''Unterschiede benennen, nicht nur nivellieren''

Reformierte Wissenschaftler plädieren für mehr religiöses Bewusstsein


© Rijksmuseum Amsterdam

25 Jahre nach der Gründung der Gesellschaft für die Geschichte des reformierten Protestantismus ist die Kenntnis konfessioneller Divergenzen zurückgegangen. Was das bedeutet? reformiert-info sprach mit dem Vorstandsvorsitzenden Prof. Martin Sallmann und der stellvertretenden Vorsitzenden Prof. Nicola Stricker.

Im Jahr 1996 stellte Hans-Georg Ulrichs in einem Aufsatz die Frage, wer wie reformiertes Erbe bewahren kann. Wie aktuell ist die Frage heute?

Martin Sallmann: Die Frage ist nach wie vor aktuell. Mein Eindruck ist sogar, dass sich die Situation verschärft hat. Vor unserer Generation hatten Menschen eine konfessionelle Wahrnehmung. Heute wissen viele von ihrer kirchlichen Tradition nur wenig.

Wie kam es dazu?

Sallmann: Dazu hat auf der einen Seite die Erfolgsgeschichte der Ökumene beigetragen. Man nimmt sich stärker als christliche Community wahr und sieht weniger konfessionelle Divergenzen. Auf der anderen Seite wir finden heute einen gesamtgesellschaftlichen Trend zu Traditionsbrüchen.

Nicola Stricker: Das nehme ich auch so wahr. Traditionen gehen zurück, Mitglieder schwinden. Oft fehlt es an einem religiös differenzierten Wissen, sogar auf akademischer Ebene. Das Paradoxe: Die konfessionellen Unterschiede sind mittlerweile so unbekannt, dass es keine Vorbehalte mehr gibt. Früher sagten Menschen: Kirche? Damit will ich nichts zu tun haben. Heute kennen sie Kirche  gar nicht mehr.

Wie wirkt sich das auf das Studium der Theologie an Universitäten aus?

Sallmann: Noch in den 1980er und 90er Jahren gab es einen Hype an Theologiestudierenden. Im Jahr 1999 wurde auch unsere Gesellschaft gegründet. Das war war eine Zeit des Elans.

Stricker: Wer studiert heute Theologie? Das Freikirchliche spielt eine große Rolle. Es fehlt aber an dem, was reformiertes Tun ausmacht: Unterschiede benennen und nicht nur nivellieren. Kontroverse Themen aufgreifen. Auf Augenhöhe diskutieren. Die Eigenheiten des anderen wahrnehmen. Das ist auch für Reformierte wichtig, um als Reformierte sichtbar zu sein. Wenn es darum geht, Menschen zu religiöser Mündigkeit zu führen, geht es darum Definitionsfähigkeit zu bewahren.

Wie hat sich die Erforschung der Geschichte des Reformierten Protestantismus entwickelt?

Stricker: Heute wird vermehrt auf die Aktualität des Forschungsgegenstands Wert gelegt. Z.B. mit Fragen zum Nationalismus, zum Freiheitsverständnis von Politik und Theologie. An Tagungen wird noch eher an Jubiläen erinnern. z.B. mit der Calvin-Tagung. Aber insgesamt stellen wir uns mehr Fragen der Gegenwart.

Sallmann: Man könnte auch sagen: Rückfragen in die Gegenwart. Was heißt Reformiertsein heute? Wie äußern sich darin Tradition und Geschichte?

Die Gesellschaft für die Geschichte des Reformierten Protestantismus zeichnet regelmäßig aktuelle Forschungsarbeiten mit dem J. F. Gerhard Goeters-Preis aus. Wie nehmen Sie die Entwicklung des wissenschaftlichen Nachwuchses wahr?

Sallmann: Für die Gesellschaft war es von Anfang an wichtig, Nachwuchs zu fördern, der interessiert ist an der wissenschaftlichen Aufarbeitung reformierter Tradition. Auch die Emder Tagungen sind seit den Anfängen Kern dieser Gesellschaft.

Stricker: Damit stehen wir im Austausch mit Theologen der Region und Interessierten. Wir möchten mit Studierenden und Forschenden zusammenkommen. Dazu gehören auch der Goeters-Preis und das Gerd-Stricker-Mobilitätsstipendium. Wir hatten übrigens unter den Ausgezeichneten auch schon Forschende anderer Konfessionen.

Trotz aller Divergenzen?

Stricker: Divergenzen aufzuzeigen meint keine Schwarz-weiß-Malerei. Sondern Grautöne mit Reichtum unterschiedlicher Traditionen sichtbar zu machen. Wir haben da keine Rivalitätsgedanken.

Sallmann: Auch das Reformiertentum ist vielfältig. Wo bestehen Unterschiede und wo Konvergenzen? Diese Fragen machen wir uns zum Thema.