Von der Bewahrung Isaaks zum Opferlamm Jesus

Predigt zu Gen 22, 1-19 (Judica)


Caravaggio: Die Opferung Isaaks (Ausschnitt) © Wikicommons/Uffizi Gallery

Von Stephan Schaar

Die Liebe Gottes, die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen! Amen.

Liebe Schwestern und Brüder,

am heutigen Sonntag Judica geht es um das Thema "verlorener Sohn" - allerdings nicht in dem sehr bekannten Sinne jener Jesuserzählung, an deren Ende der Verlorengeglaubte reumütig in die Arme seines Vaters zurückkehrt; es geht eher darum, ob einer sich selbst und Gott treu bleiben und dabei das Leben verlieren oder gewinnen kann.

Bevor ich die Geschichte vorlese, die in unseren Bibelübersetzungen unter der irreführenden Überschrift "Von der Opferung Isaaks" steht - während sie im Judentum zutreffender als Geschichte von der Bewahrung Isaaks bezeichnet wird -, möchte ich einen kurzen Wortwechsel aus Noah Gordons Roman "Der Rabbi" zitieren; hier wird ein ganz anderer Bezug hergestellt zwischen Jesu Passion und dem Leid, das andere erfahren, als in unserer Perikopenordnung:

Professor Landau sah ihn (den Rabbi Michael Kind) an: Kennen Sie die Geschichte von dem gramgebeugten jüdischen Vater, der zum Rabbi kommt und ihm sein Leid klagt: der Sohn sei mit einer Schiksse davongelaufen und habe sich taufen lassen?

Kenn ich nicht, sagte Michael.

"Rabbi", sagte der Mann, "Rabbi, was soll ich tun, mein Sohn ist geworden ein Goj."

Der Rabbi schüttelt das Haupt. "Wem sagst du das? Ich habe auch einen Sohn gehabt, und er hat genommen eine Schiksse und ist geworden ein Goj."

"Und was hast du getan?"

Antwortet der Rabbi: "Ich bin gegangen in den Tempel und hab gebetet. Und plötzlich ist da eine gewaltige Stimme."

"Und was hat Er gesagt, Rabbi?"

"Was willst du? Ich hab auch einen Sohn gehabt..."

Ein typisch jüdischer Witz - kein Spott! -, bitterer Humor, der vielleicht besser ist als gar kein Trost in einer solchen Trauersituation. Der, den wir im Unterschied zu den Juden als Gottes Sohn glauben, liebe Geschwister, ist tatsächlich nicht verschont worden - zur Trauer des Vaters.

Anders der Verlauf jener Probe, auf die Gott Abraham stellt:

1 Einige Zeit danach geschah es: Gott stellte Abraham auf die Probe. »Abraham!«, rief er.

»Ja?«, erwiderte Abraham. 2 »Nimm deinen Sohn«, sagte Gott, »deinen einzigen, der dir ans Herz gewachsen ist, den Isaak! Geh mit ihm ins Land Morija auf einen Berg, den ich dir nennen werde, und opfere ihn mir dort als Brandopfer.«

3 Am nächsten Morgen stand Abraham früh auf. Er spaltete Holz für das Opferfeuer, belud seinen Esel und machte sich mit seinem Sohn auf den Weg zu dem Ort, von dem Gott gesprochen hatte. Auch zwei Knechte nahm er mit.

4 Am dritten Tag erblickte er den Berg in der Ferne. 5 Da sagte er zu den Knechten: »Bleibt hier mit dem Esel! Ich gehe mit dem Jungen dort hinauf, um mich vor Gott niederzuwerfen; dann kommen wir wieder zurück.« 6 Abraham packte seinem Sohn die Holzscheite auf den Rücken; er selbst nahm das Becken mit glühenden Kohlen und das Messer. So gingen die beiden miteinander.

7 Nach einer Weile sagte Isaak: »Vater!« »Ja, mein Sohn?« »Feuer und Holz haben wir, aber wo ist das Lamm für das Opfer?« 8 »Gott wird schon für ein Opferlamm sorgen!«

So gingen die beiden miteinander. 9 Sie kamen zu dem Ort, von dem Gott zu Abraham gesprochen hatte. Auf dem Berg baute Abraham einen Altar und schichtete die Holzscheite auf. Er fesselte Isaak und legte ihn auf den Altar, oben auf den Holzstoß.

10 Schon fasste er nach dem Messer, um seinen Sohn zu schlachten, 11 da rief der Engel des Herrn vom Himmel her: »Abraham! Abraham!«

»Ja?«, erwiderte er, 12 und der Engel rief: »Halt ein! Tu dem Jungen nichts zuleide! Jetzt weiß ich, dass du Gott gehorchst. Du warst bereit, mir sogar deinen einzigen Sohn zu opfern.«

13 Als Abraham aufblickte, sah er einen einzelnen Schafbock, der sich mit seinen Hörnern im Gestrüpp verfangen hatte. Er ging hinüber, nahm das Tier und opferte es anstelle seines Sohnes auf dem Altar. 14 Er nannte den Ort »Der Herr sorgt vor«. Noch heute sagt man: »Auf dem Berg des Herrn ist vorgesorgt.«

15 Noch einmal rief der Engel des Herrn vom Himmel her 16 und sagte zu Abraham: »Ich schwöre bei mir selbst, sagt der Herr: Weil du mir gehorcht hast und sogar bereit warst, mir deinen einzigen Sohn zu geben, 17 werde ich dich segnen! Deine Nachkommen mache ich so zahlreich wie die Sterne am Himmel und die Sandkörner am Meeresstrand. Sie werden ihre Feinde besiegen und ihre Städte erobern.

18 Bei allen Völkern der Erde werden die Leute zueinander sagen: 'Gott segne dich wie die Nachkommen Abrahams!' Das ist die Belohnung dafür, dass du meinem Befehl gehorcht hast.«

19 Abraham kehrte wieder zu seinen Knechten zurück und sie gingen miteinander nach Beerscheba. Dort blieb Abraham wohnen.

Liebe Gemeinde,

wir kennen beides: die Opferung von Söhnen - sei es auf einen äußeren Befehl hin oder ohne einen solchen - wie auch die Selbstopferung von Kindern, die ihren Eltern zuliebe in ihren Lebenszielen zurückstecken.

Sehen wir zunächst von der besonderen religiösen Dimension unseres Predigttextes ab, dann begegnet uns auch hier jene Opfermentalität, die den Tod mehr wertschätzt als das Leben, Gehorsam höher bewertet als Liebe.

Eine - zugegeben: fiktive - Geschichte, die aber dem wirklichen Leben abgeschaut ist, wird uns erzählt in "Der Club der toten Dichter" - ein Film, der zum Pflichtprogramm in der Lehrerausbildung gehören sollte:

Eine Eliteschule im Osten der USA. Die Eltern wissen, was sie von dieser Institution erwarten dürfen, die sich der Tradition, der Ehre, der Disziplin und der Leistung verpflichtet hat. Wer dort seinen Abschluss macht, hat schon den halben Weg nach oben geschafft.

Natürlich werden die Söhne nicht vorher gefragt, ob sie mit Latein, Französisch, Literatur usw. traktiert werden wollen. Aber dass sie nicht einmal bestimmen dürfen, wie sie ihre kärgliche Freizeit verbringen wollen, das will ein Schüler, der sich zum Theater hingezogen fühlt, nicht einsehen.

Und so fälscht er die Unterschrift des Vaters, der niemals einverstanden gewesen wäre mit der Schauspielerei, obwohl doch der Sohn mit besten Noten zu beweisen suchte, dass er den väterlichen Willen zu respektieren gewillt war.

Kurz vor der Premiere von Shakespeares Sommernachtstraum kommt heraus, dass er eine Hauptrolle spielen wird - ohne väterliche Erlaubnis. Für den Sohn jedoch steht fest: Er muss unter Beweis stellen - gerade auch dem Vater gegenüber -, dass er nicht nur ein guter Schüler, sondern auch ein talentierter Schauspieler, ein begabter Mensch ist.

Die Aufführung wird ein Riesenerfolg, alle feiern die meisterliche Darstellung des Puck.

Doch an der Premierfeier darf er nicht mehr teilnehmen: der Vater holt ihn nach Hause, um ihn auf eine Militärakademie zu stecken. Schließlich hat er viel Geld in den Sohn investiert, damit er es mal zu etwas Besserem bringe - Arzt oder Professor. Auf keinen Fall werde er dulden, dass sein Sohn sich als Schauspieler öffentlich zum Narren macht.

Damit ist für den Sohn sein Schicksal besiegelt: Er nimmt sich das Leben; denn jenes Leben, das er gern führen wollte, hat ihm der Vater längst genommen.

Und noch von einem ganz andern Film möchte ich Ihnen erzählen, von einer Dokumentation unter der Überschrift "Abraham - ein Versuch", bei dem man in der Bundesrepublik Deutschland in den 60er Jahren nach den Ursachen der massenhaften Gefolgschaft gegenüber den Nationalsozialisten forschte:

Per Annonce suchte die angesehenen Max-Planck-Gesellschaft Männer, die bereit waren, sich als Versuchsperson zur Verfügung zu stellen. Vorgeblich sollte getestet werden, inwieweit Bestrafung nützlich ist zur Verbesserung von Lern-Leistungen.

Nachdem zunächst erklärt worden war, die Aufgabe des Lehrers bestünde darin, Listen mit willkürlichen Begriffskombinationen vorzulesen und danach abzufragen und im Falle der Nichtbeantwortung oder eines Fehlers den Schüler mit Stromschlägen zu bestrafen, wurde gelost, wer Schüler und wer Lehrer sein sollte - aber nur scheinbar: in Wahrheit gehörte der vorgebliche Schüler zum Versuchsaufbau, bei dem es einzig und allein um den Lehrer ging, dessen Bereitschaft zur Bestrafung erforscht werden sollte.

Damit der Lehrer sich vorstellen konnte, wie die Bestrafung wirkt, erhielt er zur Probe zunächst selbst einen kleinen Stromschlag. Der an einen Sessel gefesselte und mit Drähten verkabelte Schüler befand sich in einem Extraraum. Der Lehrer konnte ihm über eine Sprechanlage die Aufgabe vorlesen, die Antwort gab der Schüler per Tastendruck, indem er zwischen A, B und C wählte.

Bei jeder falschen Antwort musste der Lehrer zunächst einen strafenden Stromstoß verabreichen - und zwar bei jedem Fehler 15 Volt mehr als zuvor - und dann erst die richtige Antwort angeben.

Zum Erschrecken der Zuschauer ist dann zu sehen, wie die Lehrer bei allem inneren Zwiespalt, der sie befiel, einzig und allein aufgrund der Ermahnung des weißbekittelten Versuchsleiters: "Machen Sie weiter!" selbst dann noch nicht aufhörten, als nach dem anfänglichen Jammern und Schreien des gepeinigten Schülers dieser - bei einer Stromstärke von mehr als 270 Volt - schließlich ganz verstummte.

Die Versuchsanordnung wurde mehrmals geändert, und schließlich fand man heraus, dass der Widerspruch gegen die wissenschaftliche Autorität energischer wurde, als der vermeintliche Professors als Versuchsleiter durch einen Assistenten ersetzt wurde. Und als man dann auch noch Impulse gab, die das Aufhören erleichterten, wurden diese häufig in Anspruch genommen.

Doch diejenigen, die bis zuletzt ihre unmenschliche Rolle gespielt hatten, waren wie die Betrachter des Films darüber entsetzt, wohin sie ihre Autoritätshörigkeit gebracht hatte.

Und nun unser biblischer Abraham:

An ihm scheiden sich insoweit die Geister, als die Kritik gegenüber den heidnischen Menschenopferkulten, die das Altes Testament durchzieht, sich im Judentum als stark genug erwiesen hat, um den Gedanken an eine möglicherweise vollzogene Opferung des einzigen Sohnes zurückzuweisen.

Im Christentum gibt es da unseligerweise den Anknüpfungspunkt, dass Gott selbst seinen Sohn nicht geschont, sondern ihn für uns alle dahingegeben hat (wie wir im Johannesevangelium lesen); deshalb wird das Absurde einer Menschenopferung als solches gar nicht mehr wahrgenommen, und der von Gott geforderte und von Abraham erbrachte Gehorsam wird gewissermaßen absolut gesetzt.

Nun muss man wissen - denken Sie etwa an die für unser Empfinden ungewöhnliche Bestrafung Davids nach dem Ehebruch mit Bathseba: der Sohn muss sterben! -, dass das Leben des Individuums im Alten Testament bei weitem nicht jenen Stellenwert hatte, den wir ihm beimessen; vielmehr wurde sehr stark in geschichtlichen Dimensionen gedacht: das eigene Leben hatte in der Nachkommenschaft seinen bleibenden Bestand (oder eben nicht).

So gesehen, geht es bei der Probe, auf die Gott den Abraham stellt, nicht um die Bereitschaft zum Mord - ein völlig absurder Gedanke, der allem, was die Bibel sonst zu sagen hat, widerspräche!

Einzig und allein das wird auf die Probe gestellt: Ob Abraham so viel Vertrauen in Gott hat, dass er ihm die verheißene Zukunft auch zu schenken weiß, wenn der, den er nach endlosem Hoffen und Warten, nach vielerlei Enttäuschung und weit jenseits jener Frist, die einem Menschen zur Fortpflanzung natürlicherweise zu Verfügung steht, als seine Zukunft erhalten hatte, wenn dieser Nachkomme, Isaak, nicht mehr da sein würde.

Der Gang zur Opferung ist Abrahams Bekenntnis zur völligen Abhängigkeit von Gottes Gnade.

Es ist - christlich gesprochen - die Bereitschaft zum Sterben aus der Gewissheit der Auferstehung.

Abraham folgt nicht in blindem Gehorsam einem tyrannischen, launischen Gott, sondern er vertraut darauf, dass er zu seinem Wort steht und die verheißene Zukunft schenken wird.

Ich meine, damit wird Abraham zum Gegentypus jenes Vaters, der sich im Leben seines Sohnes verwirklichen will.

Aber was ist mit der Zuordnung dieser Geschichte zur Passionszeit, was ist mit Gott und seinem Sohn?

Ich sehe Jesus nicht parallel zu Isaak, zumal deshalb nicht, weil er nicht verschont geblieben ist, sondern zu dem Opferlamm, das Gott sich erwählt, um es anstelle seines Sohnes Israel zur Schlachtbank zu führen.

So macht Gott die Verheißung, die in Abraham allen Völkern gilt, wahr, dass er die Nachkommen seines Volkes so zahlreich machen werde wie die Sterne am Himmel und wie den Sand am Meer.

Liebe Geschwister! Wenn Evangelium zu übersetzen ist mit Gottes freimachendes Wort, dann lautet das Evangelium dieses Sonntags inmitten der Passionszeit: Gott sieht in uns nicht einen zum Gehorsam verpflichteten Abraham, sondern er bindet uns los wie Isaak, damit wir leben und seine Verheißungen erleben werden.

Damit ist es ihm todernst - so sehr, dass Jesus um dessen willen gestorben ist.

Ja, Gott wählt sich einen gehorsamen Sohn, damit wir, die ungehorsamen Söhne und Töchter, am Leben bleiben.

Amen.


Stephan Schaar