Schwarze Listen

Predigt zu 1 Petr 5,1–4 in der Evangelisch-reformierten Kirchengemeinde Hildesheim am 23. April 2023 (Misericordias Domini)


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Von Bärbel Husmann

Liebe Gemeinde!

Der Hirte und seine Herde – viele Bibeltexte nehmen ihre Vergleiche aus diesem Bereich. Am bekanntesten in Psalm 23: Der Herr ist mein Hirte. Mir wird nichts mangeln. In Psalm 23 ist Gott der Hirte. Aber auch zwischen Menschen kann es ein Verhältnis von Hirte und Herde geben. In der Lesung haben wir gehört, dass Ezechiel die Hirten Israels für keine guten Hirten hält. Denn sie weiden sich selber und nicht ihre Herde.

Unser Predigttext heute klingt wie eine Neuauflage von Ezechiels Mahnung – nur dass jetzt nicht Ezechiel im Namen Gottes zu den führenden Gestalten der jüdischen Exilsgemeinde im 6. Jh. vor Christus spricht, die im babylonischen Exil festsitzt. Im ersten Petrusbrief spricht Petrus zu den führenden Gestalten der christlichen Diasporagemeinden in Kleinasien an der Wende vom 1. zum 2. Jh. nach Chr. Der Verfasser des Briefes zählt am Anfang eine ganze Reihe von Gemeinden in Kleinasien auf, an die sich sein Brief richtet.

1Die Ältesten unter euch ermahne ich, der Mitälteste und Zeuge der Leiden Christi, der ich auch teilhabe an der Herrlichkeit, die offenbart werden soll: 2Weidet die Herde Gottes, die euch anbefohlen ist, und achtet auf sie, nicht gezwungen, sondern freiwillig, wie es Gott gefällt, nicht um schändlichen Gewinns willen, sondern von Herzensgrund, 3nicht als solche, die über die Gemeinden herrschen, sondern als Vorbilder der Herde. 4So werdet ihr, wenn erscheinen wird der Erzhirte, die unverwelkliche Krone der Herrlichkeit empfangen. [Lutherbibel]

[2.]

Ich weiß nicht, ob Sie in Ihrer Berufstätigkeit eine Führungsposition haben oder hatten. Sie alle werden aber wissen, wie es ist, zur „Herde“ zu gehören und eine Leitung über sich zu haben.

Es gibt Leitungen, die sind ein Segen. Aber es gibt eben auch den Spruch „Der Fisch stinkt vom Kopf her“. Ich erinnerte mich bei diesem Predigttext an ein Buch mit dem Titel „Die Listensammlerin“ (Lena Gorelik, 2013) Die Hauptfigur dieses Romans schreibt Listen, Listen über alles mögliche: Listen von schönen Menschen, Listen mit Büchern, bei denen sie geweint hat, Listen mit Büchern, die sie zum Lachen gebracht haben.

Ich schreibe auch Listen. Mal öfter, mal monatelang gar keine. Es sind ausschließlich geheime Listen, die ich niemandem vorlese, und ich schreibe sie ausschließlich zum Vergnügen: eine Liste von gut gedeihenden Pflanzen, eine von Reisezielen, ältere und neuere Einladungslisten, es gibt auch zwei Listen über meinen letzten Schulleiter. Die eine heißt „Was er gut macht“ (sie enthält vier Punkte), die andere heißt „Was er schlecht macht“ (sie enthält elf Punkte). Da ist, wie Sie sicher bemerken, eine kleine Unwucht drin...

Ich habe die beiden Listen jetzt nach Jahren nochmal gelesen und dachte: Ja, wenn ich Seminare für Führungskräfte machen würde, dann würde ich mit solchen Listen arbeiten. Weil sie nämlich gut zeigen, was man sich selber als Leitung wünscht.

[3.]

Wie sieht es nun aus in diesen kleinasiatischen Gemeinden? Lassen Sie uns ein Gedankenexperiment machen und eine Liste anlegen für die Presbyter, die „Ältesten“, an die Petrus schreibt. Was machen sie gut, was machen sie schlecht? Weil dort lauter Mahnungen stehen, ist es unmöglich, etwas zu finden, was sie gut machen. Das steht vielleicht in anderen Kapiteln. In den Versen unseres Predigttextes stehen eher Punkte für eine „black list“, eine schwarze Liste.

1. Die Ältesten sind nicht achtsam in Bezug auf ihre Gemeinden.
2. Die Ältesten versehen ihren Dienst so, als würden sie dazu gezwungen.
3. Die Ältesten haben Gewinnerzielungsabsichten. Sie wollen sich bereichern. Und das ist eine Schande.
4. Eine Herzensangelegenheit ist ihnen ihre Aufgabe nicht, sollte es aber sein.
5. Die Ältesten herrschen, statt durch Vorbild zu überzeugen.

Der Schreiber des Briefes hat noch eine Klammer um seine Mahnungen, seine „black list“ gezogen. Zu Beginn schreibt er, er sei Mitältester und Zeuge der Leiden Christi. Und deshalb habe er Anteil an dem guten Ausgang des Geschicks der christlichen Gemeinden, wenn nämlich „erscheinen wird der Erzhirte“. Nach der Liste winkt der Schreiber mit einer Belohnung, denn dann werden die Ältesten die „unverwelkliche Krone der Herrlichkeit empfangen“.

Der Erzhirte, der Oberhirte, das ist Jesus Christus, wenn er wiederkommt und alles Leid der Welt ein Ende hat. Die Gemeindeleitung ist also eine notwendige Sache in der Zwischenzeit, in der die Gemeinden jetzt leben. Eine weltliche Aufgabe in einer Übergangszeit. Und der Schreiber des Briefes ist nicht die Schulaufsicht, sondern es ist auch ein Gemeindeleiter, wie die, an die er schreibt. Seine Perspektive ist ein brüderlicher Rat.

[4.]

So ist auch in unseren heutigen christlichen Gemeinden die Aufsicht organisiert. Die Visitationen durch den Präses sind verbunden mit brüderlichem oder schwesterlichem Rat. Unsere Gemeinden werden von Gremien geleitet. Bei uns sind das die Mitglieder des Kirchenrats, in anderen Gemeinden heißen sie immer noch Presbyter.

Die Liste im ersten Petrusbrief ist also überraschend aktuell. Denn wir möchten ja auch, dass die Gemeindeleitung achtsam ist, ihren Job nicht als Zwang begreift, sondern als Herzensangelegenheit. Bereicherung empfänden wir auch als schändlich. Und Vorbild sein statt herrschen, das ist sowieso immer gut.

Wir würden wohl nicht damit winken, dass, wenn der Kirchenrat seinen Job gut macht, er die „unverwelkliche Krone der Herrlichkeit“ empfängt. Diese Sprache ist uns fremd. Und zu fern ist uns auch die Naherwartung der ersten christlichen Gemeinden geworden. Denn der Sprung ins 1. oder 2. Jahrhundert ist ein großer Sprung.

Besonders bemerkenswert finde ich an diesem Predigttext (wie am Lesungstext): Leitung an sich wird nicht in Frage gestellt. Stattdessen werden Kriterien guter Leitung formuliert und angemahnt. „Die da oben“ sind gewählt oder berufen oder auf andere Weise in ihre Leitungsaufgabe hineingewachsen. Wenn sie aber diese Aufgabe haben, dann sollen sie sie auch gut ausfüllen, nämlich die anderen im Blick haben, sie beteiligen, vorbildlich handeln und sich nicht bereichern.

Was aber meint Bereicherung? Meine liebe Schwiegermutter hat drei Verabschiedungen aus ihren ehrenamtlichen Leitungsaufgaben in einer Kirchengemeinde gehabt und ist dann doch immer wieder in Aufgaben hineingerutscht. Sie hat oft lachend davon erzählt. Und kannte ihre eigenen Anteile. Denn natürlich bereichert es auch das eigene Leben, wenn man etwas für andere tut. Deshalb ist Bereicherung in diesem Sinne etwas Gutes und Antrieb und Motor. Und wenn es all diese Ehrenamtlichen nicht gäbe, auch in unserer Gemeinde, dann könnten wir einpacken.

[5.]

Zurück zu Hirten und Herden. Auf Island haben die 800.000 Schafe keine Hirten. Sie laufen überall frei herum. Dachte ich jedenfalls. Bis mir jemand erklärte, dass sie natürliche Grenzen haben in Form von Fjorden und Bächen. Ihr Revier im Sommer ist dann immer noch sehr groß, aber eben nicht so groß wie die komplette Insel. Das ist wohl die beste Art der Leitung. Natürliche Grenzen. Und viel Freiheit für die Schafe. Aber es gibt ja nicht nur Island.

Und so gibt es „Schafe“, die ihre unzureichenden Hirten ertragen müssen; und es gibt „Hirten“, die ihre Schafe ertragen müssen. Keine Herzensangelegenheit mehr. Sondern ein Sich-Abarbeiten. Auf beiden Seiten.

Mit der Ablehnung von Leitung lässt sich so ein Problem nicht lösen. Denn dann schlüpfen Menschen unbewusst und unkontrolliert in Leitungspositionen, und das führt selten zu Gutem. Und auch eine Haltung, die in der Opposition verbleibt und immer nur auf „die da oben“ schimpft, führt zu nichts Gutem. Das Dickicht von gutem Willen und Unvermögen, von Überforderung und Abgrenzung ist sicher manchem von uns ganz vertraut.

Was wir aus dem Predigttext mitnehmen können, ist aber dies: So lange wir hier noch nicht den Himmel auf Erden haben, sind Leitung und Führung notwendig und nichts Schlechtes. Allerdings auch ein altes, ein uraltes Problem. Beide Seiten, die „Hirten“ und die „Schafe“, müssen ihre Rollen annehmen können. Und weil das alles anfällig ist, weil wir eben fehlbare Menschen sind, brauchen wir Rückmeldungen von außen (einen Petrus zum Beispiel) mit brüderlichem oder schwesterlichem Rat.

Etwas Demut hilft vielleicht auch. Und die Bitte um den Heiligen Geist, der aus Pflicht und Zwang eine Herzensangelegenheit machen kann. Und wenn ich etwas bitten dürfte: Schreiben Sie keine schwarzen Listen, sondern sagen Sie uns Mitgliedern vom Kirchenrat, was aus Ihrer Sicht bei uns nicht gut läuft und vielleicht so etwa vier Punkte, was aus wir Ihrer Sicht gut machen.

Amen.


Bärbel Husmann