Wieder ist ein Jahr vergangen

Ein Gebet von Sören Kierkegaard


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Das neue Jahr steht mit seinen Forderungen vor uns; und gehen wir auch gebeugt und bekümmert hinein, weil wir nicht den Gedanken an der Augen Lust, die betörte, verheimlichen können und wollen ...

Wieder ist ein Jahr vergangen, himmlischer Vater!

Wir danken Dir dafür, daß es zur Zeit der Gnade gelegt ward und erschrecken nicht davor, dass es auch zur Rechenschaft vorgelegt werden soll; denn wir vertrauen auf Deine Barmherzigkeit.

Das neue Jahr steht mit seinen Forderungen vor uns; und gehen wir auch gebeugt und bekümmert hinein, weil wir nicht den Gedanken an der Augen Lust, die betörte, verheimlichen können und wollen, an die Süße der Rache, die verführte; an den Zorn, der uns unversöhnlich machte, an das kalte Herz, das weit von Dir wegfloh;

so gehen wir doch auch nicht ganz mit leeren Händen hinein; denn wir wollen auch sie mitnehmen: die Erinnerungen an die bangen Zweifel, die beruhigt wurden, an die stillen Bekümmerungen, die getröstet wurden, an den niedergebeugten Sinn, der aufgerichtet wurde, an die frohe Hoffnung, die nicht beschämt wurde.

Ja, wenn wir in sorgenvollen Augenblicken unser Herz durch den Gedanken an die großen Gestalten stärken und aufrichten wollen, Deine auserwählten Werkzeuge, die in schweren Anfechtungen, in der Angst des Herzens den Sinn frei behielten, den Mut ungeschwächt, den Himmel offen, so wollen auch wir dazu unser Zeugnis ablegen in der Überzeugung, daß unser Mut im Vergleich mit jenen nur Mißmut ist, unsere Macht nur Ohnmacht, während Du derselbe bist, derselbe gewaltige Gott, der die Geister im Streit erprobt, derselbe Vater, ohne dessen Willen nicht ein Sperling zur Erde fällt.

Amen.


(von Sören Kierkegaard, in: Gebete, Hg.: W. Rest, Köln Olten 1952, S. 63)