bestimmte Richtung. Indem er auf Ordnung zielt, widerspricht und widersteht er aller politischen, sozialen und wirtschaftlichen Tyrannei und Anarchie. Und indem er das gemeinsame Recht und die persönliche Verantwortlichkeit zum Maßstab der Ordnung macht, liegt die Demokratie mehr in seiner Linie als eine aristokratische oder monarchische Diktatur, der Sozialismus mehr als die ungebundene Wirtschaft und das auf sie begründete Gesellschafts- und Erwerbssystem, eine Föderation freier (auch vom Nationalitätenprinzip möglichst freier!) Staaten mehr als das Nebeneinander unabhängiger und unkontrolliert konkurrierender Nationalstaaten.« (Karl Barth, Brief an einen amerikanischen Kirchenmann (1942), in: Eine Schweizer Stimme: 1938-1945, 292)

Alleinseligmachend

»Wie Mancher, der einst nicht genug seiner Freiheit und Weitherzigkeit sich rühmen konnte, solange er selber noch suchte und tastete und probierte, ist später zu einem alten Fanatiker geworden, zu einem Pfaffen irgend einer kleinen Erkenntnis, die er gemacht und schleunigst für alleinseligmachend erklärt hat. Auf religiösem Gebiet ist es unendlich oft so gegangen. Wie es in der Politik geht, können wir alle Tage sehen: wie da die kurzsichtigsten Gesellen gegeneinander losziehen und die Welt mit Unfrieden erfüllen, nur weil sie über dem kleinen Bröcklein Recht, das sie haben mögen, alles Andre vergessen, vor Allem das Bröcklein Recht, das auch ihr Gegner hat!« (Karl Barth, Predigt zu Mt 16,13-17, in: Predigten 1913 (GA I.8), 384) 

Gänzlich unfähig

»Wieder haben wir (…) unter Sachlichkeit allzu oft etwas Anderes (...) verstanden: die Hingabe an irgend einen Zweck, der uns aus irgend einem Grund groß und erstrebenswert erschien, der aber gerade mit Menschlichkeit, Menschenrecht, Menschenfreiheit und Menschenwürde, nichts zu tun hatte (...). Wir haben (...) fortgefahren, ein System aufrecht zu erhalten und zu verteidigen, unter dessen Herrschaft die (…) Menschen immer dadurch bedroht sein werden, dass es dabei im Grunde nicht um sie als Menschen, sondern seelenlos und leiblos zugleich und also unmenschlich nur um eine Sache, nämlich um die Vermehrung oder viel mehr Verschiebung der fiktiven Größe ›Kapital‹ gehen kann, als deren Sklaven sie alle – die Arbeitgeber nicht weniger als die Arbeitnehmer – zu funktionieren haben. (...) Bis es offenbar wurde, daß die hochentwickelte moderne Wirtschaft – als wäre sie von Idioten oder Wahnsinnigen dirigiert – (...) einer sinnvollen Verteilung von Arbeit und Arbeitsertrag gänzlich unfähig war.« (Karl Barth, Die geistigen Voraussetzungen für den Neuaufbau in der Nachkriegszeit (1945), in: Eine Schweizer Stimme: 1938-1945, 422f).

Grundfragwürdig

»Bilder von alten Pastoren mögen in der Kirche allenfalls erträglich sein, Bilder von Gott oder Christus sind im Museum oder als Zimmerschmuck möglich, in der Kirche dagegen (!) genau genommen durchaus unmöglich und unerträglich. Der Kruzifixus, den man sehen und abbilden und dann im Abbild wieder sehen kann, ist eben gerade nicht der offenbare Gott, sondern nur die menschliche Natur Christi, deren isolierte Betrachtung an der Stätte, da der offenbare Gott verkündigt und angebetet werden soll, fast notwendig verwirrend und verführerisch wirken muss. Den offenbaren Gott in der menschlichen Natur Christi kann jede Darstellung nur verdunkeln. Kein Wunder, dass die Geschichte des Christusbildes ein so grundfragwürdiges Kapitel in der Kunstgeschichte ist. Es wäre vielleicht wirklich besser gewesen, die Künstler hätten überhaupt die Finger davon gelassen.« (Karl Barth, in: Unterricht in der christlichen Religion 2 1924/25 (GA II.20), 152f)
 

Machtbeweise

»Kriege und Revolutionen, Wahlen und Abstimmungen, Strafen und Machtbeweise jeder Art der einen Menschen über die anderen sind unvermeidlich, aber nur als göttliche Gerichte. Quellen der Erlösung sind solche Ereignisse nicht. Sie vermehren das Leiden der Menschheit, sie führen tiefer und tiefer in den Urwald der Not hinein« (Karl Barth, Predigt zu Mt 26,47-56, in: Predigten 1919 (GA I.39), 111f) 

Twitter-Krieger

»Das Gewöhnliche hat den Krieg verursacht: keine Schurken, keine Mörder, keine Verbrecher und Untäter. Lauter tüchtige, arbeitsame, christliche Völker sind es, die sich jetzt bis aufs Messer bekämpfen, (...) und sie tun es alle im vollen Bewusstsein ihrer Gerechtigkeit. Und sehr feine, gebildete, wohlmeinende Herren sind auch die Regierenden alle, die vor einem Jahr einander den Krieg erklärt haben, mindestens so fein und wohlmeinend als du und ich, wenn wir Fürsten und Minister wären; und auch sie sagen: unsere Sache ist gerecht, und glauben in allem Ernst daran, und sie ist auch wirklich gerecht, so gerecht, als eben das Gewöhnliche in den Menschen: die Selbstsucht und der Hochmut und die Rücksichtslosigkeit nur immer sein können, nur dass leider diesmal aus lauter Gerechtigkeit der entsetzlichste Krieg entstand. Der Krieg ist nichts Außerordentliches, 99 % der Menschen haben einfach nicht das Recht dazu, den Krieg einen Wahnsinn und ein Verbrechen zu heißen. Der Krieg ist nur die Folge des Gewöhnlichen, die Folge der Gerechtigkeit der 99. Sieh, sagt uns der Krieg: so wirkt das Gewöhnliche! Und nun hast du also etwas gemerkt, ob durch den Krieg oder sonst: hast gemerkt: das Gewöhnliche ist die Sünde« (Karl Barth, Predigt zu Lk 15,3-7, in: Predigten 1915 (GA I.27), 393f)

Protuberanzen

»Das ist's nämlich, was allen jenen [untergründigen] Gewalten (...) gemeinsam ist: sie, diese merkwürdigen Protuberanzen des dem Menschen als Gottes Geschöpf verliehenen Vermögens wirken nicht für, sondern gegen den Menschen. Sie bringen ihm (...) allesamt keine Lebenshilfe: nicht die Befreiungen, Stärkungen, Erleichterungen, Vereinfachungen und Bereicherungen, die er sich von ihnen verspricht. (…) Sie stören sein Leben, und sie müssten und würden es, (…) wenn ihnen nicht Halt geboten würde, zerstören. Gerade als Entfaltungen und Bewährungen seiner Freiheit, als Gestaltungen seiner inneren und äußeren Lebenskraft und Lebenslust, als mächtige Erfüllungen, Erweiterungen und Vertiefungen seines geschöpflichen Daseins stellen sie sich ihm zwar, wenn sie sich noch im Status nascendi befinden, dar, locken und fordern sie ihn heraus, es in immer neuen Experimenten und Unternehmungen mit ihnen zu wagen. Sie sind aber nicht umsonst die Fiktionen, die Illusionen, die Lügengeister, die sie sind. (...) Sie berauben die Menschen gerade ihrer von ihnen missbrauchten und damit im voraus preisgegebenen Freiheit. Sie unterdrücken die Menschen, sie bewegen sie nach den Gesetzen ihrer eigenen Dynamik und Mechanik. Sie machen sie zu Untertanen, zu Papageien, zu Drahtpuppen oder eben: zu Robotern.« (Karl Barth, § 78 Der Kampf um die menschliche Gerechtigkeit; in: Das christliche Leben 1959-1961 (GA II.7), 397f) 

Männerheim(at)

»Wie fremd und wie weit weg ist für uns Palästina, die Heimat Jesu. Und grad aus dieser Fremde kam zu uns die erlösende Botschaft und das Kreuz, welches wir zum Zeichen unserer Heimat machten. Ach, Heimat und Fremde sind keine Gegensätze. Jenseits der Grenzen sind auch Menschen, sind Kinder des Vaters im Himmel, mit denen er die nämlichen [=dieselben] Absichten hat, wie mit uns. Das Fremdartige ist nur äußerlich, durch die andern Lebensbedingungen, das andere Klima oder durch andere Schicksale hervorgebracht. Überall aber ist die Sehnsucht nach Gott und nach seinem Frieden, überall aber auch Not und Knechtschaften. Durch Christus aber sind alle Völker berufen zu derselben Hoffnung des Reiches Gottes.« (Karl Barth, Unterweisungsjahr 1916/17, in: Konfirmandenunterricht 1909-1921 (GA I.18), 174)

Ungeheuer

»Eines aber hat mit dieser ganzen [technischen] Entwicklung keineswegs Schritt gehalten, nämlich das gewissenhafte Antworten auf die einfache Frage nach der Lebensnotwendigkeit all dieses Könnens und Wollens. (…) wieviele von unseren modernen Bedürfnissen sind nun eigentlich notwendige: gerechtfertigte, gesunde und auch nur echt empfundene Bedürfnisse? Sind uns – um nur Eines zu nennen – alle die Verkehrsbeschleunigungen, die uns heute angeboten sind, wirklich unentbehrlich? Wegen der Zeit, die wir damit gewinnen? Als ob die vernünftigen Menschen vergangener Tage bei weniger raschem Verkehr für das wirklich Notwendige nicht genug Zeit gehabt hätten! Und als ob die Unvernünftigen unserer Tage nicht für das Notwendige bei aller Raschheit unseres Verkehrs immer noch zu wenig Zeit hätten! Ist es nicht klar, dass zwischen dem heutigen technischen Können, Wollen und Vollbringen und seinem Angebot auf der einen, und dem echten menschlichen Bedarf, (...) die seltsamste Kluft besteht? (...) Es kann nicht anders sein: die unsere wirkliche Lebensnotwendigkeit überschießende Macht, die Technik, die im Grunde sich selber Sinn und Zweck ist, die, um bestehen und um sich weiter verbessern zu können, immer neue problematische Bedürfnisse erst hervorrufen muss, muss wohl das Ungeheuer werden, als das es sich heute weithin darstellt, muss schließlich, absurd genug, zur Technik der Störung und Zerstörung, des Krieges und der Vernichtung werden.« (Karl Barth, § 55 Freiheit zum Leben, in: KD III,4 (§§ 52-56), 450f)

Spa(h)n-Plattenpresse

»Ein feinsinniger christlicher Denker der Gegenwart (Wilfred Monod) hat bemerkt, indem wir das Abendmahl feiern, vollziehen wir jedesmal still und unsichtbar einen vollständigen Umsturz der gegenwärtigen Welt- und Gesellschaftsordnung. Es ist wahr. Da essen wir alle vom selben Brot und trinken vom selben Wein, aus denselben Händen empfangen wir Alles; da ist keiner bevorzugt und keiner benachteiligt, sondern Alle bekommen einfach, was sie brauchen. Das ist in der Tat vorläufig ein Bild aus einer andern, zukünftigen Welt und passt herzlich schlecht zu dem Jagen und Rennen und Rasen um Verdienst und Gewinn, von dem unser gegenwärtiges Leben beherrscht ist. Umso wertvoller ist es uns als Weissagung auf jene zukünftige Welt und als Mahnung, schon jetzt unser Herz dorthin vorauszuschicken und daran zu arbeiten, dass die bessere Zukunft Gegenwart werde.« (Karl Barth, Predigt zu 1. Kor 11,23-26, in: Predigten 1913 (GA I.8), 113f) 

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