Warum halbe Mäntel keinen wärmen

Lukas 18,1-8 (Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres)

Eine Predigt gegen das Vertrösten und für das Rechtschaffen. Geschichten von raffinierten Frauen und falscher Moral. Ein Appell gegen die Verlogenheit und für die Wahrhaftigkeit. Von Gudrun Kuhn.

Liebe Gemeinde,

heute vor 530 Jahren wurde Martin Luther geboren. Tags darauf erhielt er bei seiner Taufe den Na­men des Heiligen Martin. Der wiederum war am 11. November 397 nahe seiner Bi­schofs­stadt Tours begraben worden. Und morgen wird deshalb in vielen christlichen Kin­der­gär­ten die rührende Ge­schich­te vom barmherzigen Sankt Martin erzählt werden, der sei­nen Soldatenumhang mit dem Schwert teilte, als ihm ein frierender Bettler in den Weg trat. Der barmherzige Sankt Martin …

Bertolt Brecht sah das so:

Der heilige Martin, wie ihr wisst
Ertrug nicht fremde Not.
Er sah im Schnee ein armen Mann
Und er bot seinen halben Mantel ihm an
Da frorn sie alle beid zu Tod.
Der Mann sah nicht auf irdischen Lohn!
Und seht, da war es noch nicht Nacht
Da sah die Welt die Folgen schon:
Selbstlosigkeit hatt' ihn so weit gebracht!
Beneidensweit, wer frei davon!

Wo er Recht hat, hat er Recht! Oder nicht? So viel sinnlose Wohltätigkeit:

Brot für die Welt – Ist es nicht für die Katz, solange die Weltwirtschaft ihre Geschäfte weiter auf dem Rücken der Armen macht? Selbstlos spenden, aber nur ja nicht am System des Kapitalismus rütteln. Lebensmittel für die Tafel – Sind sie nicht inzwischen eine werbewirksame Verkaufsstrategie von Lidl und anderen Anbietern geworden? Auf selbstlos machen und dabei verdienen. Keine Kleidung mehr aus Billiglohnländern – Haben die Frauen in Bangladesch dann über­haupt noch eine Verdienstmöglichkeit? Selbstlos einkaufen, um ein gutes Gewissen zu haben.

Ach, was für eine verkehrte Welt! Auf der einen Seite rührende Geschichten von großen Einzelnen, die bewundernswerte gute Werke tun. Und auf der anderen Seite bohrende Zweifel am Sinn von Hilfsaktionen und kleinen Reformen. Am Ende ändert sich doch nichts.

Lassen Sie mich eine Geschichte vorlesen. Sie steht im 18. Kapitel des Lukasevangeliums:

(2) … Es war ein Richter in einer Stadt, der fürchtete sich nicht vor Gott und scheute sich vor keinem Menschen. (3) Es war aber eine Witwe in derselben Stadt, die kam zu ihm und sprach: Schaffe mir Recht gegen meinen Widersacher! (4) Und er wollte lange nicht. Danach aber dachte er bei sich selbst: Wenn ich mich schon vor Gott nicht fürchte noch vor keinem Menschen scheue, (5) will ich doch dieser Witwe, weil sie mir so viel Mühe macht, Recht schaffen, damit sie nicht zuletzt komme und mir ins Gesicht schlage.

Jesus erzählt diese Geschichte: Ein skrupelloser Richter. Skrupellos und schamlos. So et­was wie ethische Grundsätze – Ehrfurcht vor Gott – kennt er nicht. Und die Meinung der Leu­te ist ihm gleichgültig. Arbeitsmoral und Pflichtbewusstsein sind ihm fremd. Keine gute Situation für eine Witwe, die sich ihr Recht erstreiten muss. Witwen sind in der alten Welt die am meisten benachteiligten und schwächsten Glieder in der Gesellschaft. Für ihren Unterhalt fühlt sich niemand wirklich verantwortlich. Wenn sie keinen Sohn haben, der sie aushalten kann, sind sie auf die Fürsorge ihre Brüder oder der Familie ihres verstorbenen Mannes angewiesen. Leider kennen wir das. In Afghanistan vertreiben die Taliban bettelnde Witwen von der Straße oder fügen ihnen sogar schwere Strafen zu. Arbeiten dürfen oder können sie mangels Ausbildung nicht. Und in den Häu­sern, wo sie nach der gängigen Ideologie hin­ge­hö­ren, will man sie nicht haben. Was bleibt ihnen da noch übrig? Die Witwe in unserer Ge­schich­te allerdings lässt sich nicht unterkriegen. Sie erkämpft sich ihr Recht – sogar vor einem üblen Richter. Der hat ja richtig Angst vor ihr. Oder tut zumindest so. Will ich doch die­­ser Witwe, weil sie mir so viel Mühe macht, Recht schaffen, damit sie nicht zuletzt kom­me und mir ins Gesicht schlage.

Eine staunenswerte Geschichte.

Wie muss sie in einer männerdominierten Zuhörerschaft gewirkt haben? Ein fauler und übler Richter, der nachgibt, damit ihm eine schwache Frau nicht ins Gesicht schlägt! Und nicht, dass Sie meinen, ich hätte da beim Vorlesen etwas weggelassen, jetzt komme zum Schluss quasi die Moral: Eine Frau soll nicht die Hand gegen einen Beamten erheben! Oder: Fasst euch in Geduld, ihr Frauen, wenn euch Männer Unrecht tun! Oder: Wartet auf Gott, der wird euch schon helfen! Oder: Seid untertan der Obrigkeit, ganz gleich, ob sie legitim handelt oder nicht. Nichts von alledem.

Eine  staunenswerte Geschichte.

Diese mutige Frau ist übrigens nicht allein in der Bibel. Sie hat Vorbilder. Da gibt es zum Bei­spiel die Tamar. Im Stammbaum Jesu bei Matthäus wird sie extra erwähnt als eine der Stamm­­müt­ter Davids und damit auch Jesu. Na, und bei deren Geschichte da werden sie jetzt sicher noch mehr staunen. Ich will sie Ihnen erzählen – und wenn Sie mir nicht glauben, lesen Sie nach im 1. Buch Mose, Kapitel 38.

Juda, der älteste Sohn Jakobs hatte diese Tamar als Schwiegertochter. Aber ihr Mann starb, be­vor sie Mutter geworden war. Nach altisraelitischem Recht sollte sie nun ihr Schwager zu sich nehmen und schwängern, um ihr zu einem Sohn zu verhelfen. Biologische Alters­si­che­rung gewissermaßen. Dieser Schwager aber wurde berühmt berüchtigt. Sein Name: Onan. Er hatte zwar Lust mit seiner Schwägerin zu schlafen. Nicht aber, einen Sohn mit ihr zu zeu­gen, der rechtlich als Sohn und Erbe seines verstorbenen Bruders gelten würde. Also ließ er – wie Luther übersetzt – seinen Samen auf die Erde fallen und verderben.

Dafür wird er von Gott postwendend mit dem Tode bestraft. Und zwar nicht etwa, weil sein Verhalten unzüchtig ge­wesen sei, wie man es später auslegte. Nein, er hat sich unsozial gegenüber seiner Schwä­gerin verhalten. Er hat der Witwe nicht zu ihrem Recht verholfen. Das war seine Sün­de! Wie geht es weiter?

Eigentlich ist nun der zweite Schwager dran. Aber der ist noch zu jung. Und so schickt Juda seine Schwiegertochter Tamar einfach zurück ins Haus ihres Va­ters. Eine große Schande für die Witwe. Aber die weiß sich zu helfen. Sie legt die Wit­wen­klei­der ab, verhüllt sich mit einem Schleier und setzt sich an die Straße, geht auf den Strich. Dort wartet sie auf ihren Schwiegervater. Und der fällt prompt auf den Handel rein. Ein wah­rer Handel Für schnellen Sex bietet er ihr einen Ziegenbock – da sage einer, die Bibel sei im­mer todernst – also einen Ziegenbock. Aber, den müsste er ja erst von der Herde holen. Da­rum verlangt Tamar ein Pfand von ihm: sein Siegel und seine Schnur und seinen Stab. All das überlässt Juda ihr, scharf wie er war. Und als er die Dinge hinterher auslösen will, ist die an­gebliche Pros­tituierte verschwunden.

Nun – Sie können sich denken, wie es ausgeht: we­ni­ge Monate später kann Tamar ihre Schwangerschaft nicht mehr verheimlichen. Und Juda will die sün­di­ge Schwiegertochter zur Strafe verbrennen lassen. Da holt sie Siegel  und Schnur und Stab hervor – und der Schwiegervater muss beschämt zugeben, dass er selber der Vater des Un­ge­borenen ist. Dass er Tamar unfreiwillig zu ihrem Recht verholfen hat, einen Sohn – es werden dann sogar Zwillinge – zu gebären, um im Alter versorgt zu sein. Eine schwache Frau hat sich ihr Recht erkämpft, hat sich selber – wenn auch auf eine für uns heute abstruse Art und Weise – vor dem sozialen Aus gerettet. Und der Kämpferin für ihr Recht als Schwache wird die Ehre zuteil im Stammbaum Davids und Jesu aufgeführt zu werden.

Zurück zur Witwe, von der Jesus erzählt. Keine Almosen will sie erbetteln, keine Rechts­beu­gung will sie hinnehmen. Keinen halben Soldatenmantel. Keine Brotkrumen, die von der Rei­chen Tischen fallen. Schaffe mir Recht! Gerechtigkeit statt Mitleid. Aktionen statt Hilfs­aktio­nen. Sonst – vor einer Drohung scheut diese Witwe offensichtlich nicht zurück.

Eine staunenswerte Geschichte. Eine gefährliche Geschichte. Nur Lukas erzählt sie. Und er stellt sie in einen Kontext mit anderen gefährlichen Geschichten. Zum Beispiel der vom rei­chen Jüngling, zu dem Jesus sagt: Verkaufe alles, was du hast, und gib's den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach! (Lukas 18,18)

Solche gefährlichen Geschichten werden Jesus zugeordnet auf seinem letzten Weg nach Je­ru­salem. Sie bilden den Höhepunkt einer Lehrtätigkeit, die die Rechte der Armen stärkt und die Oberen auf den Plan bringen wird. Einen, der solche Dinge sagt, kann weder der römische Gou­ver­neur noch die priesterliche Führungsriege brauchen. So einer muss weg.

Zuvor jedoch, vor der Passion, überliefern die Evangelisten Jesu Vision vom großen End­ge­richt. Seit jeher haben ja die Propheten ihrer kritischen Botschaft die Warnung beigefügt vor dem großen Tag des Herrn, dem Tag des Zorns, dem dies irae, z.B. Maleachi: (5) Und ich will zu euch kommen zum Gericht und will ein schneller Zeuge sein gegen die Zauberer, Ehebrecher, Meineidigen und gegen die, die Gewalt und Unrecht tun den Tagelöhnern, Witwen und Waisen und die den Fremdling drücken und mich nicht fürchten, spricht der HERR Zebaoth. (Mal 3)

So also auch bei Lukas. Er erzählt die Geschichte von der Witwe und dem rechtlosen Richter im Zusammenhang einer radikalen Wende: 7Sollte Gott nicht auch Recht schaffen seinen Aus­er­wähl­ten, die zu ihm Tag und Nacht rufen, und sollte er's bei ihnen lange hinziehen? 8Ich sa­ge euch: Er wird ihnen Recht schaffen in Kürze. Eine großartige Vision. Gottes Auserwählte – sie werden im gleichen Atemzug mit der kämpferischen Witwe ge­nannt. Es sind die Recht­lo­sen und Schwachen. Und Gott wird ihnen Recht schaffen. Denn sie bedrängen ihn mit ihren Gebeten. Sie bedrängen ihn so wie die Witwe.

Zu Gott rufen? – so mag vielleicht die eine oder der andere jetzt einwenden – Gebete? Ist das nicht etwas ziemlich Folgenloses? Viele Menschen heute verstehen das Gebet vor allem als me­­ditative Praktik, um die eigene Mitte zu finden oder eins zu werden mit dem Uni­ver­sum. Versenkung ins Unendliche. Auslöschung von Gedanken und ichbezogenen Ge­füh­len. Oder aber als eine fast magische Beschwörung: Leid und Gefahr, Krankheit und Elend ein­fach weg–beten. Ich will da niemandem zu nahe treten oder eine mir fremde Praxis schlecht ma­chen. Aber in unserem Text ist wenig von solcher Gebetshaltung zu spüren. Er be­ginnt zwar in Vers 1 mit einer Aufforderung zum Gebet: 1Er sagte ihnen aber ein Gleich­nis da­rü­ber, dass sie allezeit beten und nicht nachlassen sollten. Aber wenn man die Geschichte ge­hört oder  gelesen hat, kann man Beten nicht oder nicht mehr rein spirituell verstehen. Ge­bet ist dann ein Ruf, durch den das Unrecht zum Himmel schreit. Händefalten kann da nicht be­deuten Hände in den Schoß zu legen. Beten also: keine Kapitulation vor der Wirklichkeit? Keine Vertröstung auf den Sankt Nimmerleinstag?

Der Sankt Nimmerleinstag – er hat sich in unsere Hoffnungen eingeschlichen. Wie sollen wir glau­ben können, was da versprochen wird: Er wird ihnen Recht schaffen, Gott wird ihnen Recht schaffen in Kürze? In Kürze ist gut! Kurze 2000 sind Jahre vergangen und nichts ist pas­siert. Weder durch Drohungen noch durch Gewalt. Keine soziale Revolution, die lang­an­dau­ernd Gerechtigkeit geschaffen hat. Kein arabischer Frühling, auf den nicht längst wie­der Schat­ten gefallen sind. Wo ist der unrechte Richter, der die Hand einer schwachen Frau fürch­tet? Hatten unsere Vorfahren nicht Recht, wenn sie den Tag des Herrn zum jüngsten Ge­richt ins Jenseits verschoben haben?

Jetzt bin ich schon wieder drauf und dran, in die Anfangsfalle zu tappen. In diese Alles–oder–nichts–Falle. Keinen halben Umhang. Keine Brosamen von der Reichen Tische. Keine Aktio­nen, die den status quo unangetastet lassen. Keine sinnlosen Gebete, kein, kein, kein … Und zweifelt Lukas nicht selber an dem, was er uns lehren will? Am Ende der Gleich­nis­ge­schich­te lässt er Jesus sagen: Doch wenn der Menschensohn kommen wird, meinst du, er werde Glauben finden auf Erden? Der Menschensohn - das ist in der Tradition des Propheten Daniel der endzeitliche Richter, der auf den Wolken naht, um das Erdreich zu richten. Meinen wir, er werde Glauben finden auf Erden?

Das Endgericht. Nun – diese gewaltige und gewalttätige Vision, die uns Michelangelo und andere gemalt haben, bleibt hier in der Tat aus. Der Menschensohn, er ist am Ende unseres Tex­tes einer, der darum ringt, Glauben zu finden. Er braucht Menschen, die auf ihn, auf die Kraft seiner Botschaft vertrauen. Menschen, die sich nicht von unrechten Richtern ein­schüch­­tern lassen. Menschen, die nicht nachlassen im Schrei nach Gerechtigkeit. Denn – auch das steht bei Lukas - das Himmelreich, es liegt nicht in einem fernen Jenseits. Nein. Das Reich Gottes ist mitten unter uns. So jedenfalls antwortet Jesus denen, die ihn fragen: Wann kommt das Reich Gottes? Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man's beobachten kann; 21man wird auch nicht sagen: Siehe, hier ist es!, oder: Da ist es! Denn siehe, das Reich Got­tes ist mitten unter euch. (Lukas 17, 20f.) Das Reich Gottes ist mitten unter uns. Das Ge­richt – es ereignet sich tagtäglich. Mitten in der Zeit. Hier und jetzt. Wo Unrecht in Gewalt und Krieg mündet. Wo Menschen andere misshandeln und nicht überleben lassen. Wo Witwen und Waisen, wo Asylanten und von Nazis Gejagte ihre Klagen erheben. Es ereignet sich im Weinen verhungernder Kinder und in den Schreien der Gefolterten. Sie alle werfen uns ihre An­klage entgegen. Und mitten darunter der Menschensohn Jesus Christus, der nicht als rä­chen­der Richter erscheint, sondern als einer, der sich bei den Opfern finden lässt. Von ihm heißt es: 24Wie der Blitz aufblitzt und leuchtet von einem Ende des Himmels bis zum andern, so wird der Menschensohn an seinem Tage sein. (Lukas 17,24)

Wo dieser Blitz aufleuchtet, steigt ein Martin herunter vom Pferd und fragt den Bettler, wer ihm denn sein Recht auf Nahrung und Kleidung verweigert. Und dann werden beide wie die Wit­we in unserer Geschichte den Verantwortlichen viel Mühe machen. Einstweilen werden sie sich wohl den Mantel teilen müssen. Aber sie werden nicht nachlassen mit ihren For­de­run­gen, denn das Himmelreich ist mitten unter ihnen.

Und der Herr öffne unsere Augen, Ohren und Herzen für sein Reich, das immer im Kommen ist, gestern und heute und in die Ewigkeit der Ewigkeiten. AMEN

 


Gudrun Kuhn, Ältenstenpredigerin, Nürnberg