Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen

25. November 2013

Predigt zu Psalm 55 von Mechthild Gunkel

Predigt zur Aktion Wanderfriedenskerze 2013 „Hätte ich doch Flügel wie eine Taube“ 
im Gedenken an die Vergewaltigungsopfer im Ostkongo:

Liebe Gemeinde,

„Gegen das Schweigen klagen“[1] – so ist die theologische Doktorarbeit von Ulrike Bail, einer Mitübersetzerin der Bibel in gerechter Sprache, überschrieben, die sich mit den Klagepsalmen befasst. „Gegen das Schweigen klagen“ – so lautet doch auch die Aufforderung von Therese[2] und den anderen, die mit an Leib und Seele beschädigten Frauen arbeiten. Sich für ihre Heilung einsetzen. „Gegen das Schweigen klagen“.

1993 schreibt Aruna Gnanadason, verantwortlich für Frauenbelange im Programm „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ des Ökumenischen Rates der Kirchen in Genf, im ersten Kapitel ihres Buches „Die Zeit des Schweigens ist vorbei. Kirchen und Gewalt gegen Frauen: „Aber im großen und ganzen schwiegen die Kirchen überall auf der Welt zum Thema Gewalt gegen Frauen. Allzu oft war es ein bloßes Randthema, eine Angelegenheit, die an die Frauen in der Kirche abgeschoben werden konnte, und nicht etwa ein Problem, das für das Leben und das Zeugnis der Kirche von zentraler Bedeutung ist: zentral, weil es das Leben aller Frauen in der Gemeinschaft auf so grundsätzliche und entmenschlichende Art betrifft.“[3]

„Gegen das Schweigen klagen“ – das haben wir gerade getan, als wir gemeinsam den Psalm 55 gebetet haben. Wir haben den verschiedenen Erfahrungen Stimme gegeben, haben diese alten Worte zu unseren Worten gemacht. Ich weiß nicht, woran Sie, woran Ihr gedacht habt, als wir den Psalm gemeinsam sprachen. So manche Situation wird dort sehr plastisch, kommt uns ganz nahe, geht uns unter die Haut. Gelingt es da, solidarisch zu werden und gleichzeitig den nötigen Abstand zu finden, sich nicht aufsaugen zu lassen von den grausamen Erfahrungen? Und hilft uns dieser Psalm dabei? Die Klagepsalmen eröffnen einen Raum, in dem der Schmerz zur Sprache kommt. Sie verleihen ihm Worte, sie ermöglichen es, „gegen das Schweigen zu klagen“.

Zwei Orte werden in Psalm 55 genannt, die als Gegensatz zu sehen sind: die Stadt und die Wüste. Die Stadt, der vermeintlich sichere Raum, von dicken Mauern umgeben – so kennen wir das aus biblischer Zeit. „Es möge Friede sein in deinen Mauern“ rufen die Pilger der Stadt Jerusalem zu, als sie zu ihr hinaufziehen. „Ich will Wächter auf deine Mauern bestellen“ verspricht Gott dieser Stadt.

Aber hier im Psalm wird uns eine andere Stadt mit Mauern und Marktplatz vor Augen gestellt:

„Ich sehe Gewalttat und Hader in der Stadt.
Tag und Nacht umkreisen sie die Stadt
auf ihren Mauern, Frevel und Unheil sind in ihrer Mitte,
Verderben ist in ihrer Mitte,
und von ihrem Markt weichen nicht Unterdrückung und Betrug.“

Als Ort der Gewalt wird die Stadt geschildert – bevölkert von Ausdrücken, die Missstände anzeigen: Gewalttat, Hader, Frevel, Unheil, Verderben, Unterdrückung und Betrug. 7 Begriffe, die wie Personen auftreten:  Gewalttat und Hader umkreisen die Stadt auf ihren Mauern, Frevel und Unheil weichen nicht vom Marktplatz. Bis in den letzten Winkel ist Gewalt zu spüren. Sie hat die Stadt fest im Griff. In der Nacht und am Tag. Eine solche Stadt hat ihren Auftrag verspielt. Sie bietet keinen Schutz mehr. Sie ist selbst ohnmächtig und schutzlos ausgeliefert. Hier gibt es kein Entrinnen. Die Stadt als Repräsentantin des sicheren, bewohnbaren Kulturlandes verkehrt sich in ihr Gegenteil. 

Die Erfahrung, die wir hier wiederfinden – ähnelt sie nicht dem, was Frauen aus dem Kongo, aus Ruanda, aus vielen Kriegen in unserer Zeit und zu allen Zeiten erzählt haben – wenn sie das Schweigen gebrochen haben? Die Erfahrung der völligen Ohnmacht, der Schutzlosigkeit, des Ausge-liefertseins... Haben Männer ähnliche Erfahrungen gemacht? Wie unterscheiden sie sich? Gibt es geschlechterspezifische Perspektiven auf Sicherheit, auf Gerechtigkeit?

Es ist eine große Errungenschaft, dass im politischen Kontext diese Frage gestellt wird und seit 13 Jahren in einer eigenen UN-Resolution festgeschrieben ist: UN 1325 fordert dazu auf, Prävention, Partizipation und Protektion nicht unabhängig davon zu denken, wie Frauen und Männern jeweils betroffen sind. In anderen Worten: was kann vorbeugend getan werden? An welchen Entscheidungen nehmen Frauen, an welchen Männer teil? Was geschieht zum Schutz von Frauen? Oder – einfacher ausgedrückt, die Frage nicht aus dem Blick zu verlieren:  „wer definiert Sicherheit wie, und für wen soll sie mit welchen Mitteln hergestellt werden?“ Vor einigen Monaten hat nun die UN-Resolution 1325 drei kleine Schwestern bekommen. Die UN stärkt darin die Position, dass Vergewaltigungen und andere Formen von sexualisierter Gewalt Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind, und unter die Kriterien für Völkermord fallen.

„Gegen das Schweigen klagen“ – das heißt jetzt auch konkret Klage zu erheben, diejenigen strafrechtlich zu belangen, die für die Gräueltaten verantwortlich sind – und sie von allen Amnestieregelungen, von der faktischen Straffreiheit auszunehmen.

Dagegen – gegen diesen Ort der Gewalt – die Wüste. Für die Städterin oder den Dörfler immer ein Ort voller Gefahr und Chaos, beängstigend, nicht einschätzbar. Ein Ort gähnender Leere. Scheinbar. Aber dann auch ein Ort, der zum Überleben hilft. Hagar, Sarahs Magd, von Abraham schwanger – sie flieht in die Wüste und wird von Gottes Boten dort an einer Wasserquelle aufgespürt. Elia, zu Tode erschöpft und bereit unter dem Ginsterbaum in der Wüste zu sterben, hört die Aufforderung „Steh auf und iss...“ Mitten in der Wüste. Kann das ein Ort jenseits der Gewalterfahrungen sein, ein Zufluchtsort, an dem keine Gewalt mehr droht? 

Da sprach ich: Hätte ich doch Flügel wie die Taube,
ich wollte fliegen und mir eine Bleibe suchen.
Sieh, weit weg wollte ich flüchten,
in der Wüste bleiben über Nacht. 
An einen sicheren Ort möchte ich eilen
vor dem tobenden Wind, vor dem Sturm.

„Hätte ich doch...“ – wie ein Seufzen, wie ein kraftlos hingehauchter Wunsch, wie ein wehmütiger Blick auf eine nicht gelebte Möglichkeit, so lesen sich diese Worte. „O, wäre es doch so...“ entfährt es der Beterin.

Hätte ich doch Flügel wie die Taube,

ich wollte fliegen und mir eine Bleibe suchen.

Sieh, weit weg wollte ich flüchten,

in der Wüste bleiben über Nacht. 

An einen sicheren Ort möchte ich eilen

vor dem tobenden Wind, vor dem Sturm.

Wer einmal die Wüste in der Nacht im Sturm, im Gewitter erlebt hat so wie ich vor etwa einem Jahr in Marokko – fast schon in Algerien – der weiß, was es bedeutet, sich den Naturgewalten auszusetzen. Wie viel Kraft, wie viel Gepäck brauchten wir, um die Zeltbahnen zu beschweren, um die Sturzbäche von Regen draußen zu halten, um dem Wind, der in Nullkommanichts zum Sturm anwuchs, zu trotzen.

Gewitter in der Wüste – ein gewaltiges Naturschauspiel auf der einen Seite (für diejenigen, die die Situation cool nehmen konnten) und auf der anderen Seite die Angst, ob wir dies heil überstehen. Diesen Zustand herbeizusehnen – hier sich geschützt zu fühlen, da gehört schon viel Verzweiflung dazu. So groß scheint die Ausweglosigkeit zu sein.

Wo erlebt die Beterin in ihrer Situation Zuflucht und Geborgenheit? Begegnet ihr in der Wüste ein Engel, so wie Hagar, ihrer Schwester vor langer Zeit? Im Psalm erlebt sie keinen bergenden Ort. Sie weiß um die Unmöglichkeit der Flucht. Der Zufluchtsort wird zum fiktiven Raum, zum Gegenraum. „Hätte ich doch...“ im Satzgefüge des Irrealis – des Unmöglichen - bleibt der Wunsch gefangen.

Ulrike Bail weist in ihrem Buch darauf hin, dass die Verse 7- 9 keine Wortverbindungen zum übrigen Psalm haben.
Die Beterin greift zu einem Trick: sie wünscht sich in das Bild der Taube hinein – dieses Tier soll als Stellvertreterin das ausführen, was sie selbst in ihrer Situation nicht tun kann. Die Taube soll Ausweg und Zuflucht finden. 

Aus der Traumatherapie weiß ich, dass es Übungen gibt, die Gewalterfahrungen an ein Tier oder einen Gegenstand abzugeben. „Hätte ich Flügel gleich der Taube...“ Manchmal sind die Erfahrungen so schwer auszusprechen, dass dabei nur Bilder helfen können. Wenn das grausame Erlebte jemanden so gefangen nimmt, dass kein freundliches Wort mehr vordringt. Wenn Gewalt und Schrecken zum Erstarren, zur Lähmung führen...

dann in Bildern zum Leben zurückzufinden, mit den Verwundungen wieder neu leben zu lernen. 

Hätte ich doch Flügel wie die Taube,
ich wollte fliegen und mir eine Bleibe suchen.

Das sind Worte einer Frau, die Gewalterfahrungen hinter sich  hat – und für die im Bild der Taube ein Überleben möglich ist. 

Wie aktuell und zugleich wie zeitlos jener Psalm ist, macht ein weiterer Gedanke deutlich. Der Psalm nimmt uns mit hinein in eine weitere Erfahrung: er fragt danach, wer denn die Täter sind. Da gibt es die Feinde, die Frevler – diejenigen, die Böses tun, aber weit weg sind. Feinde, die von außen kommen, aus der Ferne. Schlimmer dagegen werden die Feinde aus der Nähe erlebt. So heißt es ab V 13: 

Denn nicht der Feind ist es, der mich schmäht,
das würde ich ertragen.
Nicht einer, der mich hasst, hat grossgetan gegen mich,
vor ihm könnte ich mich verbergen.
Nein, du bist es, ein Mensch meinesgleichen,
mein Freund und mein Vertrauter,
die wir enge Gemeinschaft hatten im Hause Gottes,
zusammen gingen bei festlichem Treiben.

Emotionale Nähe sollte Gewalt eigentlich ausschließen – aber hier wird ein enges Vertrauensverhältnis missbraucht. „Du bist es, ein Mensch meinesgleichen, mein Freund und mein Vertrauter...“ Wie groß ist da die Verletzung, wie schwer die physische und die psychische Gewalt, die der Beterin angetan wurde. Der Täter wird als einer benannt, der in enger Vertrautheit und Gemeinsamkeit mit der Beterin lebte. Je näher sich Menschen standen, desto größer die Verwundung. Daher wird der Vertraute hier öffentlich bloßgestellt als einer, der tatsächlich wie ein Feind gehandelt hat. Gegen die Scham, und gegen das Tabu.

Wir brauchen Orte, wo aus dem Schweigen Worte und manchmal auch Sätze werden könne,

wo Heilung stattfinden kann,

wo Täter zur Rechenschaft gezogen werden,

wo Strukturen und Abhängigkeiten aufgedeckt werden.

Vielleicht sind wir hier und heute ein solcher Ort, wo das Zuhören eingeübt werden kann. „Gegen das Schweigen klagen“. Wir haben gemeinsam Psalm 55 zu unseren Worten, zu unserer Klage, zu unserem Gebet gemacht – wir haben unseren Schwestern im Kongo und auch in anderen Ländern, unseren Geschwistern in anderen Kontexten – manchmal auch in unserem Nachbarhaus – Gehör verschafft. Wir haben damit Anteil an Gottes Zuhören, seine / ihre Ohren werden zu unseren Ohren, und unsere Ohren werden zu Gottes Ohren. So haben wir Anteil an Gottes heilmachendem Handeln. Gegen alle Tabus, seien sie privat oder politisch motiviert, gegen alles Schweigen kann nur helfen, zum Reden zu finden. Vielleicht mit Worten aus Psalm 55 „gegen das Schweigen (zu) klagen.“

Der aus Kaunas, aus Litauen, stammende und im Exil in Frankreich lebende jüdische Philosoph Emanuel Levinas notiert: „Gott bedeutet vielleicht nichts anderes als dieser permanente Widerstand gegenüber einer Konstruktion der Geschichte, die unsere Tränen gerechtfertigt erscheinen lässt.“[4] Amen


[1] Ulrike Bail, Gegen das Schweigen klagen. Eine intertextuelle Studie zu den Klagepsalmen Ps 6 und Ps 55 und der Erzählung von der Vergewaltigung Tamars, Gütersloh 1998

[2] Thérèse Mema Mapenzi, Sozialarbeiterin in Bukavu, DR Kongo – war zu Gast im Gottesdienst und gestaltete anschließend eine Matinee zum Thema

[3] in: Bail S. 18.

[4] Aus: Emanuel Levinas, Vier Talmud-Vorlesungen, Frankfurt 1993, S. 38.


Pfarrerin Mechthild Gunkel, Gottesdienst am 17. November 2013 in der Französisch-reformierten Gemeinde Frankfurt