So zieht nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld ...

Predigt zu Kolosser 3,12-17 von Martin Filitz, Halle


© Andreas Olbrich

Gottesdienst zum Beginn des Wintersemesters 2010/2011 an der Evangelischen Hochschule für Kirchenmusik in Halle (Saale) am Montag, dem 4. Oktober um 9.30 Uhr im Ev.-ref. Dom zu Halle Montag nach dem 18. Sonntag nach Trinitatis.

Predigttext: Kolosser 3, 12-17

Schriftlesung: Matthäus 5, 1-12

Wochenspruch: Psalm 145,15

Lieder:
EG 438, „Der Tag bricht an“
Psalm 25
EG 198 „Lobt Gott, den Herrn“
EG  58,1.6.7. „Nun lasst uns gehen“

So zieht nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld; und ertrage einer den andern und vergebt euch untereinander, wenn jemand Klage hat gegen den andern; wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr! Über alles aber zieht an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit.
Und der Friede Christi, zu dem ihr auch berufen seid in einem Leibe, regiere in euren Herzen; und seid dankbar.
Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen.
Und alles, was ihr tut mit Worten oder mit Werken, das tut alles im Namen des Herrn Jesus und danket Gott, dem Vater durch ihn.

Liebe Hochschulgemeinde,

für den Zürcher Reformator Huldrych Zwingli war dieser Vers ein biblischer Beleg dafür, den Gemeindegesang in den öffentlichen Gottesdiensten abzuschaffen. „Singt Gott dankbar in euren Herzen“ heißt es hier. – Nicht mit euren Lippen, und schon gar nicht mit euren Instrumenten! Man wird wohl sagen müssen, dass Zwinglis Blick sehr verengt gewesen ist. Vielleicht ist Zwingli seine hohe Musikalität selbst unheimlich gewesen. Er soll wunderschön gesungen und 10 Instrumente gespielt haben. – Ich weiß es nicht!

Viel eher ließe sich umgekehrt argumentieren: Das Singen des Lobes Gottes muss in der eigenen Person, im Herzen also Widerhall finden.

Es gibt gewiss dieses äußerliche Singen, das musikalisch perfekt und stilistisch tadellos ist, in dem keine Note falsch und keine Pause zu lang ist, und trotzdem bleibt es ohne den Widerhall im Herzen. Darin hat Zwingli wohl Recht, wenn er das meint: Innen und außen müssen zusammenstimmen. Wenn Glaube nur nach außen geht, dann wird er zum leeren Getriebe, zu einer inhaltslosen Darstellung von Ideologie oder eigener Befindlichkeit, von Formen und Farben, die eigentlich keinen Sitz im Leben haben.

Wenn Glaube sich nur nach innen richtet, wird er privatistisch und weltfremd. Er baut sich sein Glaubensgebäude ohne nach links oder rechts zu schauen und gefällt sich in seiner Frömmigkeit und genügt sich an ihr. Es kommt darauf an, beides in der Waage zu halten, das Maß zu finden. in dem und mit dem der Glaube für jeden Menschen allein und auch in der Gemeinschaft leben kann.

Der Apostel, der diesen Kolosserbrief verfasst hat – vermutlich war es ein Schüler des Apostels Paulus - legt Wert darauf, dass auch die Außenseite, die sichtbare und die hörbare Seite des Glaubens zu Tage tritt. Glaube will zur Welt kommen. Er will sich äußern, wie ja das Leben überhaupt bedeutet, dass es sich äußert, dass es zu seiner Welt und zu  seiner Umwelt in Austausch und in Beziehung tritt. Kein Leben ist nur für sich allein, und christliches Leben ist es schon gar nicht. Jedes Lebern braucht Stoffwechsel – oder es lebt nicht.

Und menschliches Leben äußert sich anderen Menschen gegenüber: nahen Menschen und entfernten Menschen. Und die Art, in der es sich äußert ist erst einmal nichts besonders Christliches: herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Sanftmut, Demut und Geduld. So oder so ähnlich könnte es auch in einem antiken Tugendkatalog stehen, wobei solche Tugendkataloge eher auf Tüchtigkeit, Mut und Tapferkeit setzen, also  oft einen militärischen Einschlag haben. Dieser christliche Tugendkatalog, der bezeichnender Weise nicht vier Tugenden nennt wie die antiken Autoren und später die mittelalterliche Kirche, sondern fünf, ist ganz auf den gemeinschaftlichen, gewaltfreien Umgang miteinander hin ausgerichtet:

1. Herzliches Erbarmen – man könnte auch Mitkleid sagen. Sich das, was den anderen Menschen betrifft, zu Herzen gehen lassen, sich rühren lassen, wenn man Bilder des Elends sieht und nicht gleich nach Entschuldigungen dafür suchen, warum ich nicht helfen muß. Sollen doch erst einmal die anderen den Pkistanis helfen, ihre Glaubensbrüder, die Saudis oder die Golfstaaten, die immer noch im Erdölgeld schwimmen. Und wenn die sich, wo ihnen das Wasser bis zum Hals steht, immer noch den Luxus von Selbstmordattentaten leisten, dann ist das ihre Sache. Wir Deutschen sind doch ohnehin schon der Zahlmeister der Welt- jetzt sind andere dran! Mitleid fragt nach der Not der Menschen, nicht danach, wer Schuld hat, und wer sonst noch verantwortlich ist. Mitleid wendet sich an die eigene Verantwortung.

2. Eine Welt ohne Freundlichkeit wäre die Hölle. Es ist schon schlimm, wenn ich auf dem Amt oder im Supermarkt unfreundlich behandelt werde. Freundlichkeit öffnet die Tür zum anderen Menschen. Unfreundliche Christen vermag ich mir nicht vorzustellen. „Die Wahrheit hat ein freundlich Angesicht“ – sagt Huldrych Zwingli, um ihn auch einmal in einem positiven Zusammenhang zu Wort kommen zu lassen.  Wer die Wahrheit sagen will und dabei die Mundwinkel herunter zieht, der predigt gegen sich selbst und gegen das, was er sagen will. Frohe Botschaft und Drohpredigten passen nicht zusammen.

3. Die Demut hält sich selbst nicht für den Größten oder die Größte. Demut bringt dem anderen Menschen Respekt entgegen. Demut kann zurückstecken. Höflichkeit ist ein konkreter Ausdruck von Demut, dem anderen Menschen in meiner Gegenwart die Unsicherheit nehmen, ihn gelten lassen, auch wenn vieles, was er sagt und denkt mir nicht gefallen sollte.

5. Sanftmut ist nichts für Weicheier und Warmduscher. Sanftmut ist der Mut, der sich in der Gewaltlosigkeit bewährt. – Wir haben es gerade in den Seligpreisungen der Bergpredigt gehört - Es braucht Mut, um die aufgeheizte, aggressive Stimmung nicht noch mehr aufzuladen, sondern deeskalierend zu wirken. Es braucht Mut, für den Frieden zu werben, wenn alles nach militärischer Intervention ruft. Und es braucht auch Mut, sich dem Ruf nach der Todesstrafe zu widersetzen, wenn gerade wieder ein Kind missbraucht und getötet worden ist.

6. eine Tugend, die nur bei wenigen verbreitet ist, die nicht alles jetzt und sofort und in bester Qualität haben wollen. Geduld erträgt es, dass die Dinge ihre Zeit brauchen. Lernen braucht seine Zeit, Verstehen braucht seine Zeit. Über braucht seine Zeit. Und wer noch mehr wissen will, was alles seine Zeit hat und seine Zeit braucht, der mag im 3. Kapitel des biblischen Predigerbuches weiter lesen.

Besonders christliche Tugenden sind das nicht.  Es sind allgemein menschliche und förderliche Verhaltensweisen, die jeder Gemeinschaft gut tun. Aber so ist das mit dem christlichen Glauben. Er ist eben nicht unmenschlich – recht verstanden fördert er die Menschlichkeit. Und dabei kann er aus ganz anderen, sogar fremden Quellen schöpfen, wie aus dem Quell der antiken Tugendlehre. Soviel jedenfalls ist sicher: Die Welt sähe anders aus, wenn wenigstens die Christinnen und die Christen diese fünf Ratschläge beherzigen würden.

Christlich wird es dann im nächsten Abschnitt. Jetzt geht es um die Vergebung. Erlittene Schuld vergangen sein lassen – nicht vergessen – aber auch nicht mehr nachtragen. Das geht ins Zentrum der christlichen Botschaft: Weil Christus uns vergeben hat, können wir auch vergeben, mehr noch: wenn wir es nicht tun, dann ist etwas nicht in Ordnung. Das Wort vom Kreuz Christi zielt darauf, dass sich Gottes Vergebung in unserem Leben spiegelt. Niemand von uns könnte für sich in Anspruch nehmen, Vergebung nicht zu brauchen. Wir sind aneinander schuldig geworden und werden aneinander schuldig: Ungeduld, Aggression, Unhöflichkeit, Unfreundlichkeit und Egoismus  geschehen unter uns.

Mit unserem Leben widersprechen wir immer wieder dem, was wir Glauben und dem, was wir gern nach außen tragen möchten. Das ist tragisch, aber es zu leugnen wäre Heuchelei. Wir leben von der Vergebung Gottes, dass er sagt: Ich halte zu dir, auch wenn du mein Wort in den Wind geschlagen hast, wenn du dich selbst in den Mittelpunkt des Universums gestellt hast. Damit wird meine trübe Vergangenheit nicht für richtig erklärt. Nicht meine Schuld wird gerechtfertigt, aber ich. Gott trennt zwischen dem, was ich bin und dem, was ich getan habe. Von dieser Vergebung her fällt ein Licht auf unsere Beziehungen im neuen Semester, auf die Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden, untereinander und miteinander, auf den gegenseitigen Umgang in Harmonie und auch im Konflikt.

Und alles Gesagte lässt sich noch kürzer zusammenfassen „Die Liebe, das Band der Vollkommenheit regiere in euren Herzen!“ Von dem Kirchenvater Augustinus stammt der Satz „Liebe, und dann tue, was du willst!“ Das ist die christliche Ethik in einem Satz. Liebe – nicht mehr aber auch nicht weniger. Gebote, Gesetze sind gut. Sie ordnen Leben. Aber sie dürfen die Liebe nicht verdecken, dürfen sie nicht einschnüren in ein: „das darfst du“ – und „das darfst du nicht“. Die Liebe kann es verlangen, dass ich Gesetze übertrete – auf volles Risiko mit allen Konsequenzen und doch gerade in diesem einen Fall notwendig. Die Liebe kann es fordern, dass man Gott mehr gehorchen muss als den Menschen: sehr wohl überlegt und eigentlich nie im Alleingang.

In der Trauungsliturgie unserer Kirche wird dieser Abschnitt aus dem Kolosserbrief gelesen – natürlich, weil hier von Liebe die Rede ist. Aber diese Liebe geht weit über das Verhältnis von Mann und Frau oder gleichgeschlechtlicher Liebe hinaus. Liebe ist mehr als nur innere Herzensangelegenheit zweier Menschen. Liebe ist Nachfolge Jesu, Spiegelung der Liebe Gottes in dem, was wir denken und reden, was wir singen und spielen,  und was wir tun.

Glaube will sich äußern, sagten wir. Und die eine Glaubensäußerung ist die Liebe. Sie ist die Spur des Weges Gottes durch die Welt bis zum Kreuz und bis zum leeren Grab am Ostermorgen. „Liebe und dann tu, was du willst!“ Wo Gott ist, da ist die Liebe und wo die Liebe ist, da ist auch Gott.

Kein Wunder, dass diese Liebe sich Töne und Klänge, sich Melodien und Harmonien sucht, um laut zu werden. Kein Wunder, dass die Christenheit – auch die Gemeinde in Zwinglis Stadt Zürich – sich niemals auf Dauer hat den Mund und die Instrumente verbieten lassen, um die Liebe Gottes in der Welt zum Klingen zu bringen.  Der Glaube hat eine wesentliche Affinität zur Musik, und die Feier des Glaubens kann ohne Musik nicht sein. Psalmen, Lobgesänge und  geistliche Lieder. Wir wissen nicht, wo die Grenzen zwischen diesen einzelnen Gattungen verlaufen. Jedenfalls handelt es sich um das Lob Gottes in der Gemeinde, um „Kirchenmusik“ im engeren Sinne.

Sie bleibt nicht nur bei sich selbst, sie wird laut, vielleicht gerade auch, indem sie leise singt und spielt, sie reicht über die Resonanz im eigenen Herzen hinaus in die Gemeinde und in die Welt.

Das ist unsere Sache, dass die Musik, die im Herzen ihren Widerhall findet, auch für andere Menschen hörbar wird und ihnen zu Herzen geht. Daran wollen wir arbeiten: am Instrument und mit der Stimme, im Chor in Musiktheorie, in Musikgeschichte und auch in der Theologie. Die Kirche braucht die Musik, um angemessen laut werden zu können, vernehmbar und verständlich im Wort und über das Wort hinaus. Was wir tun, ist ein verheißungsvolles Unternehmen, denn: Alles, was ihr tut mit Worten oder mit Werke, das tut alles im Namen des Herrn Jesus und danket Gott, dem Vater durch ihn.

Amen


Martin Filitz, Pfarrer in Halle