Zeitgemäßheit
»Nun ist der an die Kirche herangetragene Ruf nach Reform keineswegs neu. Er ist vielmehr schon so oft erklungen, daß er längst nicht mehr ernst genommen wird und damit der Unglaubwürdigkeit anheimgefallen ist. Wer etwa auf dem Porscheplatz in der deutschen Stadt Essen auf den Bus wartet, wird bald auf eine Leuchtschrift aufmerksam, die ihm über den neuesten Siegestreffer des 1. FC Köln oder eine epochemachende Errungenschaft auf dem Suppenmarkt in Kenntnis setzt. Die Reklamepraxis längst gewohnt, wird sich der Leuchtschriftleser kaum aus der Fassung bringen lassen, wenn ihm auch das Sprüchlein ›Mach mal Pause‹ über die 3900 Glühbirnen besagter elektrischer Anlage entgegenblinkt. Verwunderlich ist aber, daß der Text nach der Anleihe bei der Werbung für ein Getränk fortfährt: ›Ein guter Rat, nicht nur zum Trinken. Mach mal Pause. Auch zum Gespräch mit Gott.‹ Die neueste Errungenschaft also einer modern sein wollenden Kirche, einer Kirche, die sich aus dem verzweifelten Ringen heraus, die Welt zu erweichen, nicht scheut, Gottesdienst mit Jazzbegleitung feilzubieten. Sie merkt nicht, daß sich die solchermaßen angesprochene Welt von diesem Schaubuden-Christentum degoutiert abwendet, weil sie ebensowenig das Bedürfnis hat, morgens in die Kirche zu gehen, um Komödien zu schauen, wie sie abends das Theater aufsucht, um sich an Predigten zu erbauen. Wo Jazzharmonien den Staub auf den Kirchenbänken erzittern lassen, wo die Junge Kirche in Tanzabenden und geselligem Kinobesuch zur Eheanbahnung für Jugendliche wird, wo ›Pfarrherren von heute‹ mittels Wildlederjacke und Khakihose ihre ›Zeitgemäßheit‹ demonstrieren wollen, wo kirchliche Manager die ›Werbetrommel des lieben Gottes‹ rühren, ist das Feuer der Reform nur noch ein bescheiden knisterndes Fünklein, das kaum mehr einen Strohhalm zu entfachen vermag.« (Karl Barth, An die Basler Nachrichten (1965), in: Offene Briefe 1945-1968 (GA V.15), 515f)