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Vom Heil-Werden
Predigt zu Mk 2,1-12 (19. Sonntag nach Trinitatis)
Liebe Gemeinde,
vielleicht kennen Sie noch dieses Buch „Krankheit als Weg“ von Thorwald Detlefsen und Rüdiger Dahlke. Es erschien Anfang der 1980er-Jahre auf dem Höhepunkt der Esoterik-Welle. Die beiden Autoren vertraten darin ein Krankheitskonzept, das ausdrücklich keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhob, und den kranken Körper als Austragungspunkt seelischer Konflikte ansah. Infekte waren ein Zeichen, dass jemand „die Nase voll hat“ von bestimmten Lebensumständen, diese aber partout nicht ändert, Knochenbrüche sind ein Zeichen, dass jemand auf Biegen und Brechen einen falschen Weg verfolgt hatte, eine Herzerkrankung ein Zeichen, dass der Kranke nur auf seinen Kopf hört anstatt seinem Herz und der Liebe im Leben mehr Raum zu geben. Schuld haben immer die Kranken, die einfach nicht einsehen wollen, was ihnen ihre Krankheit sagen will. Wenn sie nur hören würden, würden sie gesund, suggerierte das Buch.
Auch dem Predigttext liegt ein Krankheitskonzept zugrunde, eines, das in der Antike von allen geteilt wurde: von Nachbarn, Freunden, den Kranken selbst, Heilern und von den Kritikern der Heiler. Dieses Konzept war einfach: Wer krank ist, ist Gott fern.
Der Predigttext steht am Anfang des Markus-Evangeliums. Es ist noch nicht viel passiert: Johannes der Täufer tritt auf. Jesus aus Nazareth kommt zum Jordan und lässt sich taufen, er sieht, wie sich der Himmel auftut und hört eine Stimme. Dann verbringt Jesus vierzig Tage in der Wüste. Danach geht er nach Galiläa zurück und beruft die ersten Jünger am Galiläischen Meer, dem See Genezareth. Dann kommt sein Auftritt in der Synagoge von Kapernaum und die Heilung der Schwiegermutter seines Jüngers Simon Petrus. Nachdem Jesus auch einen Aussätzigen geheilt hat, machte dieser seine Heilung so publik, dass er kaum noch in die Städte gehen kann, weil sein Erscheinen sofort einen Volksauflauf provoziert. Er war draußen, an einsamen Orten, schreibt Markus direkt vor Beginn unseres Abschnittes. Ich lese die Verse 1-12 des Markusevangeliums im 2. Kapitel.
1Nach etlichen Tagen ging Jesus wieder nach Kapernaum; und es wurde bekannt, dass er im Hause war. 2Und es versammelten sich viele, sodass sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür; und er sagte ihnen das Wort.
3Und es kamen einige, die brachten zu ihm einen Gelähmten, von vieren getragen. 4Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, gruben es auf und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag. 5Da nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben. 6Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihrem Herzen: 7Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein?
8Und Jesus erkannte alsbald in seinem Geist, dass sie so bei sich selbst dachten, und sprach zu ihnen: Was denkt ihr solches in euren Herzen? 9Was ist leichter zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin? 10Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden – sprach er zu dem Gelähmten: 11Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim! 12Und er stand auf und nahm sogleich sein Bett und ging hinaus vor aller Augen, sodass sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben solches noch nie gesehen.
Sündenvergebung, das ist der Schlüssel zum Heil wie zur Heilung.
Wir mögen das Buch „Krankheit als Weg“ ins Altpapier getan haben. Wir mögen den Kopf schütteln über den Zusammenhang von Sünde und Krankheit, aber so fern ist es nicht. Ich erinnere mich zum Beispiel, dass man in meiner Kindheit die Worte Krebs und Tumor nicht gesagt hat: Das Aussprechen war wie ein Fluch, der auf einen zurückfällt. Magisches Denken! Das Unausgesprochene wird tabuisiert. Nur flüsternd und verschwörerisch heißt es: Die hat auch zu viel gearbeitet. Wer zu viel arbeitet, wer nicht auf die Signale hört, der bekommt die Quittung. Und er ist selbst schuld. – Wer krank ist, ist Gott fern.
Schauen wir genau in den Text. Es gibt Jesus, es gibt einige Schriftgelehrte unter der Menge der Leute, die Jesus reden hören wollen, es gibt den Gelähmten, der es mit Hilfe einer spektakulären Aktion seiner vier Freunde schafft, diesem Jesus nahe zu kommen, und es gibt die vier Freunde.
Wer denkt sich sein Teil? Wer schweigt? Wer kann Gedanken lesen und wer spricht? Wo bewegt sich was?
[Wer denkt sich sein Teil?]
Die Schriftgelehrten sitzen da und denken Dinge in ihrem Herzen. Sie besprechen sich nicht untereinander. Sie denken offenbar alle dasselbe, dass es nämlich Gotteslästerung ist, wenn da einer Sünden vergibt. Sie denken das zu Recht, denn es gibt keine einzige Stelle in der jüdischen Tradition, wo Menschen Sünden vergeben. Die Sünde ist durch Adam und Eva in die Welt gekommen. Sie hat die paradiesische Gemeinschaft von Gott und Mensch getrennt. Sünde ist Trennung von Gott, Verlust von unmittelbarer Nähe. Sünde ist, wie wir jetzt leben – allerdings mit der Verheißung, dass Gott dereinst die Sünde vergeben wird und wir wieder mit ihm vereint werden. Man kann auch sagen: Gott handelt nicht dereinst in ferner Zukunft, sondern er hat bereits mit Jesus Christus ein Zeichen gesetzt, dass er unserer Sünde hinfort nicht mehr gedenken will.
Dieser letzte Gedanke war und ist umstritten. Nicht alle teilen ihn. Die Schriftgelehrten, die ihre Gelehrsamkeit aus der Heiligen Schrift, unserem Alten Testament, beziehen, konnten nicht anders, als in Jesu Sündenvergebung Blasphemie zu sehen. Gotteslästerung. Anmaßung. Die Schriftgelehrten sind bei Markus die Hüter des Althergebrachten. Entsprechend sind sie von Markus gezeichnet: Sie sitzen still und sie sagen nichts.
[Wer schweigt?]
In der Erzählung des Markus schweigt auch der Gelähmte. Wir erfahren nichts von seinen Gedanken. Für Markus war wohl klar, dass seine Leserinnen und Leser wissen, was der Gelähmte sich bei dieser Aktion gedacht hat: Wenn er nur in Jesu Nähe kommt, dann wird er befreit von seiner Lähmung. Der Gelähmte und seine vier Freunde begreifen die Lähmung nicht nur körperlich, sondern auch spirituell. Da nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.
Nur wir heute, im 21. Jahrhundert, wir bemerken eine kleine Dissonanz: Da wird ein Gelähmter zu Jesus gebracht – und dieser heilt ihn nicht, sondern vergibt seine Sünden. Aber so, wie der Gelähmte seine Krankheit und sein Gottesverhältnis zusammendenkt (und deswegen gar nicht protestieren muss nach diesem Wort Jesu an ihn), so gehören auch für Jesus Krankheit und Gottesverhältnis zusammen, denn die Heilung der körperlichen Lähmung folgt auf dem Fuße. Der Gelähmte sieht in Jesus den, der im Namen Gottes alles heil machen kann. Diese Auffassung ist ein Appell, eine Frage an die Leser – damals wie heute: Seht ihr das auch so?
[Wer kann Gedanken lesen und wer spricht?]
Jesus geht nicht nur auf den Kranken ein, sondern auch auf die Gedanken der Schriftgelehrten, die dem Leser eigens mitgeteilt werden. Er verwendet den Ausdruck „Menschensohn“ für sich selbst. Damit knüpft er an apokalyptische Texte seiner Zeit an, in denen der Menschensohn einen endzeitlichen Richter beschreibt. In Jesus fallen Menschensohn, Gottesknecht und Messias zusammen. Das ist die Botschaft des Markus an seine Leserinnen und Leser. Gleich zu Beginn des Evangeliums soll klar werden: Jesus ist tatsächlich der Messias, der gesalbte König am Ende der Zeiten, der Heil und Segen in jeder Hinsicht bringt und selbstverständlich auch Sünden vergeben kann.
Bis fast zum Ende ist es Jesus allein, der spricht. Er spricht zunächst zu den Schriftgelehrten. Und dann spricht er zu dem Gelähmten. Und er heilt mit dem Wort. Sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund. Jesus spricht nur ein Wort: Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim! Heilung durch das Wort. Neues Leben durch das Wort allein. Wie Gott auch am Beginn der Bibel die Welt erschafft durch sein Wort.
Wer denkt daran, dass sich die Muskulatur des Gelähmten in den Jahren der Bettlägerigkeit zurückgebildet haben könnte? Wer denkt daran, dass es gar nicht sein kann, dass der Gelähmte nun plötzlich aufstehen kann? Markus nicht. Es geht im Text einzig darum, dass sich alles Reden, alles Heilwerden im Sprechen und Handeln der Person Jesu konzentriert. Ohne ihn und ohne den Glauben an ihn wäre alles nichts.
[Wo bewegt sich was?]
Dieses Sprechen und Handeln Jesu hat Folgen. Hören wir noch einmal den letzten Satz der Wundergeschichte: Und er stand auf und nahm sogleich sein Bett und ging hinaus vor aller Augen, so dass sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben solches noch nie gesehen.
Mehrfach kommt Bewegung in die Szene: Der Geheilte steht auf und geht hinaus. Und alle Anwesenden – die Schriftgelehrten eingeschlossen – alle sprechen, geben ihren Gefühlen Ausdruck – und ihrem Glauben. Sie preisen nicht Jesus, sondern Gott. Sie haben bestätigt bekommen, dass Krankheit und Spiritualität zusammenzudenken sind. Aber auch Jesus und Gott müssen zusammengedacht werden. Die reglosen Körperhaltungen lösen sich auf, das Schweigen endet. Nicht nur der Gelähmte ist heil geworden, sondern auch die etwas traditionserstarrten Schriftgelehrten gehen in der Gemeinschaft der Anwesenden auf.
Diese Wundererzählung ist anders als das Buch „Krankheit als Weg“. Sie lebt nicht von festen Zusammenstellungen, welches Krankheitszeichen ich wie deuten soll. Sie lebt von Ganzheitlichkeit im besten Sinne: vom Mut, heilsame Begegnungen zu suchen, in denen ich meiner Beziehung zu Gott vergewissert werde, vom Aufbrechen erstarrter Vorstellungen, von Gemeinschaft und vom Glauben daran, dass der Glaube an Jesus Christus und der Glaube an Gott zusammengehören.
Amen.
Bärbel Husmann