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Psalm 87: Zion nenne ich Mutter
Predigt am 4. Advent. Von Albrecht Thiel, Dortmund
Gebet
Gott,
wie viele Bitten musst du täglich hören,
wie viele Wünsche, wie viele Klagen.
Mit allem, was uns das Herz schwer macht,
kommen wir zu dir
und drängen auf Hilfe.
Aber wann hören wir dich,
deine Bitten an uns,
deinen Schmerz
und deine Sehnsucht!
Gott,
öffne uns Ohren und Herz
für deine Stimme.
Mach uns bereit,
dir Antwort zu geben
mit Worten und Taten.
Lass dich erfreuen durch unser Lob.
Predigt
Liebe Gemeinde,
„Tochter Zion, freue dich“ – so haben wir gesungen. Mit der schmetternden, der geradezu triumphierenden Melodie des berühmten Georg Friedrich Händel. Zion – das ist der Berg, auf dem die Stadt Jerusalem erbaut ist. Aber geht es zu Weihnachten nicht viel mehr um Bethlehem, den Ort, wo Jesus geboren wird? Doch das Evangelium zum 1. Advent ist der Einzug Jesu in Jerusalem (die selbe Geschichte wird auch am Palmsonntag verlesen) – darum haben wir – passend zu dieser Geschichte – das Adventslied gesungen: „Dein Zion streut dir Palmen und grüne Zweige hin…“. Was bedeutet das, dass wir im Advent auch so laut und deutlich von Zion, von Jerusalem singen – von Gottes erster Liebe, sozusagen? Dazu möchte ich heute mit Ihnen den Psalm 87[1] bedenken – ein Lied, das gleichsam von Zion, von Jerusalem aus in die ganze Welt strahlt:
2 Gott liebt sie, die Tore Zions,
mehr als alle Wohnstätten Jakobs.
1b Seine Gründung liegt auf heiligen Bergen.
5b Er selbst, der Höchste, hat sie errichtet.
7 Und Sänger wie Tänzer – sie alle besingen dich.
3 Herrliches erzählt man von dir, du Stadt Gottes!
6 Gott zählt bei der Niederschrift der Völker auf:
4b/ 6b „Dieser ist da, jener ist dort geboren.
4a Ich erwähne das Ungetüm (Ägypten) und Babel
vor denen, die mich kennen;
ja, auch das Reich der Philister, Tyrus samt Äthiopien.
5 Doch Zion nenne ich Mutter,
Mann für Mann ist dort geboren.
Das ist eine Liebeserklärung! Wie schön, dass Gott nicht nur allgemein der „liebe Gott“ ist, sondern dass er mit ganzem Herzen die Tore Zions liebt. Wenn der Prophet hier von den Toren der Stadt spricht, dann geschieht das sozusagen aus der Perspektive des Pilgers: Er hat den Weg vom Rand des Landes zur Mitte hin auf seinen Füßen hinter sich, er ist den mühsamen Weg hinaufgewandert und dann sieht er – sehr weit oben – die prächtige Stadt. So zieht er duch die Tore ein und ist damit in Gottes Stadt.
Aber halt! Können wir das so sagen? Ist nicht unsere Stadt genau so Gottes Stadt wie Jerusalem? Ist das nicht ein veraltetes, ein enges, ein zu jüdisches Denken im Rahmen nationaler Vorstellungen? Eines, über das wir als Christen längst hinausgekommen sind. Die Antwort ist ein klares Nein: Wir kommen mit der Geschichte von Jesus Christus in das Land Israel und in kein anderes hinein. Unsere Heilsgeschichte ist keine andere als die des Volkes Israel. Darum haben die Christen immer nur ein Buch als ihre Heilige Schrift gehabt, nämlich das, was wir „Altes Testament“ nennen. Zu dem dann, gleichsam als Erfüllung, die Geschichte von Jesus Christus dazugekommen ist. „Was der alten Väter Schar höchster Wunsch und Sehnen war und was sie geprohezeit, ist erfüllt in Herrlichkeit.“ [2]– so nimmt eines unserer Adventslieder die Hoffnung des Propheten Jesaja auf und sagt: Die Geschichte von Abraham, Mose und David – diese Geschichte kommt in Jesus zum Ziel.
Darum gilt für uns: Mit dem Glauben an Jesus kommen auch wir in diese Geschichte hinein. Nicht Dortmund und auch nicht Rom sind in irgendeiner Weise heilige Städte, sondern einzig und allein die Stadt Jerusalem. Was ist nun das Besondere an dieser Stadt? Johannes Calvin, der große Lehrer unserer evangelischen Kirche, hat es so auf den Punkt gebracht: „Also hält der Prophet fest, warum Gott diesen einen Ort den anderen vorgezogen hat: Nicht wegen der Würde des Ortes, sondern wegen der großzügigen Liebe Gottes. Darum, wenn man fragt, warum oder woher Jerusalem so hervorragt, genügt die kurze Antwort: Weil es Gott gefällt. Darum geschah hier der Anfang der Liebe Gottes: Das Ziel aber (…) besteht in der Förderung der Einheit des wahren Glaubens bis zur Ankunft Christi. Und von dort soll es später in alle Gegenden der Welt strömen.“[3]
Gottes Liebe fällt auf diese Stadt. Das ist so ähnlich gesprochen, als wenn der liebevolle Blick eines Menschen auf einen anderen fällt. Gott handelt dort, mitten in der Menschenwelt. In jener Stadt, die am Anfang die „Stadt Davids“ hieß. Weil David Jerusalem erobert hatte und es dann, wie das Machthaber tun, zur Mitte seines Reiches gemacht hat. Aber bald ist nicht mehr von der „Stadt Davids“ die Rede und erst recht nicht von der Hauptstadt, sondern von der Stadt Gottes. Weil sich hier seine Geschichte mit den Menschen verdichtet, weil gerade dort, in Jerusalem, auch Jesu Geschichte ihren besonderen Tiefpunkt wie ihren besonderen Höhepunkt hat. Warum liebt Gott diese Stadt auch heute? Weil (Calvin beweist hier mit seinen Worten beinahe prophetische Kraft) Gott hier die Einheit des wahren Glaubens bis zur Ankunft Christi fördern will.
Vielleicht ist es ja wirklich so. Vielleicht ist Jerusalem das Brennglas, in dem Juden, Moslems und Christen zusammen leben sollen. In manchmal unerträglicher Spannung, in hohem Maße religiös aufgeladen – aber wo, wenn nicht hier, könnten Schritte zum Frieden gegangen werden? Auch das Gegenteil, auch Schritte zum Hass: Gottes Weg mit Jerusaelm ist ein unheimlich schmaler Grat.
Ich stelle als Christ noch einmal die Frage: Warum Jerusalem? Ich persönlich brauche keinen Tempel und keine Klagemauer für meinen Glauben. Aber ich höre den Glaubens-Satz, wie ihn der Prophet Jesaja ausspricht: „Gott hat den Zion gegründet; dort werden sich bergen die Elenden seines Volkes.“[4] Das ist erst einmal ein unvergleichlich großes Geschenk Gottes. Aber doch keines, mit dem die Bewohner Jerusalems stolz auf andere herabsehen können nach dem Motto: „Seht her, wir haben etwas, was ihr alle nicht habt!“ Nein, mit dem Geschenk, dass es Gottes Stadt ist, verbindet sich die Anweisung, nach Gottes Wort in Frieden und Gerechtigkeit zu leben.
Vor dem Zion „zerbrach Gott des Bogens Blitze, Schild und Schwert und Krieg“, „vor deinem Schelten, Gott Jakobs, lagen sie betäubt mit Wagen und Ross.“[5] – so ruft Gott im Psalm 76 das Ende aller Kriege hier, in Jerusalem, aus.
Und wenn die Stadt auch oft durch Feinde bedroht ist – sie ist es ebenso durch das Verhalten ihrer Bewohner[6]. Da mag noch so oft in ihrer Geschichte von „Gottes Stadt“ die Rede sein – die Bewohner sind nicht heilig, sie leben vielmehr in Unrecht und Gewalt. Gott aber heißt heilig, weil er die Stadt nicht sich selbst überlässt, sondern ihr immer wieder nahe kommt, damit sie eines Tages durch Recht und Gerechtigkeit erlöst wird[7]. Und wenn die Bewohner in den Jahrtausenden immer wieder verschleppt und besiegt, erniedrigt oder getötet wurden – dann macht sich an dieser Stadt doch auch immer wieder die Hoffnung fest. „Zion ist Mutterstadt des über die Völker zerstreuten Gottesvolkes.“ – so fasst es ein Kenner der jüdischen und christlichen Religion zusammen.[8] Dort wurden sie zerstreut, dort werden sie von Gott wieder gesammelt. Denn durch alles Elend hindurch leuchtet am Ende die Zusage des Propheten Sacharja auf, gleichsam das letzte Wort des Alten Testaments, das hinüberleuchtet ins Neue: „(Denn dann)… lautet die Zusage, dass Gott selbst nach Zion / Jerusalem zurückkehren und dort wohnen wird und (…) dass der Berg Gott Zebaoths ‚heiliger berg‘ heißen wird. (8,3)“[9]
Zion ist die Mitte der Welt. Warum? Weil es Gottes Stadt ist. Mit der Gründung der Stadt Jerusalem nimmt er das jüdische Volk in seinen Bund, mit dem Glauben an den Juden Jesus von Nazareth nimmt er uns hinein in diesen Bund. Und weil das sozusagen Gottes Handschrift ist, darum gilt im Blick auf Jerusalem: „Dass Gottes Kirche alle Reiche und Städte übertreffe, weil Gott für ihr Heil sorg und in seinem Reich herrscht.“ - wobei wir das Wort „Kirche“ in der wörtlichen Bedeutung nehmen müssen: Kirche meint die Gemeinschaft, die Gott gerufen hat. Gottes Stadt ist nicht größer und reicher an Geld und Gütern. Sie ist darin reicher, dass Gott dort herrscht und nicht das Geld. Sie glänzt nicht durch Gewinne und Geschäfte, sie glänzt dadurch, dass Gott zu Ehren kommt. Darum die geradezu ungeheuerlich klingende Prophezeiung von Jesaja: „Niemand wird auf dem heiligen Berg mehr sündigen.“[10] Dabei herrscht jetzt auch dort noch viel Sünde – aber die Zukunft soll in Gottes Namen anders aussehen.
Weil es für Jerusalem keine andere Zukunft gibt als auf Gottes Weg. Weil es für diese Stadt, in all den Jahrtausenden, in guten wie in sehr schlechten Zeiten, immer nur den Weg mit Gott gegeben hat. Das war das Zeichen seiner Treue, „… dass in den gewaltsamen Bewegungen und furchtbaren Stürmen, unter denen bisher der Erdkreis erschüttert wird, das Heil bleiben soll.“[11] Weil das so als prophetisches Wort in unserer Bibel steht, darum dürfen wir diese Hoffnung nicht loslassen. Mögen denn Tausende von Touristen nach Israel reisen, um mit eigenen Augen zu sehen, wie das Land von Mose und Jesus ausgesehen hat und aussieht – wichtiger als all das ist, dass Gott dort Stein auf Stein auf dieser Vergangenheit seine Zukunft baut.
Wie er das macht, dafür gebraucht unser Psalm ein merkwürdiges Bild: Gott zählt bei der Niederschrift der Völker auf. Als ob Gott in der himmlischen Welt Eintragungen in sein Buch vornimmt. Wir kennen das aus unseren Darstellungen vom Nikolaustag: Auch der schreibt dann ja in sein „Goldenes Buch“ die guten und die bösen Taten der Kinder auf. Nur geht es hier nicht um Kindergeschichten, sondern um das große Erinnern der Geschichte. Israel weiß sehr wohl, dass es in den Augen der Welt ein Nichts und ein Niemand ist. So blickt der Prophet unseres Psalms auf die Reiche der Welt: Ägypten, das Ungetüm – groß und nach menschlichen Maßstäben nicht zu bezwingen. Und doch ist Ägypten klein geworden, als Gott die Plagen geschickt hat und sein Volk in die Freiheit geführt hat. Oder Babel, das Reich im Norden – immer wieder sind von dort schier übermächtige Feinde gekommen, haben Israel überrannt, haben Gottes Volk verschleppt[12]. Und was ist aus den Siegern geworden? Sie alle sind untergegangen im Staub der Geschichte, Israel dagegen ist bei allem Untergehen doch bestehen geblieben. Und weiter: Tyrus oder Äthiopien. Städte von damals sagenhaftem Reichtum, ferne Reiche voller Gold. Das alles gibt es, das ringt dem Propheten Respekt und Bewunderung ab – aber damit ich heute und morgen Halt und Hoffnung habe, dafür brauche ich etwas anderes: Zion nenne ich Mutter.
Das, liebe Gemeinde, ist ein Satz des Glaubens. Jerusalem ist nicht in dem Sinne unsere Mutterstadt, dass wir da geboren sind. Aber weil dort Gottes Weg mit den Menschen in besonderer Weise zum Leuchten kommt und wir dazu gehören, darum dürfen auch wir aus vollen Herzen singen „Tochter Zion, freue dich!“. Weil unsere Geburt im Glauben nicht anders gehen kann als mit dieser Stadt. Das neue Jerusalem – es beginnt nicht mit dem, was Menschen bauen. Sondern dort (so sagt es der Prophet im letzten Kapitel der Bibel), dort sah ich „…die heilige Stadt, ein neues Jerusalem, vom Himmel herabkommen von Gott her, (…). Und ich hörte eine laute Stimme vom Thron her rufen: Siehe, die Wohnung Gottes bei den Menschen! Er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und Gott selbst wird mit ihnen sein, ihr Gott.
Und abwischen wird er jede Träne von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, und kein Leid, kein Geschrei und keine Mühsal wird mehr sein; denn was zuerst war, ist vergangen.
So wird es sein. dort, wo der Jubel über den Einzug des Königs groß war und kaum Tage später genau so groß der Schrei nach der Kreuzigung. dort, wo diesem tiefen Schrecken das Wunder aller Wunder, die Auferstehung, folgte – dort wird es dann auch in aller Endgültigkeit heißen: „Was der alten Väter Schar / Höchster Wunsch und Sehnen war, / Und was sie geprophezeit, / Ist erfüllt nach Herrlichkeit.“ Amen.
[1] In der textlichen Rekonstruktion von H.-J. Kraus, BK.
[2] EG 12. Text Heinrich Held 1658.
[3] Comm. ad psalmos, 802: Ergo causam notat propheta cur locum unum aliis praetulerit Deus: et causam statuit non in loci dignitate, sed gratuito Dei amore. Quare si quaeritur unde aut cur excellat Hierosolyma, sufficiat brevis responsio, quia sic Deo placuit. Atque hoc quidem divini amoris fuit principium: finis autem, ut certus esset aliquis locus, in quo ad fovendam fidei unitatem consisteret vera religio usque ad Christi adventum, et unde postea in omnes mundi plagas manaret.
[4] Vgl. Jes 14, 28-32.
[5] Ps 76, 4.7
[6] Rendtorff, S.156.
[7] Jes 1,27.
[8] Rendtorff, S.605.
[9] Rendtorff, S.158.
[10] Jes 11,9
[11] Calvin: Sit igitur Psalmi huius summa, Unam Dei ecclesiam supra omnia mundi regna et politias excellere, quia Deum habet salutis suae praesidem, eiusque imperio gubernatur. Primum, ut inter violentos motus et horribiles procellas, quibus subinde concutitur orbis terrarum, salva maneat. (800)
[12] Kraus: Babel = „Bezeichnung für den östlichen Machtbereich, in den einst das babylonische Großreich die Exilierten deportierte.“ (604)
Albrecht Thiel, Pfarrer in Dortmund