Teilnehmen an Gottes Weltregiment

Predigt vom Sonntag Rogate, von Rainer Stuhlmann


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Jesus lehrt beten. Aus der Fülle seiner Lehre greife ich wenige Gedanken auf. Und ich hänge sie auf an eine der sieben Bitten seines ureigenen Gebetes. Eine Bitte, bei der ich viel gelernt habe.

„Unser Vater im Himmel, dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.“ Lange Zeit konnte ich diese Bitte nur als Ausdruck der Ergebenheit verstehen. „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe.“ Dabei hatte ich Jesus vor Augen im Garten Gethsemane unmittelbar vor seiner Verhaftung: „Vater erspare mir diesen Leidenskelch. Aber nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ Ich füge mich. Was ich möchte, ist weniger wichtig als das, was du willst.

Aber der, der uns dieses Gebet gelehrt hat, hat auch nach unserem Willen gefragt. „Was willst du, dass ich dir tun soll?“, hat er einzelne Menschen gefragt. Jesus besteht darauf, dass Menschen aussprechen, was sie wollen.

Mensch, dein Wille ist gefragt. Lass dich nicht klein machen! Artikuliere deinen Willen laut und vernehmlich! Protestiere gegen diese Welt, wie sie ist! Finde Dich damit nicht ab! Werde zur Rebellin wie Frau Hiob, die ihren Mann aus der Dulderpose herauslockt, so dass er am Ende selber zum Rebellen wird. Rebell gegen Gott. Ein willensstarker Rebell, der Gott vor die Schranken des Gerichtes zitiert. Ihn anklagt. Ihn verklagt. Und gerade deshalb am Ende von Gott Recht bekommt gegen die Prediger der Duldsamkeit und der frommen Ergebenheit.

Im Mund von Frau Hiob hört sich die Bitte ganz anders an: Dein Wille geschehe! Setze deinen Willen endlich durch! Gott, tu endlich, was Deines Amtes ist! Das Gebet eine Waffe gegen das, was nicht ist, wie es sein soll.

Da bekommt mit einem Mal die Welt ein anderes Gesicht. Unsere Welt entspricht nicht Gottes Willen. Kriege und Hunger, Krankheiten und Seuchen, die schickt nicht Gott, und sie sind ganz und gar nicht nach seinem Willen. Nicht alles, was auf Erden geschieht, ist Gottes Wille. Also haben wir uns auch nicht einfach darein zu fügen.

Indem der Allmächtige zum Schöpfer wird, teilt er seine Macht mit seiner Schöpfung. Verzichtet Gott auf einen Teil seiner Macht. Und die Kehrseite ist genauso richtig: so teilt der Allmächtige auch die Ohnmacht seiner Schöpfung. So nimmt Gott eine andere Rolle ein. Er ist nicht länger unser Gegner, der uns die Pandemie schickt. Er wird zum Bundesgenossen, der mit uns gegen die Pandemie kämpft.

So wird die Brisanz des Vaterunser-Gebetes deutlich. Indem Jesus Menschen auffordert, darum zu bitten, dass Gottes Wille geschehe, gibt er Menschen teil an Gottes Weltregiment. Damit wird uns Macht verliehen. Damit bekommen wir teil an Gottes Macht. Gott ermächtigt uns.

Aus uns kleinen Bittstellern, die versuchen, Gott etwas abzuringen, macht Gott uns zu Gottes Stellvertretern und Stellvertreterinnen auf Erden. Wir sollen Gottes Schöpfung nicht nur beherrschen, bebauen und bewahren. Nicht nur unser Tun, auch unsere Gebete machen uns zu Bevollmächtigten Gottes. Gott würdigt uns, wie Mose am Berg Sinai ihn an seine Versprechen zu erinnern. Er würdigt uns, indem er uns beauftragt, indem er uns bittet: „Erinnert mich an meine Versprechen!“

„Dein Wille geschehe!“ Das heißt: „Tu Gott, was du, Gott, versprochen hast! Lass Deinen Willen geschehen, wo immer er noch nicht geschieht! Lass Gerechtigkeit und Frieden sich küssen! Zerstöre die Macht der Herren, die mit dem Tod uns regieren! Heile, was zerbrochen ist! Erweise dich als der, der du bist. Verbirg dich nicht länger in der Gestalt der Ohnmacht. Zögere nicht! Eile, uns zu helfen!“

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Die Brisanz der Gebetsunterweisung Jesu wird noch gesteigert, wenn wir die Doppeldeutigkeit des Nachsatzes der Bitte beachten. „Wie im Himmel, so auf Erden“. Das kann zunächst heißen: Im Himmel geschieht Gottes Wille schon. Nun soll er auch noch auf Erden geschehen. Eben „wie im Himmel“.

Radikaler noch ist die Bitte, wenn der Nachsatz so zu verstehen ist: Lass deinen Willen sowohl im Himmel, wie auf Erden geschehen. Vorausgesetzt würde dann, dass selbst im Himmel der Wille Gottes noch nicht immer und überall geschieht. Dass der Schöpfer Himmels und der Erden nicht nur seiner Erde, sondern auch seinem Himmel Freiheiten eingeräumt hat. Auch in Gottes eigenem Haus ist dann noch nicht alles so, wie es sein soll.

Ein aufregender Gedanke! Aufregend, wie auch sonst in der Bibel vom Schöpfer Himmels und der Erden gedacht wird. Wenn der Allmächtige auf seine Allmacht verzichtet und die Ohnmacht seiner Geschöpfe teilt und gerade darin seine Macht erweist, dann können wir Gott nur paradox denken: der Allmächtige verzichtet auf seine Macht. Der Freie bindet sich. Der Unsterbliche macht Bekanntschaft mit Sterblichkeit und Tod.

Dann hat sich Gott auch selbst entzweit, selbst zerrissen, selbst entfremdet. Dann wartet auch Gott auf die Aufhebung seiner Selbstentfremdung, Selbstentzweiung, Selbstzerrissenheit.

Dann wartet Gott auf Heiligen Geist. Auf die Kraft, die seine Schöpfung und Gott selbst heilt, auf die Kraft, die bewirkt, dass Gott, in sich zerrissen, wieder eins wird. Dass Gott alles in allem wird.

Dann sind die Bitten des Vaterunser-Gebetes Konkretionen der einen Bitte: „Komm Heiliger Geist!“ „Dann werde dein Name geheiligt! Dein Reich komme! Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden!“

Einer meiner Schüler im Religionsunterricht sagte einmal: Das Vaterunser-Gebet fängt erst mit der Bitte an „Unser tägliches Brot gib uns heute!“ Vorher das ist höchstens... Ja, was? Das ist höchstens“, so sagte er keck „ein Gebet für Gott“. Bevor das Beten richtig losgeht: drei Bitten für Gott! Drei Fürbitten für Gott. Ja, das bringt die Sache auf den Punkt. Und dann fügte ein anderer Schüler an: „Aber profitieren, das tun nebenbei auch wir davon.“ Genau. Wir bitten Gott für Gott – und profitieren nebenbei auch selbst davon.

Das ist eine wichtige Lektion, die wir in der Gebetsschule Jesu lernen können. Auf dieser Basis bekommen dann alle unsere Gebete ihren richtigen Platz.

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Von dieser Basis aus können wir wahrnehmen und aushalten, dass so viele unserer Gebete unerhört bleiben. Wer ganz unbescheiden Gott an seine Versprechen erinnert und ruft „Dein Wille geschehe!“, der kann dann in aller Bescheidenheit seine eigenen Grenzen wahrnehmen. Und zu unserer menschlichen Begrenztheit gehört es, dass zwischen unserem und Gottes Willen manchmal Welten liegen.

Das Bekenntnis „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe“ hat also seine Berechtigung. Es ist dann richtig, wenn nicht zugleich alles, was geschieht, mit Gottes Willen identifiziert wird.

Die Bitte „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe!“ hält viele Möglichkeit offen. Gott ist noch nicht alles in allem. Aber Gott ist auf dem Weg dorthin und nimmt uns und seine ganze Schöpfung dahin mit. Er beteiligt uns an diesem Weg. Er möchte von uns erinnert werden. Denn er möchte, dass wir mitdenken. Und darum sollen und dürfen wir beten: Unser Vater im Himmel, dein Name werde geheiligt, dein Reich komme, dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden. Amen.

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Die Predigt ist entnommen aus:

Rainer Stuhlmann
Beherzte Worte aus Jerusalem
Evangelium - Verantworten vor Juden und Muslimen
220 Seiten
2021
AphorismA Verlag


Rainer Stuhlmann

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