Vom Gefühl zur Tugend: die ''spätcalvinistische'' Scham

Wie nackte Männeroberkörper mich zur Theologie bringen. Von Barbara Schenck

Was haben Andy Warhol, "der Japaner", Wahlplakate der FDP und die Deutsche Presseagentur gemeinsam? Alle vier sind medial mit dem Attribut "spätcalvinistisch" ausgezeichnet. Da staunste, was? Ich weiß es auch erst seit Samstag. Zum Frühstück las ich das Streiflicht der Süddeutschen Zeitung. Dort steht, laut einer dpa-Meldung seien diesen Sommer immer mehr Männer dazu übergegangen sich in der Öffentlichkeit mit nacktem Oberkörper zu empfehlen. 'Schamgefühl und Anstand scheinen zu schwinden', habe die Deutsche Presseagentur "sonderbar spätcalvinistisch" resümiert, so das Urteil im Streiflicht.

Sofort grollt es in mir: Was heißt hier "spät"? Denkt der SZ-Kolumnist (die Kolumnistin?) etwa, der Calvinismus stünde kurz vor seinem Ende? Die Empörung erübrigte sich nach ein paar Minuten Googeln. Es gibt auch das Adjektiv "spätlutherisch" für lutherisches Gedankengut Anfang des 17. Jahrhunderts. Reformierte Polemik gegen die säkulare Presse scheint also belanglos, reizvoll jedoch, das Thema "Schamgefühl" als theologische Herausforderung anzunehmen.

Und siehe da, es gibt tatsächlich einen reformierten Gelehrten, der die systematisch-theologische Annäherung an die Scham wagt. Sein Name ist Árpád Ferencz. Er ist Dozent in Debrecen, dem calvinistischen Rom Ungarns. Am Anfang seines Nachdenkens steht die Definition. Was zeichnet die Scham aus? Sie ist "ein Gefühl, das die Tendenz hat, einen Handlungs- und Redeimpuls zu hemmen, um möglichen Tadel und damit Minderung der Selbstwertgefühls zu vermeiden". Die Scham sorgt dafür, "Bloßstellung, Blamage, oder Schande" einer Person zu vermeiden. Darin sieht Ferencz einen wichtigen Aspekt theologischer Ethik. Die Scham trüge dazu bei, das menschliche Leben gegen "Verdinglichung und Instrumentalisierung" zu schützen. Das Schamgefühl steht im Bund mit Karl Barth, der leidenschaftlich appellierte, des Menschen Menschlichkeit "gegen die Autokratie jeder bloßen Sache resolut in Schutz" zu nehmen. Einen weiteren Verbündeten zur Wertschätzung der Scham findet Árpád Ferencz in dem israelischen Philosophen Avishai Margalit. In Margalits Vision von einer "anständigen Gesellschaft" ist der kleinste gemeinsame Nenner mitmenschlicher Gemeinschaft, dass die "vorhandenen Institutionen den Menschen nicht demütigen". Bevor wir uns im Kampf für eine gerechte Gesellschaft aufreiben, könnten wir einen realistischeren Schritt wagen, nämlich andere vor Blamage zu hüten und ihre Würde zu bewahren, also das zu tun, was auch die Scham will.

Von der Theorie nun zurück zu den nackten Männeroberkörpern. Das SZ-Streiflicht nennt als Beispiel die halbnackten Männer vor den Läden des Kultlabels Abercrombie & Fitch. Das Marketing mit entblößten Waschbrettbäuchen steht für das Ideal ewiger Jugend. Abercrombie-Chef Mike Jeffries will nur "coole, attraktive Menschen" erreichen. Andere hätten in seinen Klamotten nichts zu verloren. Diese Einstellung zeigt sich auch im Umgang mit den eigenen Angestellten. Die US-Modefirma wird des öfteren vor Gericht gebracht - mit dem Vorwurf, Minderheiten zu benachteiligen oder Mitarbeiter_innen zu schikanieren, wie jetzt in Hamburg.
Die Schamesröte beim Anblick der von Abercrombie & Fitch zur Schau gestellten Oberkörper soll ein Zeichen spröder Prüderie sein? Mitnichten. Die Scham zeigt das Gespür für die menschenverachtende "Weltanschauung" des Kultlabels. Wer nicht jung, schlank, attraktiv, wohlhabend und gesund ist, hat in der Abercrombie-Welt nichts zu suchen.
In diesem Sinne: Tun wir alles daran, als calvinistische "Schambolzen" zu spüren, wenn Institutionen Menschen demütigen.

Quellen/Literatur:
Árpád Ferencz, Scham. Eine systematisch-theologische Annäherung,
in: Michael Beintker, Sándor Fazakas (Hg.), Die öffentliche Relevanz von schuld und Vergebung. Perspektiven Reformierter Theologie, Studia Theologica Debrecinensis, 5. Jg./Sonderheft 2012, 23-33. (Im deutschen Buchhandel nicht erhältlich, aber online zu bestellen bei: Prof. Dr. Sándor Fazakas, DEBRECEN REFORMED THEOLOGICAL UNIVERSITY, Department of Social Ethics and Church Sociology, H-4026 Debrecen, Kálvin tér 16; fazakass@drhe.hu; +36-52/516-826; +36-52/414-744 (11826).

Nachweise des Attributs "spätcalvinistisch" für:
ein Wahlplakat der FDP (August 2011)
"den Japaner"
Andy Warhol.

weiterführende Literatur:
Avishai Margalit, Politik der Würde: Über Achtung und Verachtung, Suhrkamp Taschenbuch 2012.

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Barbara Schenck, 14. August 2013