Wichtige Marksteine
Reformierte im Spiegel der Zeit
Geschichte des Reformierten Bunds
Geschichte der Gemeinden
Geschichte der Regionen
Geschichte der Kirchen
Biografien A bis Z
(1519 - 1580)
Catherine, Baronin Willoughby de Eresbury (1519-1580) war in erster Ehe mit dem Herzog von Suffolk, Charles Brandon verheiratet. Unter Edward VI. wurde sie überzeugt evangelisch. Sie war befreundet mit Reformatoren wie Martin Bucer und Johannes a Lasco, während diese in England weilten. Als Maria Tudor den Thron nach Edward VI. bestieg und den Katholizismus in England wiedereinführte, flüchtete sie mit ihrem zweiten Gatten, Richard Bertie, und ihrer Tochter nach Wesel. Von dort ging die Reise nach Weinheim (Pfalz) und weiter nach Litauen, dank der Fürsprache Johannes a Lascos, der für sie beim polnischen König eintrat. Nach der Thronbesteigung Elizabeths I. kehrte sie mit ihrem Mann und zwei Kindern nach England zurück. Sie unterstützte bis zu ihrem Tod puritanische Pfarrer.
1. Eine katholische Kindheit und erste Ehe
2. Evangelische Witwe
3. Eine neue Familie. Flucht
4. Puritanerin in England
5. Würdigung
6. Die Herzogin von Suffolk in der Kunst
Anhang / Literatur
1. Eine katholische Kindheit und erste Ehe
Catherine Willoughby wurde 1519 geboren in einer Ehe zwischen einem adeligen Engländer, William Willoughby, Baron Willoughby de Eresby, und Maria de Salinas, einer spanischen Hofdame der Königin Katharina von Aragon. Die Eheschließung wurde wohlwollend von der königlichen Familie begleitet, Heinrich VIII. nannte eine seiner Kriegsschiffe „Mary Willoughby“ und er schenkte dem Ehepaar Ländereien. Die kleine Catherine verlor früh (1526) ihren Vater, und da sie eine sehr reiche Erbin war – in der Familie Willoughby besaßen auch Frauen das Erbrecht – wurde sie Mündel der Krone. Die Vormundschaft wurde dann wie üblich weiterverkauft, und so wurde die kleine Catherine Mündel des Charles Brandon, Herzog von Suffolk, der damals mit der Schwester des Königs, Mary Tudor, verheiratet war (Richardson). Wenn nicht in London, wohnte das Paar auf dem Gut Westhorpe in Suffolk, und Catherine wurde mit deren fast gleichaltrigen Töchtern Frances – die Mutter von Jane Grey – und Eleanor, und mit dem Sohn Henry, erzogen.
Am 24. Juni 1533 starb Mary Tudor nach längerer Krankheit. Catherine Willoughby war vermutlich bis dahin dem Sohn des Hauses als Braut angedacht, aber der Witwer Charles Brandon heiratete sie selbst im September 1533. Catherine war mit 14 Jahren gerade heiratsfähig, während ihr „Verlobter“ nur zehn Jahre alt war und damit noch zu jung für eine Eheschließung. Charles Brandon hatte gute Gründe sich die Hand Catherines zu sichern:
Charles Brandon hatte in der Ehe mit Mary Tudor Einnahmen von Ländereien sowohl in England als auch in Frankreich. Mary Tudor war in erster Ehe kurz - drei Monate lang - mit Ludwig XII. von Frankreich vermählt gewesen. Nach dessen Tod ging sie eine Liebesehe mit Charles Brandon ein. Deswegen hatte sie Lehen in Frankreich und England, die jedoch nach ihrem Tod an die Krone zurückfielen. Catherine Willoughby dagegen besaß Ländereien in Lincolnshire, welche es Charles Brandon möglich machten, sich dort einen großen zusammenhängenden Gutsbesitz zu beschaffen (Gunn).
1535 und 1537 brachte sie zwei Jungen zur Welt, Henry und Charles. Brandons Sohn Henry aus der ersten Ehe war 1534 gestorben, und es war üblich, nachgeborene Kinder nach ihren toten Geschwistern zu nennen.
Catherine war gut katholisch erzogen. Ihre Mutter war nach ihrer Ehe immer noch der Königin Catherine von Aragon eng verbunden. Als diese in Ungnade fiel, musste Charles Brandon die für ihn unangenehme Aufgabe erfüllen, ihr mitzuteilen, dass ihr Hofstaat gekürzt und ihre Bediensteten entlassen wurden. Sie wurde in die Provinz verbannt, und durfte nur mit Erlaubnis des Königs Besuch empfangen. Als es sich herumsprach, dass sie sehr krank sei, erkämpfte sich Maria de Salinas, Lady Willoughby, den Zutritt zu ihrem Schlafgemach. Wenige Tage später starb die Königin in ihren Armen. Sie wurde in der Kathedrale von Peterborough begraben, und im Trauerzug ging Catherine Brandon (Read 40f).
Als Magnat in Lincolnshire bekam Brandon 1536 die Aufgabe, die Aufstände in Lincolnshire in Verbindung mit dem nördlichen Aufstand gegen die Krone, die „Pilgrimage of Grace“ genannt, niederzuschlagen. Dies tat er schnell und effektiv und wurde dafür mit dem Schloss Tattershall und mehreren Kirchengütern belohnt. Die folgenden Jahre verbrachten er und seine Familie auf Schloss Tattershall. Brandon war 35 Jahre älter als seine Frau, aber die Ehe schien glücklich. 1539 war Catherine unter den vornehmen Frauen, die Anne von Kleve in England empfingen (Read 45f). Als Heinrich VIII. 1541 nach York reiste, um den schottischen König zu treffen, besuchte er die Brandons auf dem Gut Catherines, Grimsthorpe. Das war eine große Ehre, und Brandon ließ das Schloss umbauen, um den Majestät würdig empfangen zu können. Später war Catherine Brandon mit Catherine Parr befreundet. Sie war unter den sehr wenigen Hochzeitsgästen bei der Vermählung Catherine Parrs mit Heinrich VIII. im Jahr 1543.
Charles Brandon war zu Ruhm und Ehre gekommen, weil er ein Freund und Kumpel Heinrichs VIII. war. Wenn er religiöse Überzeugungen hatte, hielt er sie verborgen, und folgte den Anweisungen des Königs (Gunn). Unter seinen Kaplänen und Hauslehrern waren Männer, die zum neuen evangelischen Glauben neigten, aber es ist unsicher, ob Charles Brandon das überhaupt bemerkte. Es kann sein, dass Catherine durch sie die neue Lehre kennenlernte. Als ihr Mann noch lebte, verschaffte sie sich aus Übermut und vielleicht aus religiöser Überzeugung einen mächtigen Feind, Stephen Gardiner, Bischof von Winchester und Lordkanzler. Bei einem Abendessen schlug Brandon Damenwahl vor, und Catherine sagte laut, dass, wenn sie nicht ihren Gatten wählen dürfte, sie den Mann nähme, den sie am wenigsten möge, nämlich Gardiner. Er verzieh es ihr nie. Ähnliche Sticheleien betrieb sie wohl auch in jungen Jahren: sie nannte ihren Hund Gardiner und hatte einen Riesenspaß, wenn sie ihm „Sitz“ oder „Bei Fuß“ kommandierte. Der Hund wurde zudem im Bischofsornat gekleidet und in Prozession getragen. Viele Jahre später hat Gardiner an diese Beleidigungen erinnert. Es ist unsicher, wann genau sie stattgefunden haben, aber es scheinen doch die Späße einer sehr jungen Frau gewesen zu sein. Diese Anekdoten wären belanglos, hätte Gardiner sich nicht so gekränkt gefühlt.
2. Evangelische Witwe
Erst als sie sich nach dem Tod ihres Gatten 1545 mehr am Hofe aufhielt, als Hofdame für Catherine Parr, wurde ihre evangelische Gesinnung offenkundig. Sie gehörte zu dem evangelischen Kreis, den Catherine Parr um sich scharte. Zusammen hörten sie evangelische Predigten und studierten die Bibel in den Gemächern der Königin.
1546 wurde eine evangelische Adelsfrau namens Anne Askew der Ketzerei angeklagt. Sie hatte öffentlich in London gepredigt und dabei eine zwinglische Abendmahlslehre verbreitet. Askew wurde zweimal verhört und für schuldig befunden. Aber bevor sie den Tod auf dem Scheiterhaufen erleiden konnte, wurde sie noch einmal im Tower verhört und zwar von sehr hochrangigen katholischen Mitgliedern des „Privy Councils“, des Geheimrats des Königs. Sie wollten wissen, welche Kontakte Anne Askew zum Hofe hatte, und fragten besonders nach dem Kreis der Damen um die Königin. Viele von denen waren mit evangelisch gesinnten Höflingen verheiratet. Wäre es nur um sie gegangen, könnte man sich einen Angriff Gardiners gegen die evangelischen Ratsherren im Geheimrat vorstellen. Aber die Witwe Catherine Brandon wurde in der Befragung erwähnt. Es ist möglich, dass Gardiner sich den Frauenkreis vornahm, weil er damit die Königin der Ketzerei überführen wollte – Foxe berichtete von einem anderen Versuch Gardiners, die Königin zu beseitigen, der misslang. Aber selbst unter schlimmster Folter gab Anne Askew keine Namen preis. Wenige Tage danach wurde sie sitzend in einem Stuhl verbrannt, da sie nicht mehr stehen konnte (Foxe, 1563 edition, Book 3,732).
1547 starb Heinrich VIII. Er hinterließ eine Witwe und drei Kinder: Maria, Elizabeth und Edward. Edward war als männlicher Erbe der Thronfolger; er war von evangelischen Humanisten erzogen worden und von evangelischen Ratsherrn umgeben. Möglicherweise um das königliche Supremat über die Kirche zu erhalten, ließ Heinrich kurz vor seinem Tod Gardiner entmachten. Edward Seymour, sofort zum lord protector (Vormund des Königs) und Herzog von Somerset ernannt, übernahm die Regierung. Er war ein überzeugter Anhänger des neuen Glaubens. Thomas Cranmer, Erzbischof von Canterbury, schuf mit ihm die Agende: „Book of Common Prayer“ für den evangelischen Gottesdienst.
Catherine Brandon war jetzt in ihrem Element. Sie unterstützte einen evangelischen Drucker und Verleger namens John Day (King 1982, 2002). Eine Reihe von Büchern erschien nach 1548 mit ihrem Wappen, unter anderem ein Andachtsbuch Katherine Parrs. William Cecil, später erster Minister Elizabeths I., jetzt noch Sekretär des Herzogs von Somerset und Nachbar Catherine Brandons, schrieb dazu das Vorwort. Cecil blieb ihr Leben lang ein treuer Freund. Catherine Brandons Briefe an ihn sind eine vergnügliche Lektüre, ihre witzige, direkte Art kommt hier gut zum Vorschein. John Day druckte außerdem die Predigten Bischof Latimers mit einer Widmung an Catherine Brandon.
Bischof Hugh Latimer war eine Entdeckung Anna Boleyns. Schon 1530 predigte er die Fastenpredigten am Hofe. Er war Bischof von Worcester bis Heinrich VIII. gewisse katholische Dogmen für alle verbindlich machte, u. A. die Transsubstantiationslehre (Act of the Six Articles, 1539, Loades 2010, 21f). Latimer stellte seinen Bischofssitz dem König zu Verfügung. Eine Weile verbrachte er im Gefängnis und erst mit der Thronbesteigung Edwards VI. kehrte er zurück zum Hofe und predigte für den König und in London.
Latimer wurde der geistige Berater Catherine Brandons. Von 1552 bis 1554 wohnte er oft auf ihrem Gut Grimsthorpe und predigte dort. Eine Predigtreihe über die zehn Gebote entstand dort. Latimers Predigten kann man immer noch mit Vergnügen lesen. Er war wortgewandt, witzig, ein Meister der gut angebrachten Anekdote und von tiefer Frömmigkeit. In einer seiner Fastenpredigten von 1549 verglich er den Glauben mit einer wunderschönen Herzogin – zu der Zeit gab es in England zwei: die Herzogin von Suffolk und die von Somerset; Latimer nannte keinen Namen. Die Herzogin (der Glaube) hat einen „gentleman usher“, der ihr vorangeht und für sie den Weg bahnt – das ist die Sündenerkenntnis. Danach folgen die Hofdamen – das sind die guten Werke. Damit beschrieb er für alle anschaulich den Glauben als zentral, während Sündenerkenntnis und gute Werke vorher und nachher ihren Platz haben. Selbstverständlich wird angenommen, dass er von Catherine Brandon sprach (Harkrider, 70f).
Nach der Thronbesteigung Marias wurde Latimer mit den anderen evangelischen Bischöfen gefangengenommen. Catherine Brandon unterstützte ihn im Gefängnis mit Essen, Kleidung und Geld, das in den Tudor Gefängnissen benötigt wurde, um zu überleben (Read 96f). 1554 fing der Ketzerprozess gegen ihn an und im Oktober 1555 wurde er auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
In seinem Bestreben, die Englische Kirche zu reformieren, lud Erzbischof Cranmer Reformatoren nach England ein, und nach dem Augsburger Interim folgten viele seinem Ruf. Nach dem Tod Heinrichs 1547 konnte Cranmer mit der Kirchenreformation anfangen und die Edwardianische Kirche bekam eine deutliche reformierte Prägung. Viele englische Theologen waren in der Regierungszeit Heinrichs geflohen und oft reisten sie nach Zürich. Durch sie konnte Bullinger Einfluss auf die Ereignisse in England ausüben. Zürich und allmählich auch Genf wurden die Vorbilder der englischen Reformation. Die Altäre und Bilder verschwanden aus den Kirchen und stattdessen wurden Abendmahlstische aufgestellt. Ein Streit entbrannte über die Ornate der Pastoren.
Die Theologen, die als Glaubensflüchtlinge jetzt nach England kamen, waren berühmte Gelehrte ihres Faches und namhafte Reformatoren: Von Italien kamen Bernardino Ochino und Petrus Martyr Vermigli. Aus Straßburg folgten der Hebraist Paul Fagius und Martin Bucer. Cranmer ließ die beiden Italiener nach Oxford rufen, während Fagius und Bucer Professoren in Cambridge wurden (Brecht, 233-256).
Catherine Brandon ließ ihre beiden Söhne in Cambridge im St. John`s College einschreiben, mitsamt ihrem Tutor, Thomas Wilson (Harkrider, 81, Rex). Sie selbst kaufte sich ein Haus in der Nähe. Bald verband sie mit Bucer eine herzliche Freundschaft, er besuchte sie auf Grimsthorpe und sie schenkte ihm eine Kuh mit Kalb – letzteres wohl damit er Milch hatte. Ihr Verhältnis wurde so innig, dass Fagius durch den Sekretär Bucers in Straßburg, Conrad Hubert, Wibrandis Rosenblatt wissen ließ, dass sie schleunigst zu ihrem Gatten reisen sollte: „…sagend, Herrn Martinus Hausfrau, sie soll sich bald auf die Fahrt machen, oder er wird eine andere kriegen, die Herzogin von Suffolk will ihn haben, ist jetzt eine Wittfrau.“ (Bainton, 96)
Wibrandis Rosenblatt kam nach Cambridge mit der Familie, und als sie wieder wegfuhr, blieb Agnes Capito und kümmerte sich um Bucer. Ihm ging es jedoch gesundheitlich nicht gut. Als Wibrandis Rosenblatt 1550 nach England zurückkam, musste sie ihn im Winter pflegen. Catherine Brandon half ihr, aber trotz ihrer gemeinsamen Anstrengungen starb Bucer im Februar 1551. Catherine Brandon wurde von Edward VI. als Testamentsvollstreckerin an Rosenblatts Seite gestellt. Wibrandis Rosenblatt war jedoch mit den Engländern nicht zufrieden: „Ouch wussen, das mir der Bischof nit mer denn XXXX Lb. fur die Bucher geben hat. Er sagt die Frow (Herzogin Katharina von Suffolk) hab die besten; so hab der Kunig das geschrieben Ding; sin Theil sy zu thur. Ich hab recht genumen, was man mir geben hat; ich kann mich wider sy nit setzen.“ (Zimmerli-Witschi, 120)
Nach dem Tod Bucers wurde für ihn eine Gedenkschrift der Universitätsangehörigen in Cambridge herausgegeben. Darin waren beide Söhne von Catherine Brandon mit Beiträgen vertreten (Collinson 1983, 34). Diesen vielversprechenden jungen Männer war leider kein langes Leben vergönnt. Im Sommer 1551 brach der „Schweiß“ in Cambridge aus. Der sogenannte „Englische Schweiß“ war eine Infektionskrankheit, die innerhalb von kürzester Zeit ihre Opfer wegraffte. Die Brüder wurden sofort aus Cambridge weggebracht, starben aber innerhalb von Stunden, bevor es ihrer Mutter möglich war, zu ihnen zu kommen. Catherine Brandon war untröstlich. Es dauerte lange, bevor sie wieder anfangen konnte, Freude am Leben zu haben (Read).
Nicht nur Gelehrte flüchteten nach England, auch Handwerker und Handelsleute suchten einen Ort, wo sie ihre evangelische Überzeugung ausleben konnten. Für Cranmer war es eine Möglichkeit, reformierte Gemeinden zu gründen. In Canterbury entstand eine Französische Gemeinde (Pettegree 1986, 52f), wie in Glastonbury, wo viele wallonische Weber arbeiteten. In London entstanden gleich zwei Ausländergemeinden: eine französische und eine flämische, mit Johannes a Lasco als deren Superintendent. Zusammen mit den humanistischen Lehrern des Königs unterstützte Catherine Brandon die Gründung der Ausländergemeinden mit einer Bittschrift an den König und mit einer Bürgschaft (Pettegree 1986, 31). Für a Lasco waren es gute Jahren in London, mit Unterstützung vom König und von Cranmer und mit weitreichenden Freiheiten, ein reformiertes Gemeindeleben zu gestalten (Rodgers, Jürgens). Er zeigte sich später Catherine Brandon gegenüber dankbar.
3. Eine neue Familie. Flucht
Unter Edward VI. konnte Catherine Brandon ihre evangelische Gesinnung ausleben. Ihr alter Intimfeind Stephen Gardiner verbrachte diese Jahre im Tower of London und als sie ihn im Vorbeigehen sah, bemerkte sie mit lauter Stimme: „Es ist lustig für die Lämmer, wenn der Wolf weggesperrt ist.“ (Foxe, 1583 edition, Book 12, 2102-2105)
Die kirchlichen Reformen galten vor allem dem Gottesdienst und den Kirchengebäuden (MacCulloch 1999). Die alte katholische Ausstattung wurde aus den Kirchen verbannt, versteckt, verkauft oder verbrannt. Catherine Brandon, die in Lincolnshire Patronatsrechte für viele Kirchen besaß, hatte früher oft Pfründe an von ihren Klöstern vertriebene Mönche vergeben. Jetzt gab sie die Pfründe an verheiratete Männer mit Universitätsausbildung und gründete Schulen (Harkrider 84-94).
Auf Grimsthorpe hatte sie immer Kaplane mit evangelischer Gesinnung – und Hugh Latimer predigte dort als Dauergast.
Ein paar Jahre nach dem Tod ihrer Söhne heiratete sie einen Mann, den sie gut kannte und der ihre Religion teilte: Richard Bertie (1517-1582), ihr „gentleman usher“. Er war vom Adel, aber der niedere Adel tat beim Hochadel Dienst, sowie der Hochadel dem Königshaus diente. Sie heiratete einen Mann, der gebildet war, mehrere Sprachen beherrschte und ihr im Alltag treu zur Seite stand. Der „gentleman usher“ war eine Art Zeremonienmeister und er regelte vermutlich ihren Haushalt. Dennoch heiratete sie unter ihrem Stand. Anscheinend fühlte sie sich nach dem Tod ihrer Söhne frei, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
Es war wohl Hugh Latimer, der sie 1553 auf Grimsthorpe traute (Read 92). Während Catherine Bertie im Jahr danach schwanger wurde und 1554 eine Tochter, Susan, gebar, starb Edward im Sommer 1553. Seine Schwester Maria bestieg den Thron. Sie war immer katholisch gewesen, hatte in den vergangenen Jahren deswegen Streit mit ihrem Bruder gehabt und war überzeugt, dass sie das Werkzeug Gottes war, um England wieder zum katholischen Glauben zurückzuführen. Zuerst wurde die Messe wiedereingeführt. Die Gemeinden versuchten, ihre Kirchen so auszustatten, dass sämtliche Riten durchgeführt werden konnten – die Gemeinden, die vorher ihr Inventar versteckt hatten, konnten sich glücklich preisen (Loades 2010).
Sehr viele Engländer waren ohne Zweifel froh, zu den alten Sitten und Ritualen zurückzukehren. Andere hatten sich an die Gottesdienste in der Landessprache gewöhnt, lasen ihre Bibel auf Englisch und sahen die Messe als Götzendienst an. Diese Leute – vor allem in London – trafen sich heimlich zu Gottesdienst und Gebet.
Die ersten, die den Ernst der Lage spürten, waren die Ausländergemeinden. September 1553 bestieg a Lasco mit einem Teil seiner Gemeinde drei Schiffe und fuhr nach Dänemark. Im lutherschen Land war die Gruppe als reformierte nicht willkommen und sie setzte ihre Reise nach Emden und schließlich nach Frankfurt fort. Gardiner, der Lordkanzler Marias geworden war, entwickelte eine Technik, um Ketzer loszuwerden: er lud sie zum Gespräch ein! Meistens wurden diese ob dieser Einladung so erschrocken, dass sie sofort England verließen (Pettegree 1986, 115f).
Ostern 1554 erging dann die Einladung Gardiners an Richard Bertie. Gardiner listete alle die Kränkungen, die Catherine Bertie ihm zugefügt hatte, auf und fragte, wie Catherine es mit der Messe hielt. Die Königin wollte Philipp von Spanien heiraten und bei der Gelegenheit könnte Catherine Bertie – immer noch Herzogin von Suffolk – Anstoß erwecken: sie hatte immer noch nicht die Messe auf Grimsthorpe eingeführt und konnte bei den Hochzeitsfeierlichkeiten nicht teilnehmen, obwohl ihre Mutter dem spanischen Hochadel angehört hatte. Als ihr Gatte war Bertie für sie juristisch und religiös verantwortlich. Er verteidigte ihre Gewissensfreiheit und schlug vor, er solle Geld, das der Kaiser Charles Brandon schuldete, bei Karl V. eintreiben. Dafür erhielt er eine Ausreisegenehmigung und versuchte, Asyl für Catherine und Susan, die im selben Jahr geboren worden war, zu finden. Im Herbst 1554 wurden die mittelalterlichen Ketzergesetze wieder in England eingeführt mit Wirkung vom 20. Januar 1555. Anfang Januar 1555 verließ Catherine Bertie in der Nacht ihr Haus in London mit dem Kind und ein paar Dienstboten (Foxe, Hrsg. Cattley 1839, Bd.8, 569-572).
Maria Tudor hatte vorerst die wichtigsten Geistlichen im Visier: die Bischöfe Cranmer, Ridley und Latimer waren schon in Gefängnis. Am 28. Januar wurde Anklage gegen andere leitende Evangelische erhoben. Alle starben den Märtyrertod – was seitens der Regierung vielleicht nicht vorgesehen oder gar erhofft war (Loades 2010, 81-96). Viele Mitglieder der Oberklasse, vor allem die Schwester der Königin, Prinzessin Elizabeth (http://www.frauen-und-reformation.de/?s=bio&id=115) und William Cecil, der Freund Catherine Berties, blieben in England und gingen zur Messe. Andere ergriffen die Flucht (Garrett).
Catherine Bertie hatte eine abenteuerliche Reise in die Niederlande vor sich. Den Ärmelkanal im Winter zu überqueren erwies sich als schwierig. Nach Wochen erreichte sie endlich Land, wurde von Richard Bertie (Garrett, 87-89) empfangen und nach Xanten gebracht. Sie wussten, dass sich die wallonische Flüchtlingsgemeinde aus London mit ihrem Pfarrer François Perussel im benachbarten Wesel aufhielt, und wollten auch dorthin. Xanten war katholisch und dort konnten sie nicht bleiben. Während sie noch in Xanten ihren Asylbescheid abwarteten, erfuhren sie, dass sie erkannt worden seien, und beschlossen, zu Fuß nach Wesel zu laufen ohne Bedienstete und Gepäck, nur sie drei, als ob sie einen Spaziergang machten. Es war kalt und frostig und während sie unterwegs waren, regnete es auf den gefrorenen Boden. Völlig durchnässt kamen sie in Wesel an. Keine Herberge wollte sie hereinlassen und am Ende suchten sie Schutz unter dem Vordach der Kirche (St. Willibrord?). Richard Bertie suchte nach Feuerholz und fand mit Hilfe einiger Schuljungen, die mit ihm Latein sprechen konnten, das Haus, wo Pastor Perussel gerade zu Abend aß. Groß war die Freude des Wiedersehens. Die Berties erhielten trockene Kleider und am nächsten Tag wurde ihnen vom Stadtrat Asyl gewährt (Foxe 1839, Bd. 8, 572-574).
Wesel hatte schon 1545 eine Gruppe wallonischer Weber aus Tournai aufgenommen. Man konnte die Handwerker gut gebrauchen und versicherte sich nur, dass die keine Wiedertäufer waren. Sie konnten Predigtgottesdienste in eigener Sprache halten, aber Sakramentsverwaltung wurde ihnen nicht zugestanden. Sie mussten mit der lutherschen Stadtgemeinde die Sakramente empfangen. Sie suchten Rat bei Calvin und er ermahnte sie zur Besonnenheit (CO 20, 419ff, Nr.4169; Weseler Konvent, 28ff). Als Perussel im Herbst 1553 mit den Wallonen aus England ankam, wiederholten sich die Probleme. Die Flüchtlinge hatten in England weitgehende Selbständigkeit genossen. Wieder schrieb Calvin an sie und mahnte zur Geduld (13.3.1554, CO 15, 78ff; a.a.O. 31f). Perussel schrieb allerdings auch an a Lasco und wurde von ihm unterstützt, Selbständigkeit für seine Gemeinde einzufordern. Das ging natürlich nicht gut. Melanchthon wurde um ein Gutachten gebeten, aber die Stadt entschied für sich, dass die Flüchtlinge weiterziehen mussten. Im März 1557 verließen die Engländer Wesel, nachdem sie sich beim Rat für den Aufenthalt bedankt hatten. Sie zogen nach Bern, wo sie sich im Aarau (Garrett, 353-356) niederlassen durften. Perussel zog mit einer Gruppe nach Frankfurt (Denis, 161-222).
Catherine und Richard Bertie waren schon längst nicht mehr in Wesel. Am 12. Oktober 1555 hatte Catherine einen Sohn, Peregrine (Lat. Peregrinus = Fremdling) geboren und ihn am 14. Oktober in St. Willibrord taufen lassen. Sehr viele Engländer hatten im Laufe des Jahres sich ihnen angeschlossen und durften englische Gottesdienste (ohne Sakramentsfeier) abhalten. Zwei frühere Bischöfe waren unter ihnen: Miles Coverdale, der Tyndale`s Bibelübersetzung vervollständigt hatte (Garrett, 132-134), und William Barlow (Garrett, 80). Im Herbst 1555 setzte sich Miles Coverdale beim Pfalzgrafen und Herzog Wolfgang von Pfalz-Zweibrücken für die Berties ein. Coverdale hatte durch die Empfehlung von Conrad Hubert, Bucers Sekretär, eine Stelle als Schulmeister in Bad Bergzabern inne. 1555 kehrte er dorthin als Kaplan zurück. Dadurch war er dem Pfalzgrafen bekannt. Dessen Vetter, der Kurfürst Ottheinrich von der Pfalz, bot der Herzogin sein Schloss Weinheim als Wohnung an (Harkrider).
Dort kam im Juli 1556 ein Kurier von Maria Tudor an. Im Herbst 1555 hatte das Parlament in London einen Gesetzesvorschlag Marias zu Konfiskation des Besitzes der Glaubensflüchtlinge abgeschmettert. Nach geltendem Recht wurde nur der Besitz von verurteilten Schwerstverbrechern und Aufrührern konfisziert. Das Parlament lehnte es ab, diese Gesetzgebung auf die Glaubensflüchtlinge zu erweitern (Loades 2007, 45f). Maria hatte jedoch im folgenden Jahr Briefe an wohlhabende Glaubensflüchtlingen geschrieben, und ein gewisser John Brett als Kurier sollte sie überreichen. In seinem Report über seine Reise vermied Brett es sorgfältig, sich zum Inhalt der Briefe zu äußern. Ihrerseits wollten die Adressaten sie gar nicht entgegennehmen. In Frankfurt klagten sie über Brett beim Bürgermeister, in Weinheim vertrieben ihn die Dienstboten der Herzogin mit Steinen. Sie verklagte ihn beim Kurfürsten und er verbrachte einiger Zeit in Heidelberg im Gefängnis. In Straßburg schließlich wurde er von einem bewaffneten Mann von den Flüchtlingen ferngehalten (Brett). Unverrichteter Dinge musste Brett zurück nach England.
In Weinheim hatte Catherine Bertie große Ausgaben: sie sollte ihren Lebensstil aufrechterhalten und den Haushalt bezahlen (Harkrider, 109). Es muss sich herumgesprochen haben, dass ihr Geld knapp wurde. In Polen hörte Johannes a Lasco davon (vielleicht stand er immer noch in Verbindung mit Frankfurt?) und ersuchte König Sigismund II. Augustus um Hilfe für sie. Der Wojwode (=Pfalzgraf) von Vilnius, Mikolai Radziwill, selbst überzeugter Reformierter, sorgte dafür, dass der König ein an die Krone heimgefallenes Lehen in Kraziai in Litauen den Berties schenkte.
Dieses königliche Hilfsangebot erfreute die Berties sehr. Sie wagten jedoch nicht das Angebot ohne weiteres anzunehmen, sondern schickten den früheren Bischof von Bath und Wells, William Barlow, nach Polen. Dieser hatte schon für sie in Weinheim die Verhandlungen mit John Brett geführt, da die Berties, wie die anderen Flüchtlinge auch, direkten Kontakt mit Brett und seinen Briefen vermieden. William Barlow wurde auf seiner Reise von John Burcher (Garrett, 100f) begleitet, einem Kaufmann, der angeblich lernen sollte, in Krakau Bier zu brauen, der aber in seinen Briefen an Bullinger von Johannes a Lascos Wirken in Krakau erzählte (Cross). Diese Erkundungsreise war erfolgreich, und die Berties mit ihren Kindern setzten sich in Bewegung. Nördlich von Frankfurt trafen sie Soldaten des Landgrafen (Philipp von Hessen?) und der kleine Spaniel der Herzogin griff sie an. Die Soldaten durchbohrten die Karosse mit ihren Bärenspießen und Bertie mit den Hauskerlen verteidigten sie. Im Kampfgetümmel wurde das Pferd des Kapitäns getötet und die Soldaten waren überzeugt, dass diese Wallonen ihren Kapitän umgebracht hatten. Bertie ritt in die nächste Stadt, um die Angreifer von der Karosse wegzulocken. Dort suchte er Schutz im obersten Stock eines Hauses, wo er sich mit seinem Degen verteidigen konnte, bis der Bürgermeister kam, der Latein sprach. Bertie ergab sich ihm. Am nächsten Tag trafen sowohl die Herzogin als auch der Graf von Erbach ein. Der Graf kannte die Herzogin von früher und verneigte sich tief vor ihr - zum Staunen der Bürger (Foxe, 1839, Bd. 8, 574-576).
Ihre weitere Reise verlief ohne Zwischenfälle. Die nächsten zwei Jahre verbrachten sie in Litauen auf ihrem Gut. Im Winter 1558/59 erfuhren sie die Nachricht vom Tod Marias und der Thronbesteigung Elizabeths. Catherine Bertie schrieb an Elizabeth und beglückwünschte sie. Außerdem schickte sie ein kostbares Neujahrsgeschenk. Mit solchen Geschenken zeigte die Königin ihr Wohlwollen und die Untertanen bezeugten ihre Treue. Bald verstand Catherine Bertie jedoch, dass die so sehnsüchtig erwartete Königin mit äußerster Vorsicht vorging: es war nicht ihre Absicht, eine reformierte Kirche nach dem Vorbild von Genf und Zürich einzuführen. Enttäuscht schrieb die Herzogin an ihren Freund Cecil, dass die Englische Kirche weder katholisch noch reformiert sei. Sie lobte Maria Stuart für ihre konsequente Verteidigung der Messe: Sie habe wenigstens Haltung gezeigt! (Read, 132ff, Bainton, 273f)
4. Puritanerin in England
Im Sommer 1959 fuhren die Berties zurück nach England – Fürst Radziwill kaufte das Lehn von ihnen zurück und machte damit die Heimreise möglich. Bei ihrer Ankunft gab Elizabeth der Herzogin alle ihre Güter zurück und bürgerte den kleinen Peregrine ein. Sie wohnten fortan auf Grimsthorpe.
Miles Coverdale, zurück aus Genf, wo er an der englischen Bibelübersetzung („the Geneva Bible“) mitgewirkt hatte, zog vorerst nach Grimsthorpe. Später siedelte er nach London um.
1562 wurde eine neue Ausgabe von den Predigten Latimers verlegt, und in der Widmung an die Herzogin schrieb der Herausgeber Augustin Bernher, der Assistent Latimers, dass sie alles aufgegeben habe, um „ein Flüchtling für Christus und sein Evangelium zu werden“. Sie sei ohne Zweifel vom Exil zurückgebracht worden, „um die Verzweifelten zu trösten und um ein Werkzeug zu werden, damit sein heiliger Name gepriesen sein soll und sein Evangelium verbreitet“ (Goff 238f, Übersetzung M.N.). Damit hatte Bernher den Wunsch geäußert, Catherine Bertie möge den Puritanern beistehen. In der folgenden Ausgabe der Predigten aus dem Jahr 1578, schrieb Bernher in seiner Widmung: „An etliche gab der gnädige Gott eine solche Tapferkeit (= valiant spirit), dass sie alles aufgegeben haben und geduldig in fremden Ländern reisten…“ (Goff, 317). Für Reformierte wie Bernher war die Flucht, um den Glauben woanders bekennen zu können, eine mutige Handlung. Er selbst war zur Regierungszeit Maria Stuarts in London geblieben, um die heimlichen reformierten Gemeinden pastoral zu betreuen. Seine Ablehnung galt den Personen, die in England geblieben waren und zur Messe gingen. Man denke an Cecil und an Elizabeth. (Vollständige Zitate in der Originalsprache im Anhang.)
In den folgenden Jahren bildete sich in der Englischen Kirche ein reformierter Flügel aus Theologen und Laien, die fanden, die Elizabethanische Kirche sei ungenügend reformiert. Diese Gruppierung wurde Puritaner genannt, aber selbst bezeichneten sie sich als „the godly“ = die Frommen. Selbst die von Elizabeth ernannten Bischöfe meinten, man solle die Kirche weiter reformieren („ecclesia semper reformanda“), wurden aber von der Königin zurückgepfiffen.
Vornehme Familien am Hofe – die Sidneys, die Dudleys und die Russells – gehörten zu den Puritanern, aber Catherine schloss sich diesen Kreisen nicht an. Vielleicht wagte sie es nicht, sich mit Elizabeth anzulegen. Während Robert Dudley, Favorit Elizabeths und Graf von Leicester, puritanische Geistliche im ganzen Königreich untergebrachte, konzentrierte Catherine sich auf Lincolnshire (Harkrider, 115-135).
Viele puritanische Landadelige lebten ihre religiöse Überzeugung im häuslichen Rahmen vor. Andachten, Bibellesungen und eine strenge Lebensführung prägten ihren Tagesablauf. Darüber hinaus versorgte Catherine die Kirchen, wo sie Patronatsrecht hatte, mit an der Universität ausgebildeten Pastoren. Die wichtigste Anforderung an einen puritanischen Pastor war die Predigt – die früheren katholischen Priester waren ja vor allem Messpriester und Sakramentsverwalter gewesen. In London war der Bischof vorsichtig bei der Berufung von Puritanern; um 1565 herum entbrannte ein Streit mit diesen Pastoren, weil sie sich weigerten, Messgewändern zu tragen. Einige wenige Kirchen waren frühere Klosterkirchen und standen somit nicht unter der Aufsicht des Bischofs. Catherine Bertie besaß in London das alte Klarissenkloster The Minories und in der dazugehörigen Kirche Holy Trinity ließ sie ihre Kaplane predigen. Diese Gottesdienste wurden von den Puritanern in London besucht (Collinson 1967, 50, 68, 86, Collinson 1983, 259f, Bainton 275f).
Die puritanische Überzeugung der Herzogin minderte nicht ihren Ehrgeiz für ihre Familie. Sie hatte ja noch Zugang zum Hofe durch Cecil, später Lord Burghley. Zuerst versuchte sie Richard Bertie zu Baron Willoughby de Eresby ernennen zu lassen. Das gelang nicht. Dann wollte sie ihrem Schwiegersohn den Titel des Grafen von Kent zuerkennen. Damit hatte sie Erfolg: zwar lebte der Schwiegersohn nicht lange, aber die Tochter Susan wurde Gräfin. Schließlich wurde ihr Sohn Peregrine Baron Willoughby de Eresby.
1550 hatte der Herzog von Somerset ihr vorgeschlagen, seine Tochter mit ihrem ältesten Sohn, Henry Brandon, zu vermählen. Es war ein ehrenvolles Angebot, aber sie schlug es aus mit der Begründung, die jungen Menschen sollten abwarten, ob sie sich lieben könnten (Bainton, 255f). Als Peregrine dagegen im heiratsfähigen Alter war, verliebte er sich in Lady Mary de Vere. Diese Ehe passte nun der Herzogin gar nicht. Die Familie de Vere neigte eher dem Katholizismus zu („…our religions agree not“ Goff 309) und der Bruder Marys, der Graf von Oxford, hatte seine Frau, die Tochter Cecils, sehr schlecht behandelt. Wie dem auch sei, die Herzogin verbrachte ihre letzten Jahren in Klagen über ihre missratenen Kinder und Schwiegertochter. Erst als Catherine Bertie 1580 starb, wurde die Ehe Peregrines anscheinend glücklicher. Er und seine Frau bekamen sieben Kinder und er leistete erfolgreich Militärdienst für Elizabeth. Susan heiratete 1581 in zweiter Ehe einen Offizier, Sir John Wingfield, der für seine Tapferkeit bekannt war.
In Spilsbys Kirche steht ein imposantes Grabmal für Catherine und Richard Bertie mit Büsten von ihnen und biblischen Texten. Die Inschrift lautet: „Sepulchrum D. Ricardi Bertie et Catherinae Ducissae Suffolkiae, Baronissae de Willoby de Eresby, coniug. ista obiit XIX Septemb. 1580. Ille obiit IX Aprilis, 1582“: Das Grab von Herrn Richard Bertie und von Catherine, Herzogin von Suffolk, Baroness de Willoughby de Eresby, seine Gattin. Sie starb am 19. September 1580. Er starb am 9 April 1582.
5. Würdigung
Das Leben der Catherine Willoughby/Brandon/Bertie war von ihrer hohen Abstammung und großem Reichtum bestimmt. Als Witwe behielt sie den Titel ihres ersten Gemahls und war lebenslänglich als die Herzogin von Suffolk bekannt. Nach dem Tod Heinrichs VIII. spielte sie eine herausragende Rolle in der Regierungszeit Edwards V, war eine Vollstreckerin der königlichen Anordnungen und pflegte wichtige Freundschaften (nur mit Wibrandis Rosenblatt haperte es mit der Freundschafft!).
Sie nahm sich das Recht heraus, aus Liebe zu heiraten. Der jakobitische Bühnenautor John Webster schrieb seine etwas blutrünstige Tragödie „The Duchess of Malfi“ über dieses Thema: eine junge Frau, die trotz ihrem hohen Stand es wagt, ihr Liebesglück nachzustreben.
Catherine Bertie wurde in „The Book of Martyrs” von John Foxe aufgenommen, nicht weil sie auf dem Scheiterhaufen landete, sondern weil sie als Flüchtling Zeugnis ihres Glaubens ablegte. Die Quelle für John Foxe ist zweifelsohne Richard Bertie, der Episoden erzählte, in welcher er selbst eine vorteilhafte Rolle spielte. Bertie diente der Herzogin treu und ergeben. Er blieb nicht ohne Kritik. Goff berichtet (S.215), dass auf seinem Porträt auf Grimsthorpe jemand geschrieben hat: „Cendre Bien delguise Toutefois Cendre“: Selbst gut verkleidet bleibt Asche nur Asche. Das war Richard Bertie gegenüber sehr unfreundlich. Die Rechnungen für das Gut Grimsthorpe zeigen, dass er im feinsten Zwirn gekleidet war (Read 149f).
Die Zeit auf der Flucht war von viel Hilfe geprägt. Der Pastor Perussel, die früheren Bischöfe Coverdale und Barlow, die Pfalzgrafen, Johannes a Lasco und Fürst Radziwill – alle halfen sie der Herzogin und ihrer Familie. Gewissermaßen war sie immer von einer schützenden Hülle umgeben. Die Zeitgenossen bewunderten ihren Mut und Bereitschaft, England für ihren Glauben zu verlassen und in fremden Ländern zu leben.
Trotz aller Frömmigkeit verdarb sie sich ihre letzten Jahre mit ihrem Familienzwist. Sie war nie umgänglich gewesen, ihre „heats“ (= hysterische Anfälle) waren berüchtigt und gefürchtet, und sie kränkte nicht nur Stephen Gardiner. Andererseits blieben Bedienstete bei ihr über Generationen hinweg und ihre Briefe an Cecil zeigen eine sehr charmante Frau.
6. Die Herzogin von Suffolk in der Kunst
Das Schicksal der Herzogin inspirierte Dichter und Regiseure: Thomas Deloney (1543-1600) schrieb eine Ballade: „The most Rare and Excellent history of the Dutchess of Suffolk and her Husband Richard Berties Calamities”.
1624 verfasste Thomas Drue (Drew) ein Schauspiel: „The Life of the Duchess of Suffolk“. Es ist abgedruckt in Goff und von mäßigem Interesse.
John Webster´s oben erwähnte Tragödie: „The Duchess of Malfi“ ist von ihr inspiriert, ohne auf historische Fakten Rücksicht zu nehmen.
In der Fernsehserie „The Tudors“ wird sie Catherine Brooke genannt. Nicht nur was den Namen anbelangt hat die Figur mit der historischen Catherine Willoughby nichts gemeinsam. Auch die erste Ehe von Charles Brandon mit Mary Tudor hat mit historischen Tatsachen wenig zu tun.
Die historische Wirklichkeit ist genauso spannend.
Anhang:
Originaltext von Latimer´s Sermons, Widmung von 1562:
„I have set forth these sermons, made by this holy man of God (scil. Latimer), and dedicated them to your Grace, partly because they were preached in your Grace´s house at Grimsthorpe by this reverend father and faithful prophet of God, whom you did nourish, and whose doctrine you did most faithfully embrace, to the praise of God and unspeakable comfort of all Godly hearts, the which did, with great admiration, marvel at the excellent gifts of God, bestowed upon your Grace, in giving unto you such a princely spirit, by whose power and virtue, you were able to overcome the world, to forsake your possessions, lands and goods, your worldly friends and native country, your high estate and estimation with which you were adorned and to become an exile for Christ and his Gospel´s sake; to choose rather to suffer adversity with the people of God than to enjoy the pleasures of the world with a wicked conscience, esteeming the rebukes of Christ greater riches than the treasures of England, whereas the worldings are far otherwise minded; for they have their pleasures among the pots of Egypt, they eat, drink and make merry, not caring what became of Christ, or his Gospel; they be so drunken with the sweet delicates of this miserable world that they will not taste of the bitter morsels, which the Lord has appointed and prepared for His chosen children and especial friends. Of the which he did make you most graciously to taste, giving unto your Grace His spirit that you were able in all the turmoils and grievances the which you did receive, not only at the hands of those who were your professed enemies but also at the hands of them who professed friendship and good-will but secretly wrought sorrow and mischief; to be quiet and patient and in the end, brought your Grace home again to your native country, no doubt to no other end but that you should be a comfort to the comfortless and an instrument by which His Holy name should be praised and his Gospel propagated and spread abroad: to the glory of His Holy name and your eternal comfort in Christ Jesus, into whose merciful hands I commit your Grace with all yours eternally.” (Goff, 238f)
Latimer´s Sermons, Widmung von 1578: „Unto some, the self same most gracious God gave such a valiant spirit that they were able, by His Grace, to forsake the pleasures & commodities of this world, & being armed with patience, were content to travel into far & unknown countries, with their families & households, having small worldly provision, or none at all, but trusting in His providence, who never forsake them that trust in Him.” (Goff, 317)
Literatur:
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Wirtschafts- und Sozialethik bei Johannes Calvin
Grundlagen – Formulierungen – Wirkungen
Übersicht
1. Theologische Grundlagen
2. Wirtschaft im Horizont des biblisches Zeugnisses
3. Wirtschafts- und sozialethische Konzepte in der Reformation
4. Calvinismus und Kapitalismus
5. Calvins Überlegungen zu Armut und Reichtum am Beispiel seiner Deuteronomium-Predigten
6. Calvins Stellung zu Geld, Eigentum und Zins
7. Praktische Wirkungen von Calvins Wirtschafts- und Sozialethik
8. Impulse aus der ökumenischen Diskussion
9. Linien einer gegenwärtigen reformierten Wirtschafts- und Sozialethik
10. Freiheit, Gerechtigkeit und Koinonia als theologische Orientierungen
11. Geld und gute Worte
Eingangs sei eine Impression aus der Malerei, hier aus der niederländischen Kunst des 16. Jahrhunderts, gegeben. Nachdem 1566 ein Bildersturm durch die niederländischen Kirchen gegangen ist und die calvinistischen Kirchen bildlos blieben, wandte sich die Malerei vornehmlich profanen Themen zu. Und wo dann doch religiöse Motive ins Bild gesetzt wurden, geschah das zumeist in moralisch-pädagogischer Absicht, so auch am Beispiel von Reichtum und Armut. Das Gleichnis vom reichen Mann und armen Lazarus (vgl. Lk 16,19-31) griff der Maler Hans Vredeman de Vries (1526-1609) mehrfach auf (Abb.: Lazarus und der Reiche, 1572). Der Arme bettelt vor dem monumentalen Palast des Reichen vergeblich um Essensreste, befindet sich gleichsam vor der Tür, außerhalb der opulenten Tafelrunde im Innern des Palastes. Hunde werden auf ihn gehetzt, um ihn vom Eindringen in die Welt der Reichen abzuhalten. Wie zur Warnung ist auf einem zweiten Bild des gleichen Themas in der linken unteren Bildecke der Reiche noch einmal abgebildet (Lazarus vor dem Palast des Reichen, 1583), nun hinter dem vergitterten Kellerfenster in den Flammen der Hölle. Der pädagogische Sinn auch dieses Bildes ist offensichtlich: Reichtum birgt die Gefahr des Untergangs in sich. Man wird nicht fehlgehen, in diesem Bild zudem einen Hinweis auf das im Calvinismus zunehmend profilierte Ideal der Zurückhaltung und Bescheidung zu erkennen.
Auf diesem Hintergrund ist zu fragen, worin die spezifisch reformierten Maßnahmen zum Umgang mit Reichtum und Armut sowie mit der Wirtschaft überhaupt bestehen. Denn schon nach klassischem reformiertem Verständnis unterliegen wirtschaftliche Fragen nicht nur der immanenten ökonomischen Rationalität. Sie rühren an die Grundlagen des Glaubens und können schließlich sogar zum Gegenstand des Bekennens und Bekenntnisses werden, da Lebensfragen aufs Engste mit Glaubensfragen verknüpft sind. Johannes Calvin zufolge bedarf nicht nur der Glaube und die Kirche, sondern das Leben überhaupt der ständigen Erneuerung vom Wort Gottes. In diese Erneuerungsprozesse sind die Dimensionen des Alltagslebens einbezogen. Zu Recht erkannte Karl Barth in der calvinischen Reformation den konsequenten Schritt von der Erkenntnis Gottes zur Lebenswirklichkeit des Menschen. Dieser Schritt ließ Calvin gemeinsam mit dem Zürcher Reformator Ulrich Zwingli zum „Propheten des neuen christlichen Ethos“ werden.[1] Barth ergänzt, dass Calvin mit seiner Hinwendung zur Weltgestaltung „die Reformation welt- und geschichtsfähig gemacht“ hatte und in Gestalt des Calvinismus auf die Gesellschaftslehren der Neuzeit maßgeblichen Einfluss nahm.[2]
Calvins Theologie verfügt durch die Dialektik von Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis über eine Bipolarität, in der das menschliche Leben in eine Beziehung zu Gottes Sein gesetzt wird. Gott existiert zugunsten des Menschen, der seinerseits im Angesicht Gottes und für ihn lebt. Calvin sieht das Leben aber keineswegs unter dem Vorzeichen eines fordernden und autoritären ethischen Imperativs, sondern beschreibt die Heiligung des Lebens als Gottes befreiendes Werk am Menschen. Dieses Wirken Gottes zielt auf die menschliche Freiheit, die der christlichen Existenz ihre Signatur gibt. Das Leben zur Ehre Gottes und die christliche Lebens- und Weltgestaltung gründen im Glauben an Gott, der in Jesus Christus sein eigenes Leben zugunsten des Menschen eingesetzt hat. Der Mensch ist dazu geschaffen, mit seinen ihm anvertrauten Gaben dem Schöpfer und Bewahrer seines Lebens zu antworten, sich vor ihm zu verantworten und ihm dankbar zu entsprechen. Geschaffen zur Antwort, versteht der Mensch sich selbst recht nur in Beziehung zu Gott und zur ihn umgebenden Schöpfung – insbesondere zum anderen Menschen.
Die Kirche Jesu Christi existiert mitten in einer Welt, in der Armut und Reichtum, ungerechte und gerechte soziale Verhältnisse erkennbar und identifizierbar sind. Von Anfang an gehört zu den Erkennungszeichen der Kirche Jesu Christi, Anwältin und Partnerin der Schwachen und der Hilfe Bedürftigen zu sein. Dies gilt für die Christenheit in ihrer weltweiten Dimension ebenso wie für die diakonische Arbeit an der Linderung der Not vor Ort und in der eigenen Region. Die Diakonie, insbesondere in ihrer gemeindlichen Verankerung, gibt den Kirchen Profil.
2. Wirtschaft im Horizont des biblisches Zeugnisses
Wirtschaftliche Fragen gehören in das Zentrum des christlichen Glaubens und sind bereits ein wesentliches Kapitel der biblischen Theologie. Im Alten Testament werden mit Schuldenrecht, Zins, Kredit und Insolvenz konkrete wirtschaftliche Themen angesprochen und für sie Kriterien des gerechten Handelns und Urteilens bereitgestellt (vgl. Ex 22; Dtn 24). Auf diese Weise soll das soziale und religiöse Zusammenleben der Menschen in Israel intakt gehalten werden. Die Menschen sehen sich durch Gottes Zuwendung zu ihnen im Bund vom Sinai und den Weisungen der Tora verpflichtet, ihr Leben in Treue zu ihrem Befreier zu gestalten. Eine der zentralen wirtschaftlichen Grundregeln ist die Einführung des Jobel- bzw. Erlassjahres in Dtn 15. Darin wird verfügt, in regelmäßigen Abständen alle Schulden zu erlassen, um auf diese Weise das fortgesetzte Ansammeln von Vermögen bzw. Schulden zu unterbinden. Auch in anderen Texten wird die Wirtschaft unter dem Gesichtspunkt der Armut und der Existenz des wirtschaftlich Bedürftigen gesehen. Der Arme hat Anspruch darauf, dass ihm Recht widerfährt (Am 2,6), ihm kommen die Solidarität der Volks- und Religionsgemeinschaft (Jes 58,1-12; 61,1-11) sowie konkrete Ermäßigungen und Erleichterungen zu (Ex 22,24; 23,10f.; Lev 5,7-13; Dtn 23,20f.; 24,19-22; Neh 5,1-13). Das Zeugnis des Neuen Testaments berichtet davon, dass Jesus an das Konzept vom Jobeljahr anknüpft (Lk 4,19). Weiter ist die Rede von Jesu besonderer Sendung zu den Armen (Mt 11,5; 25,40; Lk 4,18; 16,19-31; 18,18-27), von der Einsetzung der Armenpfleger in der christlichen Gemeinde (Apg 6), von der Selbstbezeichnung der Jerusalemer Urgemeinde als „die Armen“ (Gal 2,10) und von der Kollekte für die Armen (1 Kor 16; 2 Kor 8-9). Alle diese Notizen zeigen deutlich auf, dass Wirtschaftsfragen von den biblischen Texten benannt und kritisch im Sinne der Lebensdienlichkeit und der besonderen Aufmerksamkeit auf das Geschick des Armen reflektiert werden.
In der Urchristenheit standen die Finanzierung der Gemeinde, die Versorgung der Armen (Apg 6), der Finanzausgleich zwischen den Gemeinden (vgl. 2 Kor 8f.), der Umgang mit Sklaven und das Verhalten der Reichen gegenüber den Armen beim Abendmahl (vgl. 1 Kor 11,17-34) auf der Tagesordnung. Um des Evangeliums willen ging es nach Paulus bei diesen Herausforderungen um das Selbstverständnis der entstehenden Gemeinden. Verkündigung, Gemeinschaft, Gemeinde und Diakonie waren untrennbar miteinander verbunden. Diese biblische Sensibilität für wirtschaftliche Fragen griffen die Christen der ersten Jahrhunderte auf. So verstand sich etwa Johannes Chrysostomus als Anwalt der Armen, benannte die Barmherzigkeit als Kennzeichen der Menschlichkeit und erklärte, dass im Armen Jesus Christus selbst begegnet.[3]
Ein neuralgischer Punkt war die Zinsfrage. In aristotelischer Tradition und in Anknüpfung an das biblische Verbot des Wuchers war Christen das Zinsnehmen verboten. Bereits die entsprechenden biblischen Texte treten dafür ein, dass die Notlage der Armen für den wirtschaftlichen Gewinn der Reichen nicht ausgenutzt werden dürfe (vgl. Ex 22,25; Lk 19,23) – ein Anliegen, das in der gegenwärtigen wirtschaftlichen Globalisierung und der mit ihr verbundenen Verschuldungskrise virulent bleibt.
3. Wirtschafts- und sozialethische Konzepte in der Reformation
In zahlreichen Städten des Spätmittelalters lebte ein hoher Prozentsatz der Bevölkerung in Armut und war angewiesen auf Bettelei, die von der wohlhabenden Bevölkerung gefürchtet wurde. Nachdem sich in der Folgezeit die soziale Welt durch Geldwirtschaft und die Ausdifferenzierung der Stadtkultur tiefgreifend gewandelt hatte, ließen sich die sozialen Probleme nicht mehr mit den traditionellen Instrumentarien der evangelischen Räte – nämlich Klostereintritt, Almosen und gute Werke – lösen. Bettelei und Almosenvergabe unterlagen der humanistischen Kritik, die darin eine selbstverschuldete Abweichung von den frühbürgerlichen Tugenden Fleiß, Ordnung, Disziplin und Mäßigung sah. Außerdem gerieten Wirtschaftsgebaren und Armutsideal der Klöster in einen Gegensatz, mit dem die reformatorische Kritik abrechnete.
In der Reformation wuchs die Überzeugung, dass die Zuwendung zum Armen die Konsequenz der neuen Glaubensüberzeugung war, deren Betätigung in dankbarer Liebe sich vom Individuum hin zur Gemeinde verlagerte. Ferner schälte sich die Kontur dessen heraus, was der Antwortversuch des Calvinismus zur sozialen Frage werden sollte: Arbeit, bescheidener, sparsamer Lebensstil und Geschwisterlichkeit – Tugenden, die sich nun sukzessiv durchsetzten und die Armut jedenfalls in Teilen zu therapieren vermochten.
Mit seiner Kritik am mittelalterlich-monastischen Versuch, die soziale Frage zu lösen, stand Calvin durchaus in der Tradition Martin Luthers. Dieser hatte mit seiner Auffassung von der Gerechtigkeit Gottes die Werke ihres verdienstlichen Charakters entkleidet und die Armenfürsorge aus dem Bereich der Verdienste herausgelöst und der Glaubensexistenz zugeschlagen. Sein Ruf nach dem Ende der Bettelei in seiner Schrift an den Adel von 1520 sorgte dafür, dass die Einnahmen der Bettelmönche stagnierten und die Städte selbst soziale Verantwortung übernahmen.[4] Die Armenpflege der Klöster wurde vielfach kommunalisiert oder in die Verantwortung der christlichen Gemeinde gelegt. Auch wurden die alten Bettelordnungen durch verbindliche Armenordnungen abgelöst. Ein Ergebnis dieser Neuordnungsprozesse war die Einrichtung der Wittenberger Beutelordnung von 1520/21 und der Leisniger Kastenordnung von 1523. Neben der Innovation blieb aber bei Luther ein konservativer Grundzug, indem er in der Leibeigenschaft des Feudalismus keinen Grund zur Armut erkannte. Ihre Aufhebung wäre kein evangelisches Ziel, vielmehr würde man durch die Abschaffung der Leibeigenschaft die christliche Freiheit profanisieren.[5] Auch wenn Luther die Überzeugung vertrat, dass Gott für ihn ein Gott der Armen und nicht der Reichen sei, schien er doch weniger an die materielle denn an die geistliche Armut aus der Bergpredigt zu denken. Ein eigenes, vom Evangelium her profiliertes und den sozialen Umständen entsprechendes Instrumentarium in der Armenfrage hat Luther jedenfalls nicht geschaffen. Auf dem Weg zu einem geistlichen Diakonat in der Verantwortung der ganzen Gemeinde bedurfte es weiterer Impulse, um die Armut als Thema reformatorischer Ekklesiologie und Sozialethik zu entdecken.
Diese Impulse kamen aus der Schweiz und Oberdeutschland. Zwingli diagnostizierte die Armut u.a. als Folge des schweizerischen Söldnerwesens. Der oftmals freiwillig eingegangene Dienst in fremden Armeen würde das soziale und wirtschaftliche Gefüge des Landes zerstören, indem wehrkräftige Männer für unbestimmte Zeit abgezogen und mit erbärmlichem Sold zurückgeschickt würden. Aus seiner Kritik an der Monopolwirtschaft, der Währungspolitik, den hohen Steuern und dem Bodenzins erwuchs sein Aufruf zu einer grundlegenden Reformation von Kirche und Gesellschaft.[6] Ein vergleichbares Verständnis für die Forderungen der Bauern brachte der junge Martin Bucer auf. Er legte sein Interesse an der Situation des Armen im „Gesprechsbiechlin“ von 1521 erzählend nieder, indem er einen Bauern seine Armut berichten und dessen Ursachen in der feudalen Ausbeutung benennen ließ.[7] Hier deutet sich an, was wenige Jahre später zur politischen Forderung werden sollte, als im Straßburg Katharina Zell, Wolfgang Capito und Bucer Erbarmen mit den Armen forderten. Praktische Konsequenz dieses Eintretens war u.a. die Maßnahme, die Stadttore Straßburgs für Flüchtlinge vom Land zu öffnen. Eine hervorgehobene Rolle in der Armenpflege spielte übrigens Katharina Zell als Hauptrepräsentantin eines neuen weiblichen Diakonats. Straßburg war zugleich der Ort, an dem die Wurzeln von Calvins Sozialethik lagen.
4. Calvinismus und Kapitalismus
Große öffentliche Popularität besitzt die vom Soziologen Max Weber vertretene Auffassung, dass ein Zusammenhang zwischen Kapitalismus bzw. wirtschaftlichem Erfolg und Calvinismus bestehe.[8] Die angebliche innerweltliche Askese der Calvinisten trage gemeinsam mit der doppelten Prädestinationslehre zwangsläufig zum wirtschaftlichen Erfolg bei. Im Anschluss an Weber beschreibt Ernst Troeltsch Calvin als Typus, der mit seinem Denken die wirtschaftliche Entwicklung befördert habe.[9] In zahlreichen Lexika wird die These von der inneren Konsequenz zwischen Calvinismus und moderner Geldwirtschaft oftmals kommentarlos rezipiert und in den Rang einer unwiderlegten Erkenntnis erhoben. Doch Webers Rückführung des Geistes des Kapitalismus auf die sogenannte calvinistische innerweltliche Askese und das Streben nach wirtschaftlichem Erfolg als Erwählungsgewissheit hält einer kritischen Prüfung nicht stand. Die Überlegungen, die Calvin zur Frage der wirtschaftlichen Gerechtigkeit und des Verhältnisses zwischen dem Armen und dem Reichen beigesteuert hat, sind keineswegs auf einen gleichsam entfesselten Kapitalismus ausgerichtet. Angesichts der populären Max-Weber-These, aber auch angesichts der wirtschaftsethischen Herausforderungen der Gegenwart bedarf es der Einsicht in Calvins theologische Argumentation, um zu einer begründeten Einschätzung des klassischen reformierten Beitrags zur Wirtschaft- und Sozialethik zu gelangen.
5. Calvins Überlegungen zu Armut und Reichtum am Beispiel seiner Deuteronomium-Predigten
Aufmerksam nimmt Calvin die sozialen Wirkungen der Wirtschaft in Genf wahr. „Fast alle, denen ihr Vermögen größere Ausgaben gestattet, haben an üppigem Glanz ihr Vergnügen“ – mit diesen Worten unterzieht er den kostspieligen Lebenswandel der Reichen einer Kritik und wirft ihnen vor, die christliche Freiheit zu pervertierten.[10] Die Genfer Situation um 1555 ist bestimmt durch einen beginnenden ökonomischen Aufschwung, an dem die zugezogenen Flüchtlinge erheblichen Anteil haben. Die Negativseite dieses Aufschwungs sind zunehmende soziale Spannungen, Integrationsprobleme der zumeist armen Flüchtlinge, Wohnungsnot, mangelnde Absatzmöglichkeiten für das Handwerk, Geldmangel, Schuldenlast und inflationäre Tendenzen. Genf ist eine Stadt im Umbruch mit einer disparaten sozialen Struktur, die das Faktum der Armut weiter Bevölkerungsteile in sich schließt. Die Antwort des christlichen Glaubens ist gefordert. Calvins wirtschaftsethische Überlegungen verdanken sich der theologischen Grundentscheidung, dass alle menschlichen Beziehungen und jegliche menschliche Tätigkeit unter der Herrschaft Gottes stehen, dem sich alles Zusammenleben und Tun verdankt. In christlicher Freiheit soll das individuelle und das kollektive Leben gestaltet werden, um darin Gott zu ehren und ihm Dankbarkeit entgegenzubringen. Diese Grundentscheidung hat besondere Relevanz für das Zusammenleben der Armen und der Reichen. Ausgehend von der Verpflichtung des Reichen, mit seinen ihm anvertrauten Gaben dem Armen zu helfen, versucht Calvin, das Leben des Armen und des Reichen unter Anleitung der Schrift zu durchdringen. Signifikant tritt seine theologische Reflexion von Armut und Reichtum in den Deuteronomium-Predigten der Jahre 1555/56 zutage.
1) Am umfassendsten bringt er die Armut in der Predigt über Deuteronomium 15,11-15 vom 30. Oktober 1555 zur Sprache, einem Text über das Erlassjahr und die Freilassung der Sklaven.[11] Ausgehend von der Erklärung, dass der biblische Satz „Arme habt ihr allezeit bei euch“ (Dtn 15,11) keinesfalls ein fatalistisches oder resignatives Armutsverständnis formuliere, macht Calvin auf folgenden Sachverhalt aufmerksam: Resignation angesichts der Existenz des Armen sei mehr als nur eine Nachlässigkeit. In ihr manifestiere sich die Sünde der Lieblosigkeit, der Selbstimmunisierung vor der Armut und der Vermeidung der Begegnung mit dieser. Gott aber habe das Wort von der fortdauernden Armut darum sagen lassen, damit der Christ das Notwendige zum Kampf gegen die Armut wirklich tue statt über sie nur sophistisch zu räsonieren. Calvin entzieht das Faktum der Armut der romantisierenden Überhöhung und ruft zu ihrer Abschaffung auf. Doch wie ist das Wort von der bleibenden Realität der Armut zu verstehen? Calvin deutet es nicht als Fortschreibung des Status quo, sondern theologisch als Hinweis auf ein den menschlichen Erklärungen und Theorien entzogenes Geheimnis Gottes. Dieses Geheimnis, das in der Existenz des Armen offenbar wird, will als Faktum wahrgenommen werden, das sich letztlich der Entschlüsselung entzieht. Es handelt sich, so spitzt Calvin zu, um ein Geheimnis, das nicht deprimieren und lähmen, sondern dem Glauben entgegenführen will.
Calvin sucht nach einem theologisch gangbaren Weg, nicht den Armen und seine Armut an sich, sondern den Armen in seiner Beziehung zu Gott und in seiner Beziehung zum Reichen zu verorten. Er gelangt zu folgender Verhältnisbestimmung: Als Herr des Armen und zugleich des Reichen will Gott den Reichen prüfen. Da dieser seinen Reichtum von Gott selbst erhalten habe, müsse er sich davor hüten, seinen Reichtum als Machtinstrument gegen seinen Nächsten einzusetzen. Die Prüfung des Reichen hat noch eine weitere konstruktive Seite: Der Reiche soll erkennen, dass Gott im Armen seine Freigebigkeit und Liebe zum Armen herausfordert. Umgekehrt wird aber auch der Arme einer Prüfung unterzogen, indem er in Geduld sein Geschick meistern und nicht durch Raub oder Betrug lindern soll. Der Gedanke der göttlichen Pädagogik umfasst somit beide, den Armen und den Reichen. Doch jenseits aller Deutungsversuche bleibt die Armut ein Geheimnis, das sich in Calvins Erklärung zu einem herausfordernden Thema der rechten Gottesverehrung, also des praktischen Christentums, wandelt. Gott schickt den Armen als Boten seiner selbst, damit der Reiche gleichsam Gott in die Hand gibt, was er dem Armen zuwendet. Der theologische Gewinn dieser Deutung liegt auf der Hand. Der Arme und der Reiche werden in präziser Weise aufeinander bezogen: Der Reiche bedarf existentiell des Armen. Sein Dasein ist für den Reichen mehr als nur eine materielle Herausforderung. Die Armut ruft den Reichen und die ganze christliche Gemeinde zur Deutung der eigenen Existenz im Angesicht Gottes auf.
Vordergründig kann kritisch eingewandt werden, dass sich hinter dieser theologischen Denkfigur Spuren einer sozialkonservativen Bestätigung von ungerechten Verhältnissen verberge, deren Änderung nicht intendiert sei, sondern durch die religiöse Überhöhung der Armut sanktioniert werde. Tatsächlich warnt Calvin vor der revolutionären Befreiung aus der Armut.[12] Aber er benennt auch praktische Konsequenzen: Anstelle der Bettelei sollen Spitäler, Waisenhäuser mit Kinderunterricht und Armenhäuser errichtet werden, was übrigens in Genf schon seit 1535 geschah. Das geistlich gestaltete Diakonat, verstanden als Verwaltung von Spenden und als direkte Hilfe, unterstreicht Calvins Impulse zur Bekämpfung und Überwindung der Armut.[13] Ohne Diaconia gibt es nach diesem Verständnis keine Ecclesia. Doch auch mit der besten Armenordnung und den entsprechenden Institutionen ist die Frage der Armut noch nicht gelöst. Calvin schärft ein, dass die christliche Gemeinde den Armen nicht als Armen an sich, sondern als ihren Armen zu erkennen habe: „Es hat einen Grund, dass unser Herr sagt: Dein Armer, dein Bedürftiger, der im Lande weilt. (...) Es sind unsere Armen (...) Unser Herr ist’s, der sie uns darbietet.“[14] Es bleibt ein Stachel im Fleisch der christlichen Gemeinde, dass der Arme und der Reiche einander begegnen, als von Gott Verbundene und aneinander Gebundene Gemeinschaft haben und durch ihre Existenz Gott ehren sollen. Da beide einander bedürfen, ist die Beseitigung ihres Gegensatzes oberstes Gebot. Es gilt ferner zu verhindern, das Thema Armut so zu objektivieren, dass ein Gemeinwesen nach Armut und Reichtum klassifiziert und die Person des Armen verschwiegen, marginalisiert und dem Reichen gleichsam entzogen wird. Begegnung, Kommunikation, Empfangen und Geben, Teilgeben und Teilhaben – das sind die Dimensionen, in denen sich das Leben aller vor Gott vollziehen soll, damit „beide Gott preisen, wenn der Reiche hat, Gutes zu tun, und der Arme dafür dankt“.[15] Der Arme und der Reiche in je ihren eigenen Möglichkeiten bilden einen lebendigen Organismus, in dem ihre Communio geradezu als „geistliches Wunder“[16] erscheint. Im Hintergrund dieses Modells steht die Erkenntnis, dass alle Güter als Gottes Gaben nicht der freien Verfügung anheim gestellt sind, sondern anvertrautes Eigentum sind, um dem Nächsten daran zum gemeinsamen Nutzen Teil zu geben.[17] Communio und Humanitas bezeichnen neben der Ehre Gottes den zweiten Brennpunkt von Calvins sozialethischen Predigten. Calvins Impuls zielt auf die Existenz des Armen und des Reichen in ihrer Communio und Humanität vor Gott – ein Impuls, der den Reichen fragen lässt: „Was, wenn ich jetzt in Not wäre?“ Calvins Antwort: „Wir sollen menschlich sein.“[18] Der Mensch ist hier gedacht als humanes und kommunitäres Wesen.
2) In seiner Predigt über Deuteronomium 24,14-18 vom 10. Februar 1556 knüpft Calvin an den Gedanken der Humanität an.[19] Er widmet sich der konkreten Situation des Umgangs mit Armen in ihren Arbeitsverhältnissen, ergreift für diejenigen Partei, denen der Lohn vorenthalten wird, und begründet theologisch das Recht auf gerechte Entlohnung, da Gott die Rücksicht auf die Not jedes Einzelnen geboten habe. Die Goldene Regel aufgreifend heißt es, dass sich der Reiche in den Armen hineinversetzen und sein Verhältnis zum Armen in Billigkeit ordnen soll. Das sozialethische Problem ist eine Herausforderung für den Glauben und steht im Horizont der Gerechtigkeit vor Gott: „Die Schreie der Armen (müssen) wohl zum Himmel steigen, und denken wir nicht, vor Gott unschuldig gefunden zu werden.“[20] Weil Gott die Sache der Armen zu seiner Sache macht, würde der Reiche gegen Gott selbst rebellieren, wenn er das Recht des Armen missachtet und seine Humanität nicht betätigt. Das Erbarmen mit dem Armen soll somit zum Kennzeichen der Humanität des Reichen werden.
3) Sachlich analog ist die Predigt über Deuteronomium 24,19-22 vom 11. Februar 1556 gestaltet.[21] Fünf Aspekte hebt Calvin hervor. Erstens: Gott hat den Reichen die Güter anvertraut, um ihnen durch ihren Wohlstand die Möglichkeit zu geben, den Nächsten in Armut daran teilhaben zu lassen. Der Arme und der Reiche werden im engen gegenseitigen Bezug als aufeinander verwiesene und weder vor Gott noch in der christlichen Gemeinde getrennte Personen verstanden. Der Grund für diese Bezogenheit liegt darin, dass sich aller Reichtum Gott verdankt und darum zum Nutzen des anderen einzusetzen ist. Gottes Bund mit den Menschen zielt auf die menschliche Humanität in der gegenseitigen Fürsorgepflicht. Zweitens: Die empfangenen Gaben schließen den Reichen mit Gott als ihrem Geber zu einem Bund zusammen, der von der Dankbarkeit bestimmt ist. Dieses Gottesrecht schließt die Praxis einer humanen Ordnung ein, die für den Armen und für den Reichen Konsequenzen hat: für den Armen, dass er sich nicht gewaltsam die Güter aneignen darf; für den Reichen, dass er zur Teilgabe seiner Güter verpflichtet ist. Gottesrecht und menschliche Ordnung rücken in einen Zusammenhang, der sich gegen jeden Moralismus sperrt und die Existenz des Armen und des Reichen als gegenseitige verheißungsvolle Aufgabe beschreibt. Drittens: Der Reiche lebt mit seinen spezifischen Gefährdungen der Habgier, des Geizes, der Selbstherrlichkeit und des mangelnden Dankes gegenüber Gott. Diese Gefährdungen werden von Calvin als Sünde enttarnt und ihnen das Empfangen des Lebensnotwendigen als Segen aus Gottes Hand gegenübergestellt. Viertens: Die im Gedanken der Gottesebenbildlichkeit gründende Gemeinschaft von Armen und Reichen in der Gemeinde Christi zielt auf eine Communio Sanctorum, die noch nicht verwirklicht ist. In dieses Bild von Gegenwartsanalyse und Zukunftsvision wird die Kategorie der Erinnerung eingetragen: Ägypten, die Armut der Israeliten und der Exodus werden zum Erinnerungsbild für Bedürftigkeit und Armut, aber auch für Rettung und die Verheißung von Land und Besitz. Innerhalb des biblischen Kontextes von Ägypten, Exodus, Sinaibund und Landnahme, in dem sich Gott den Menschen zusagt und verpflichtet, sollen sich der Reiche als Beschenkter und der Arme als Geretteter wiedererkennen. Fünftens: Der letzte Grund für Nächstenliebe und Humanität liegt in der gemeinsamen menschlichen Grundsituation der elementaren Bedürftigkeit. Gemeinsam stehen alle vor Gott als Bedürftige, denen das in Jesus Christus eröffnete neue Leben zugesagt wird. Wahre Humanität wird von der Menschlichkeit Gottes her ermöglicht.
Deutlich schält sich Calvins sozialethischer Grundgedanke heraus: Einerseits fordert Gottes Menschlichkeit die Humanität des Menschen heraus. Andererseits werden die Menschen ungeachtet ihres ökonomischen Status vor Gott als in einem grundlegendem Sinn Bedürftige identifiziert. Wahre Humanität ist eine Humanität der Bedürftigkeit. Sie beruht auf dem verkündigten Wort von der Menschwerdung und Menschlichkeit Gottes und ist darin eine Humanität, die primär im Evangelium gründet und nicht im moralischen Appell.
6. Calvins Stellung zu Geld, Eigentum und Zins
Wenn Calvin die Sprache auf Eigentum und Geld bringt, geht er von einer wichtigen Voraussetzung aus: Eigentum heißt, dass etwas Gott gehört. So verhält es sich schon mit den Menschen selbst. Sie gehören Gott und sind mitsamt ihren je persönlichen Gaben und ihrem Besitz Gottes Eigentum. Von hier aus bezieht Calvin Stellung zum materiellen Eigentum. In Genf redet man über Geld. Wirtschaftliche Fragen werden nicht tabuisiert, sondern sind ein Thema, das die Menschen angeht. Geld und Besitz stehen bei Calvin nicht unter negativem Vorzeichen. Vielmehr zeichnet sich seine Haltung durch eine Nüchternheit aus, in der Geld und Eigentum weder verklärt noch verdammt werden. Er behält beides im Blick: die oftmals verzweifelte Situation des Armen und die Logik des Marktes, zu der auch eine maßvolle Zinswirtschaft gehört. Und er erteilt der mittelalterlichen Lösung des Mönchtums, dass die selbstgewählte Besitzlosigkeit einen besonderen Vorzug bei Gott erwirke, eine Absage. Das wird deutlich in seiner Auslegung der Perikope vom reichen Jüngling (Mt 19,16-26 parr.), auf die sich regelmäßig die mittelalterliche Mönchstheologie berief.[22] Calvin schlägt einen neuen Weg der Wirtschaftsethik ein, indem er betont: Christus fordert keineswegs prinzipiell zum Verkauf aller Güter auf – dies kann gar der Eitelkeit Vorschub leisten –, sondern will bewahrt wissen, was Gott den Menschen in die Hand gegeben hat. Darum ruft Calvin den Menschen dazu auf, „Gottes Gaben ohne Gewissensbedenken … zu gebrauchen”.[23] Er erklärt sogar, dass Güter und Reichtümer dem Gebrauch der Menschen überlassen sind und es nirgends untersagt ist, neuen Besitz zu erwerben. Allerdings gibt er auch Regeln für den Gebrauch der Freiheit, indem er davor warnt, die christliche Freiheit durch frivolen Luxus, Verschwendung der anvertrauten Güter oder Gier zu verderben.[24] Damit macht er auf die Sozialverträglichkeit der Freiheit aufmerksam: Weder hemmungsloser Gebrauch der Freiheit noch der unbedachte Verzicht auf sie vertragen sich mit ihrem christlichen Verständnis. Freiheit ist nach Calvin gebundene Freiheit – gebunden durch den Willen des Befreiers und darum auch gebunden an den anderen Menschen. Freiheit darf nach Calvin nie gegen andere Menschen, sondern soll nach dem Maßstab der Liebe zu ihren Gunsten gebraucht werden – es ist die Rede vom „Maßhalten in der Freiheit“.[25]
Geld, Besitz und Reichtum sind also keine Hindernisse für den Eingang ins Gottesreich. Vielmehr steht dieses den Armen und den Reichen offen. Und Eigentum ist insofern für sich genommen zunächst einmal unproblematisch, als er letztlich eine Gabe Gottes ist. So kann Calvin auch die Vorzüge des Besitzes loben und etwa die Schönheit von Kleidung oder die Wirkung von Kosmetika hervorheben. Freude an diesen Gaben Gottes, nicht aber Argwohn bestimmt seine Ansicht. Reichtum einfach wegzuwerfen ist noch keine besondere Leistung. Die Liebe aber, zu der der kluge Umgang mit den Gaben, die Freigebigkeit und die Großzügigkeit gehören, ist der Maßstab für den Gebrauch von Besitz und Geld. Calvin mahnt in seiner Genesis-Auslegung: „Hüten wir uns, dass nicht der Reichtum uns beschwere und hinderlich werde auf dem Weg zum Himmelreich!“[26] Zur Liebe als Maßstab für den Umgang mit Geld und Besitz tritt die Dankbarkeit hinzu: Die Gaben sollen mit Dank empfangen und eingesetzt werden. Und in der Auslegung des Gleichnisses vom reichen Kornbauern schreibt Calvin: „Darum haben es alle nötig, sich selbst wach zu machen, damit sie sich nicht aufgrund ihres Reichtums für glücklich halten.“[27] Damit ein Leben gelingt, bedarf es noch anderer Güter als des wirtschaftlichen Wohlergehens. Damit warnt Calvin davor, sein Vertrauen auf irdische Dinge zu setzen und dabei den Geber der Gaben zu übersehen.
Schließlich bricht Calvin mit dem seit der Antike verbreiteten Satz, dass Geld kein Geld erzeuge. Er hält es für sinnvoll, Geld als Startkapital für Unternehmer zur Verfügung zu stellen und eine Wirtschaftsförderung durch Kredite zu ermöglichen. Auf diese Weise fördert er die Integration qualifizierter Kleinunternehmer und Kaufleute, die z.T. als mittellose Flüchtlinge nach Genf gekommen waren. Diese Maßnahmen berühren sich mit der Frage des Zinsnehmens. Der von Calvin ausgehende reformierte Weg in der Zinsfrage zielt einerseits auf eine Regelung gegen die weit verbreiteten und ungerechten Wucherzinsen und muss andererseits die biblische Stellung zum Zinsnehmen (vgl. Lk 6,34) beachten. Calvin bestreitet, dass die Bibel ein totales Zinsverbot fordert, und tritt dafür ein, dass Geld ebenso wie anderer Besitz Gewinn bringen dürfen. Zinsen können sogar ein ökonomischer Anreiz sein, Geld produktiv anzulegen. Vor allem aber fordert Calvin den gerechten Umgang mit dem Zinsnehmen ein: Nur wer wirtschaftlich dazu imstande ist, muss Zinsen zahlen; von Armen hingegen soll kein Zins genommen werden. Darüber zu wachen und die Zinshöhe festzulegen ist Aufgabe des Staates.
Zusammenfassend lässt sich erstens feststellen, dass sich Eigentum als gute Gabe Gottes seinem Segen verdankt und in freier Verantwortung genossen, eingesetzt und weitergegeben werden darf. Dies soll nach dem Maßstab der Liebe und in der Haltung der Dankbarkeit für das anvertraute Eigentum geschehen. Die gegenseitige Mitteilung der Gaben in der Gemeinde beruht auf dem Prinzip der Freiwilligkeit. Eine Zwangsenteignung würde diesem Denken, das ausdrücklich das Eigentumsrecht vertritt, zutiefst widersprechen. Auch wenn zweitens die Unterschiede zwischen Besitzenden und Armen bestehen bleiben, soll aber ihr Gegensatz überwunden werden. Das heißt konkret: Habgier, Verachtung des Armen und ein frivoles Protzen mit Luxus widersprechen dem Prinzip der Liebe, nach dem der Besitz gebraucht werden soll. So streitet Calvin gegen jede Praxis, die dem ärmsten Teil der Bevölkerung schaden könnte. Ihm liegt am Gleichgewicht zwischen wirtschaftlichem Aufschwung und sozialer Gerechtigkeit. Drittens bedürfen wirtschaftliche Regelungen wie das Zinsnehmen der gerechten Ausgestaltung, um ihre Legitimität zu wahren. Die legitime und keineswegs gottlose Geldwirtschaft muss mit dem biblischen Gebot der Sorge für den wirtschaftlich Schwachen in Einklang gebracht werden.
[1] K. Barth: Die Theologie Calvins. Vorlesung Göttingen Sommersemester 1922, hg. v. H. Scholl, Karl Barth-Gesamtausgabe, Abt. II, Zürich 1993, 123.
[2] Ebd., 121; ebd., 122: „Der Calvinismus ist der geschichtliche Erfolg der Reformation, weil er ihr Ethos ist.“
[3] Johannes Chrysostomus: Homilie 79 zu Mt 25,31-26,5, in: BKV2, Johannes Chrysostomus Bd. 4, Kempten/München 1916, 95-109.
[4] M. Luther: An den christlichen Adel deutscher Nation. Von des christlichen Standes Besserung (1520), WA 6,404-469.
[5] M. Luther: Ermahnung zum Frieden auf die Zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben (1525), WA 18, 326f.
[6] U. Zwingli: Wer Ursache zum Aufruhr gibt (1524), in: Huldrych Zwingli Schriften, Bd. 1, hg. v. T. Brunnschweiler, Zürich 1995, 353.355f.
[7] M. Bucer: Gesprechsbiechlin neüw Karsthans, in: Martin Bucers Deutsche Schriften, Bd. 1: Frühschriften 1520-1524, hg. v. R. Stupperich, Gütersloh/Paris 1960, 406-444.
[8] M. Weber: Ges. Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 91988.
[9] E. Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen. Ges. Schriften, Bd. 1, Tübingen 1912, 706.709.
[10] Inst. III,19,9.
[11] CO 27,336-349.
[12] Inst. IV,3,3.
[13] Vgl. Calvins Genfer Kirchenordnung von 1561, in: Calvin-Studienausgabe, Bd. 2, hg. v. E. Busch u.a., Neukirchen-Vluyn 1997, 256-259.
[14] CO 27,342.
[15] Ebd.
[16] G.W. Locher: Der Eigentumsbegriff als Problem evangelischer Theologie, Zürich 1962, 38.
[17] Inst. IV,1,3, wo Calvin erklärt: Wenn der Glaube lebendig ist, dass Gott der gemeinsame Vater und Christus das gemeinsame Haupt ist, sei es eine Selbstverständlichkeit, dass sie gegenseitig den Besitz mitteilen; vgl. auch Inst. III,7,5.
[18] CO 27,347f.
[19] CO 28,187-198.
[20] CO 28,190.
[21] CO 28,198-211.
[22] CO 45,539f.
[23] Inst. III,19,8.
[24] Inst. III,19,9.
[25] Inst. III,19,10-14, hier bes. Inst. III,19,12.
[26] Zu Gen 13,1, in: CO 23,189.
[27] Zu Lk 12,16ff., in: CO 45,385.
©Prof. Dr. Matthias Freudenberg, Wuppertal