Sonntag Kantate: Predigt zu Apg 16,23–34

von Paul Kluge, Leer

Die Ambivalenz des geinsamen Singens in Gleichtakt, Gleichklang und "seelischem Gleichschritt" spricht Paul Kluge in seiner Predigt an und erzählt die Geschichte von Paulus, Silas und dem Gefängniswärter als Ereignis "der versöhnenden Kraft des Gesanges".

Liebe Geschwister,

zwanzig Jahre habe ich in der Diakonie gearbeitet. Ein erheblicher Teil meiner Arbeit bestand in der Teilnahme an Sitzungen kirchlicher wie auch politischer Gremien. In den politische Gremien ging man offener, also auch aggressiver miteinander um. In kirchlichen Gremien war das anders: Die Sitzungsatmosphäre war freundlicher, also auch weniger offen. Doch nicht um Schwierigkeiten kirchlicher Gremien mit Offenheit und Aggressivität geht es mir heute, sondern um die freundliche Atmosphäre. Dafür habe ich einen Grund ausgemacht: Kirchliche Gremien sind vermutlich die einzigen, die zu Beginn ihrer Arbeit gemeinsam singen.

Durch gemeinsames Singen kommt man in einen gleichen Atemrhythmus, kommt in Gleichtakt. Durch gemeinsames Singen kommt man auf eine gemeinsame Wellenlinie, kommt in Gleichklang. Gleichtakt und Gleichklang bewirken so etwas wie einen seelischen Gleichschritt – selbst unter Menschen, die einander nicht grün sind, sondern beim gegenseitigen Anblick Rot sehen. Gemeinsames Singen ebnet Unterschiede ein, nivelliert Gegensätze. Das ist einerseits gut und schön – wird aber da bedenklich, wo es zur Manipulation eingesetzt wird. Es ist ja kein Zufall, dass gerade in autoritären Gruppen und Systemen besonders viel gemeinsam gesungen wird, seien es religiöse Gruppierungen oder seien es Armeen. So lange Menschen einen vorgegebenen Text gemeinsam singen, können sie keine eigene Meinung bilden. Das kann man ausnutzen, und das wird ausgenutzt.

Gemeinsames Singen kann aber auch verbinden. Unsere Reimpsalmen zum Beispiel. Wenn ich in Rumänien oder der Slowakei einen reformierten Gottesdienst besucht habe, konnte ich die Psalmen wenigstens mitsummen. Das ist uch in Ghana möglich, in Korea oder auf Kuba und überall sonst auf der Welt, wo reformierte Gemeinden sich zum Gottesdienst versammeln. Das ist, vermute ich, einzigartig.

Der für den heutigen, dem Gesang gewidmeten Sonntag „Kantate“ vorgeschlagene Text erzählt von der versöhnenden Kraft des Gesanges: Apg. 16, 23 – 34.

Diese Geschichte möchte ich nacherzählen und dabei ein wenig ausmalen:

Paulus sitzt also im Gefängnis, und zwar in Philippi. Hier hat er die erste Gemeinde auf europäischen Boden gegründet, die reiche Purpurhändlerin Lydia getauft und auf ihren Wunsch hin sich bei ihr einquartiert. Hier hat er einer wahrsagenden Sklavin den Wahrsagegeist ausgetrieben, und das war ihm übel bekommen. Denn die Sklavin wahrsagte gegen Geld, und dieses Geld strichen ihre Herrschaften ein. Bei abhängig Beschäftigten war das schon damals so. Nun war diese Einnahmequelle versiegt, und die Herrschaften, einflussreiche Leute wohl, bezichtigten Paulus und seinen Begleiter Silas der Anstiftung zum Aufruhr. Damit veranlassten sie die Verhaftung der beiden, die vor Eröffnung eines ordentlichen Gerichtsverfahrens erst einmal ausgepeitscht und inhaftiert wurden. Wer, und sei es nur angeblich, zum Aufruhr, zum Widerstand gegen die römischen Besatzer aufrief, konnte keine schonende Behandlung erwarten.

Paulus sitzt also im Gefängnis, und Silas mit ihm. Ihre ersten Tage in Europa haben sie sich anders vorgestellt, zumal der Anfang in Philippi erfolgversprechend war. Doch jemandem, der ohnehin schon genug hat, eine zusätzliche Einnahmequelle auszutrocknen, erregt natürlich dessen ganzen Zorn; da ist Verleumdung ein bewährtes Mittel.

Paulus und Silas, angekettet und die Füße im Block, sind ganz unten. Von den geschlagenen Wunden jagen stechende Schmerzen durch ihre Körper. Noch schlimmer als die körperlichen Schmerzen schmerzen ihre Seelen. Denn Schläge, ob mit der offenen Hand oder mit der Faust, ob mit dem Stock oder mit der Peitsche: Schläge sind erniedrigend und entwürdigend, für Erwachsene und gleichermaßen für Kinder. Wer als Kind geohrfeigt, geschlagen wurde, weiß das.

Paulus und Silas sind ganz unten, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Zu der erlittenen Demütigung kommen Angst und Verzweiflung. Und kein Mensch ist da, der ihnen Trost spenden, Mut geben, Hoffnung machen könnte. In solcher Lage kann man mit dem Leben abschließen und sich schnellen Tod wünschen. Mach End, o Herr, mach Ende mit aller unsrer Not.

Doch Silas, der aus der Jerusalemer Gemeinde kommt, stimmt ein anderes Lied an, einen Psalm zum Lob Gottes. Summt ihn zunächst, bis Paulus einstimmt. Dann singen sie, finden mit etwas Anstrengung den gleichen Ton. Das Singen gibt ihrem Atem wieder einen ruhigen Rhythmus. Ruhiges, gleichmäßiges Atmen entspannt und entkrampft, und das lindert die Schmerzen. Ihre Stimmen werden kräftiger, ihr Gesang auch. So singen sie einen langen Psalm zu Gottes Lob durch die Gefängnisnacht in Philippi.

In die Stille nach dem Gesang brüllt von irgendwo jemand „Weiter!“ Diesmal stimmt Paulus an. Silas hat Mühe, dessen hohe Tonlage zu finden, doch es gelingt ihm schließlich. Nach diesem Gesang klatschen einige Mitgefangene Beifall, eine Stimme aber schreit „Ruhe da!“ Das verstärkt den Beifall, jetzt rufen mehrere „Weiter!“ Silas beeilt sich, den nächsten Psalm in ihm angenehmerer Tonlage anzustimmen. Wieder Beifall, keiner ruft mehr „Ruhe.“ Irgendwo singt bald jemand mit, eine geschulte, geübte Stimme. Ein zelotisch gesinnter Rabbi vielleicht, jedenfalls ein Landsmann. Es wird ein richtiges Konzert, das Paulus, Silas und der Dritte da im Gefängnis geben. Mit jedem Beifall, mit jedem neuen Psalm gewinnen sie Trost, Mut und Hoffnung. Aus der Art, wie ihr Singen sich verändert, spüren das die anderen, und auch sie finden Trost in, schöpfen Mut und Zuversicht aus diesen Liedern in fremder Sprache. Den Gefangenen ist, als würden die Ketten leichter, Durst und Hunger weniger, das Dunkel um sie herum und in ihnen drin heller.

Während Paulus, Silas und der dritte Mann gerade einen weiteren Psalm singen, gibt es plötzlich merkwürdige Geräusche, der Boden bewegt sich und die Wände: Die Erde bebt. Doch keine Panik bricht aus. Die drei Männer singen weiter, die anderen hören zu. Türen fallen aus den Angeln, Ketten lösen sich aus Mauerrissen, Blöcke springen auf - die drei Männer singen, die anderen Gefangenen hören zu.

Dann taucht der Leiter des Gefängnisses auf. In der einen Hand eine Fackel, sein Schwert in der anderen. Paulus sieht ihn im Licht der Fackel, doch der Gefängnisleiter sieht nur offene Türen vor schwarzen Löchern. In der Annahme, die Gefangenen hätten das Weite gesucht, richtet er sein Schwert gegen seine Magengrube, um sich dann vornüber fallen zu lassen. „Mach keinen Unsinn“, ruft Paulus ihm zu, „alle sind hier!“

Der Gefängnisleiter nimmt die fallengelassene Fackel wieder auf, kommt ins Innere, Paulus geht ihm entgegen. „Keiner ist geflohen“, sagt Paulus noch einmal. „Wie ist das möglich?“ wundert sich der Gefängnisleiter. Bevor Paulus antworten kann, stimmt der dritte Mann erneut einen Psalm an, Silas und dann auch Paulus stimmen ein. Die übrigen Gefangenen, soweit sich ihre Fesseln durch das Beben gelöst haben, bilden einen Kreis, der dritte Mann singt weiterhin aus seiner Ecke. Gerührt und überwältigt geht der Gefängnisleiter in die Knie. „Ich bin in eurer Schuld,“ murmelt er unter Schluchzen, „wie kann ich das wieder gut machen?“ – „Werde Christ und lass dich taufen“, schlägt Paulus vor. Was den ein Christ sei, will der Gefängnisleiter wissen und hört von Paulus, dass er zusammen mit seinem Begleiter Silas ihm das gern erläutern möchte. „Dann kommt mit in meine Wohnung“, lädt der Gefängnisleiter sie ein, nimmt beiden die Ketten ab und geht ihnen voran, gefolgt von Paulus und mit einigem Abstand Silas. Der öffnet die noch halb in der Angel hängende Tür ins Freie ganz und schließt zu Paulus auf.

In der eher kargen Wohnung des Gefängnisleiters treffen sie dessen Frau, vier etwas größere Kinder und einen schon älteren Sklaven, alle verängstigt durch das Erdbeben. Der Sklave bekommt den Auftrag, den beiden Gefangenen die Wunden zu waschen, sie mit Wein zu desinfizieren und mit heilendem Olivenöl zu behandeln, die älteste Tochter soll den beiden etwas zu Essen bereiten, wenigstens Brot, Käse, Obst, aber reichlich. Und Wein.

Sofort beginnt Paulus zu erzählen. Erzählt, was Stephanus vor seiner Steinigung gepredigt und Paulus gehört hat, erzählt von seinem eigenen Erlebnis vor Damaskus, erzählt, dass er seit dem unterwegs ist, um Menschen für Christus zu gewinnen. Denn, so Paulus, Tod und Auferstehung Christi haben den, also jeden Menschen von Sünde ebenso befreit wie von Gesetzlichkeit. Seitdem sei das Verhältnis zwischen Gott und Mensch in Ordnung, und deshalb gibt es nur einen einzigen Trost im Leben und im Sterben: Jesus, den Christus. 

Inzwischen hat der Sklave die Wunden behandelt. Danach will der Gefängnisleiter sich mitsamt seiner Familie und dem Sklaven taufen lassen. Ob denn irgendwo in der Nähe ein Brunnen sei, fragt Paulus, und hört, dass ein solcher sich gleich neben der Wohnung im Garten befände.

Die Frau, die Kinder, der Sklave blicken unruhig und fragend mal zu Paulus, mal zum Gefängnisleiter. „Wenn ich sage, wir lassen uns alle taufen, dann lassen wir uns alle taufen,“ stellt der Gefängnisleiter fest. Silas erklärt kurz den Ablauf, die Unruhe legt sich ein wenig, nur der Sklave schüttelt kaum merkbar den Kopf.

Nach der Taufe im Gartenbrunnen und bei Fackelschein fragt der Gefängnisleiter, ob er einen Wunsch äußern dürfe – er würde gern das Lied noch einmal hören, dass er vorhin im Gefängnis gehört habe. Paulus und Silas stimmen gleichzeitig an, es entsteht ein Missklang. Dann stimmt Silas allein an, Paulus fällt ein, und sie singen in die laue Nacht unter hohem Sternenhimmel einen Psalm zur Ehre Gottes.

Die älteste Tochter holt nun das Essen, Paulus und Silas langen kräftig zu, doch auch die anderen essen noch ein wenig. Paulus erzählt vom letzten Abendmahl Jesu, und dass die Christen zur Erinnerung an Christus immer wieder ein solches Mahl feiern. Da wird sogar dem skeptischen Sklaven ganz feierlich zu Mute. Amen.

Gebet: Guter Gott, wenn etwas uns gefangen hält, sei es körperlicher Schmerz oder sei es schmerzliche Erinnerung, seien es äußere oder innere Zwänge: Wenn solches Gefangensein uns die Luft zum Atmen zu nehmen droht, dann können wir solche Gefängnisse singend überwinden, dann können durch Singen die Ketten leichter, Schmerzen weniger, das Dunkel um uns herum und in uns drin heller werden. Darüber sind wir froh, dafür danken wir dir.

Doch wir sind durch Lieder auch verführbar, können durch Gleichtakt und Gleichklang in einen Gleichschritt mit Ideen geraten, die für uns und andere verderblich sind, können durch gemeinsames Singen das eigene Denken verlernen. Weil besonders junge Menschen durch gemeinsames Singen und Musik leicht zu beeinflussen sind, bitten wir dich heute für alle, die Verantwortung für Jugendliche tragen: Lass sie mit ihnen vertrauenden Jugendlichen das hohe Lied von Glaube, Hoffnung, Liebe singen.

Bewahre uns und andere auch davor, durch gemeinsames Singen andere Menschen zu manipulieren. Für Leitungen von Parteien und Verbänden, von Gruppen und Zirkeln ist die Versuchung groß, sich durch Singen Menschen untertan zu machen. Nicht minder groß ist die Versuchung für alle, die Lieder herausgeben. Für sie alle bitten wir, dass du sie vor solcher Versuchung bewahrst.

Heute aber wollen wir dir auch für all jene Menschen danken, die uns Lieder zu deiner Ehre geschenkt haben, Lieder, mit denen wir dir klagen können, und Lieder, mit denen wir dich loben und preisen können. Für beides, für Lob und für Klage, haben wir immer wieder Anlass. Was uns heute mit Sorge und was uns heute mit Dank erfüllt, bringen wir vor dich und beten gemeinsam: Unser Vater im Himmel, geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute, und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen


Paul Kluge, Pastor (i.R.), Leer