Ungeheuer
»Eines aber hat mit dieser ganzen [technischen] Entwicklung keineswegs Schritt gehalten, nämlich das gewissenhafte Antworten auf die einfache Frage nach der Lebensnotwendigkeit all dieses Könnens und Wollens. (…) wieviele von unseren modernen Bedürfnissen sind nun eigentlich notwendige: gerechtfertigte, gesunde und auch nur echt empfundene Bedürfnisse? Sind uns – um nur Eines zu nennen – alle die Verkehrsbeschleunigungen, die uns heute angeboten sind, wirklich unentbehrlich? Wegen der Zeit, die wir damit gewinnen? Als ob die vernünftigen Menschen vergangener Tage bei weniger raschem Verkehr für das wirklich Notwendige nicht genug Zeit gehabt hätten! Und als ob die Unvernünftigen unserer Tage nicht für das Notwendige bei aller Raschheit unseres Verkehrs immer noch zu wenig Zeit hätten! Ist es nicht klar, dass zwischen dem heutigen technischen Können, Wollen und Vollbringen und seinem Angebot auf der einen, und dem echten menschlichen Bedarf, (...) die seltsamste Kluft besteht? (...) Es kann nicht anders sein: die unsere wirkliche Lebensnotwendigkeit überschießende Macht, die Technik, die im Grunde sich selber Sinn und Zweck ist, die, um bestehen und um sich weiter verbessern zu können, immer neue problematische Bedürfnisse erst hervorrufen muss, muss wohl das Ungeheuer werden, als das es sich heute weithin darstellt, muss schließlich, absurd genug, zur Technik der Störung und Zerstörung, des Krieges und der Vernichtung werden.« (Karl Barth, § 55 Freiheit zum Leben, in: KD III,4 (§§ 52-56), 450f)