Wichtige Marksteine
Reformierte im Spiegel der Zeit
Geschichte des Reformierten Bunds
Geschichte der Gemeinden
Geschichte der Regionen
Geschichte der Kirchen
Biografien A bis Z
(1492-1549)
Ludwig XII. versuchte mehrmals, Marguerite als Braut in Europa zu verhandeln, aber weder ihre Aussichten, noch ihr Vermögen waren ausreichend, um eine internationale Ehe einzugehen. Stattdessen heiratete sie 1509, gerade siebzehn Jahre alt, den Herzog von Alençon, von dem wenig bekannt ist. Die Forschung geht meistens davon aus, dass sie und ihr Gatte wenig Gemeinsames hatten, zumal der Herzog vor Allem ein Soldat war. Dafür hatte sie aber eine geliebte Schwiegermutter, Marguerite von Lorraine, die eine zutiefst fromme Frau war. Jahre später schrieb Marguerite über ihren Tod und ließ ihre Trauer darüber durchblicken.
Als Ludwig XII. befürchten musste, nicht selbst Söhne zeugen zu können – er hatte „nur“ zwei Töchter, Claude und Renée de France – holte er Franz d´Angoulême an seinem Hof und gab ihm seine Tochter Claude zur Ehe. 1515 verstarb er und Franz bestieg als Franz I. den Thron Frankreichs.
Für Marguerite änderte sich das Leben schlagartig. Sie kam zu ihrem Bruder an den Hof, und da die Königin Claude sehr zurückhaltend und scheu war, übernahm sie bald die repräsentativen Pflichten. Zusammen mit ihrer Mutter bildete sie mit Franz ein Trio, die sogenannte „Dreieinigkeit“. Franz konnte immer mit seiner Mutter und seiner Schwester rechnen, und sie unterstützten ihn nach Kräften.
Franz I. wurde der erste Renaissancekönig Frankreichs. Er war jung, viril und plötzlich auch reich. Er ließ bauen an der Loire, eroberte das Herzogtum Mailand, versuchte sich als Deutschrömischer Kaiser wählen zu lassen – das war eine extrem teure Angelegenheit – und verwickelte sich in Rivalitäten sowohl mit Heinrich VIII. von England als auch mit Kaiser Karl V.
Schon 1516 verhandelte er ein Konkordat mit dem Pabst in Bologna. Die französische Kirche hatte seit dem Mittelalter ihre gallikanische Freiheiten gegenüber dem Pabst verteidigt, und als Frankreich sich als Nationalstaat festigen konnte und mit Franz I. fast die Grenzen erreicht hatte, die noch heute gelten, gelang es auch Franz, eine römisch-katholische Nationalkirche zu vereinbaren. Vor allem durfte er wichtige Posten in der Kirche mit seinen Kandidaten besetzen, die dann vom Pabst anerkannt wurden. Damit war die französische Kirche ihrem König treu ergeben, nicht desto weniger war sie streng katholisch, besonders die Fakultät der Theologie der Universität von Paris (oft abgekürzt Sorbonne genannt) wachte über die reine katholische Lehre. In den Jahren 1515 bis 1534 war Franz theologisch eher liberal und pfiff die eifrigen Theologen zurück, nach 1534 machte er mit ihnen gemeinsame Sache.
In Frankreich bildeten sich Kreise von Reformkatholiken und Humanisten, die der etwas verkrusteten katholischen Theologie kritisch gegenüberstanden. Sie forderten die Bibel in der Muttersprache und in den Händen von Laien. Sie kritisierten Heiligenkult und Reliquienverehrung, und versuchten eine Erweckung der Gläubigen im Sinne vom reformatorischen „sola fide, sola scriptura“ (= durch den Glauben allein und durch die Heilige Schrift allein) herbeizuführen. Der leitende Humanist war der alte Lefèvre d´Etaples (Faber Stapulensis), der nach Jahren als Herausgeber klassischer antiker Schriften endlich bereit war, die Heilige Schrift zu übersetzen. Er wurde unterstützt von Guillaume Briçonnet, Bischof von Metz. Dieser führte Reformen in seiner Diözese durch, legte die Bibelübersetzung des Lefèvre in den Kirchen aus, verjagte die Franziskaner, die sonst fast Predigtmonopol besaßen, und ließ durch seine eigene Leute „reformatorisch“ predigen. Unter ihnen waren Gérard Roussel, der später Hofkaplan bei Marguerite wurde, Guillaume Farel, der später in Genf als Reformator zusammen mit Calvin wirkte, und Simon Robert, der die frühere Nonne Marie Dentière heiratete und auch in die Schweiz zog.
Als katholischer Bischof wollte Briçonnet nicht die katholische Kirche umstürzen oder dem Pabst die Treue kündigen, er wollte dagegen die Kirche von innen erneuern. Er gehörte dem Reformkatholizismus an, der in Frankreich oft als „évangelisme“ bezeichnet wird, mit dem deutschen Wortbrauch „evangelisch“ aber wenig zu tun hat. Die Humanisten wie Erasmus von Rotterdam oder Lefèvre d´Etaples wollten zu den Quellen zurück, sie wollten die Bibel allen zugänglich machen, sie hatten von Paulus gelernt, dass Rechtfertigung durch den Glauben geschieht, aber er sah das alles nicht als Grund, die Einheit der Kirche auf Spiel zu setzen. Diese Männer prägten Marguerite.
An Bischof Briçonnet wandte sich Marguerite mit der Bitte um geistigen Beistand. Ein Briefwechsel folgte, der sich (nachweislich) über die Jahre 1521 bis 1524 erstreckte. Der Bischof schrieb lange Homilien, und Marguerite bat ihn ständig um mehr „seelische Nahrung“. Sie verwendete vermutlich seine schriftlichen „Predigten“ als Grundlage für Andachten mit ihren Hofdamen. Abschriften ließ sie in ihrem Freundes- und Verwandtenkreis verteilen .
Briçonnet legte ihr die Bibellektüre ans Herz, mit besonderer Wertschätzung der Paulinischen Briefe. Nebenbei sei bemerkt, dass sowohl Luther als auch Calvin in jungen Jahren den Römerbrief auslegten, denn wer Erneuerung für die Kirche erhoffte, kam um Paulus nicht herum. Das Besondere bei Briçonnet war allerdings sein Hang zur Innerlichkeit, die Liebe zwischen Christus und der Seele, die Aufgabe des Selbst und das Hinschmelzen in Christus. Gute Werke, der Verdienst der Heiligen, Fasten und Pilgern kamen bei ihm dagegen nicht vor.
Für Marguerite bedeutete diese religiöse Erneuerung, dass sie anfing, geistliche Gedichte zu schreiben, ihre poetische Ader wurde freigelegt. Das erste Gedicht handelt von einer nächtlichen Vision. Ihre Nichte – die Tochter ihres Bruders – starb 1524 mit acht Jahren, und Marguerite fragt die reine Seele, was sie glauben soll. Der Antwort ist klar, sie soll Christus allein lieben und glauben. Briçonnet hätte es nicht besser ausdrucken können.
In diesen Jahren wurden Luthers Schriften in Frankreich verbreitet und wir wissen mit Sicherheit, dass Marguerite seine Schriften kannte. Die theologische Fakultät der Universität von Paris leistete Widerstand gegen die lutherische Ketzerei und das bekam Bischof Briçonnet zu spüren. In seinen Briefen an Marguerite bat er sie wiederholt um Unterstützung und besonders darum, dass sie ihren Bruder und ihre Mutter für seine Reformen gewinnen möge. Marguerite hatte zwar großen Einfluss auf ihren Bruder, aber trotzdem musste Briçonnet alle seine Reformvorhaben aufgeben. Die Gruppe um ihn flüchtete nach Straßburg, während er selbst widerrufen musste. Er starb kurze Zeit später.
1524 starb Königin Claude, und Marguerite wurde mit der Aufsicht der königlichen Kinder betraut. Aus ihrem Briefwechsel wissen wir, wie sehr diese Kinder ihr ans Herz wuchsen. Ihre Ehe blieb kinderlos – ihre Trauer darüber vernimmt man in den Briefen an Briçonnet – und jetzt konnte sie ihre mütterlichen Gefühle den Kindern ihres geliebten Bruders zu Gute kommen lassen.
1525 verlor Franz I. die Schlacht bei Pavia in Norditalien. Seit vielen Jahren, schon in der Regierungszeit Karl VIII. hatte Frankreich mit den italienischen Stadtstaaten Krieg geführt. Jetzt stießen in Italien die habsburgischen und die französischen Truppen zusammen. Die Blüte des französischen Adels wurde an einem Tag vernichtet, und Franz selbst wurde gefangengenommen. Der Herzog von Alençon flüchtete vom Schlachtfeld und starb wenige Monate später, von seiner Gattin liebevoll gepflegt.
Jetzt schlug die Stunde für Marguerite. Mit ihrer Mutter hatte sie in Lyon den Ausgang des Krieges abgewartet, und nach dem Tod ihres Gatten ließ sie ihre Mutter als Regentin Frankreichs zurück, sie selbst segelte und ritt zu ihrem Bruder, der schwer krank in Madrid im Gefängnis lag. Sie pflegte ihn wieder gesund und versuchte mit dem unerbittlichen Kaiser Karl V. zu verhandeln. Sowohl sie als auch Franz dachten, dass der ritterliche Ehrencodex seine Befreiung möglich machen würde, Karl war aber auf handfeste Vorteile aus. Am Ende versprach Franz alles, um freizukommen, fuhr nach Hause, gab seine Söhne quasi als Unterpfand dem Kaiser und musste eine Riesensumme als Lösegeld aufbringen.
Als Regentin hatte die streng katholische Louise von Savoyen die französische Kirche in ihrem Kampf gegen die „Ketzer“ unterstützt, deshalb war auch keine Hilfe für Briçonnet und seine Leute zu erwarten. Nach der Rückkehr Franzens war er noch abhängiger als zuvor von der Kirche, nur sie konnte ihm mit dem Geld, das er dem Kaiser schuldete, versorgen. Anders als die deutsche Fürsten, die sich sehr wohl handfeste Vorteile von der Reformation in ihren Ländern erhoffen konnten, hatte der französische König schon eine (katholische) Nationalkirche, die ihn kräftig unterstützte, natürlich in der Annahme, dass er keine „Ketzer“ dulden würde.
Marguerite war eine noch junge Witwe, und ihr zweiter Gatte war ein junger, strahlender Held: Henri d´Albret, König von Navarra. Er hatte sich in der Schlacht von Pavia tapfer geschlagen, war gefangen genommen worden, hatte sich aber in einer „Mantel und Degen Aktion“ buchstäblich erfolgreich abgeseilt. Er war zudem ein Frauenheld und 12 Jahre jünger als Marguerite. Sein Königreich war winzig: das Königreich Navarra war ursprünglich das, was wir heute das Baskenland nennen, ein Gebiet, das sich beidseitig über den Pyrenäen erstreckte, jedoch sein Schwerpunkt auf der Südseite der Bergkette mit Pamplona als Hauptstadt hatte. Die Albrets, als südfranzösische Großgrundbesitzer, waren durch Heirat an die Krone gekommen, nur um erleben zu müssen, dass Spanien 1512 der Gebiet um Pamplona eroberte. Damit schrumpfte das Königreich auf Basse-Navarre zusammen, der französische Teil des Baskenlandes. Da er auch Vicomte von Béarn war, eine unabhängige Grafschaft mit eigener Regierung und Generalständen, hatte er dennoch sein eigene Hausmacht. Er erwartete, sozusagen als Mitgift, dass Franz ihm helfen würde, ganz Navarra zurückzuerobern. Franz dagegen erwartete, dass er die Grenze gegen Spanien verteidigen würde und machte ihn zum Oberbefehlshaber in Guienne, eine Bezeichnung für Südwestfrankreich von den Pyrenäen bis Loire, vom Atlantik bis Auvergne.
Was Marguerite erwartete, wissen wir nicht. Ihre Ehe bedeutete für sie eine Zerreißprobe zwischen dem geliebten Bruder und dem Ehemann, und es war für sie nicht einfach, beiden gegenüber loyal zu sein.
Ihre Ehe bedeutete aber auch, dass sie endlich Mutter wurde. 1528 gebar sie ihre Tochter, Jeanne d´Albret, danach einen Sohn, der kurz nach dem Geburt starb, und dann – sie wurde ja nicht jünger – hatte sie eine Reihe von Fehlgeburten und Scheinschwangerschaften.
Als Königin mit eigenem Herrschaftsgebiet konnte sie jetzt Glaubensflüchtlingen Schutz bieten. Bei ihrem Bruder trat sie immer noch für Andersdenkende ein, sie konnte aber jetzt in Bourges luthersche Studenten und Dozenten an die Universität holen, sie brachte den alten Lefèvre d´Etaples bei ihrem Hof in Nérac unter, sie machte Gérard Roussel zum Bischof von Oloron, und sie stellte als Sekretäre bekannte humanistische Skribenten ein, unter ihnen Clément Marot, Dichter und Verfasser vom ersten gereimten französischen Psalter.
Anfänglich blieben sowohl sie wie ihr Gatte am Hofe. Sie verhandelte zusammen mit ihrer Mutter und Margaretha von Habsburg, Statthalterin der Niederlande, den sogenannten Damenfrieden von Cambrai aus. Sie empfing Botschafter, verhandelte mit dem Pabst, und hatte immer noch die Aufsicht über die königlichen Kinder. Sie reformierte Klöster überall in Frankreich, ihre Lektüre der Lutherschrift „Von den Mönchsgelübden“ hatte sie nicht dazu gebracht, die Klöster abzuschaffen, sondern eher Missstände abzubauen.
1531 veröffentlichte Marguerite ihr religiös-poetisches Werk „Ein Spiegel der sündigen Seele“. Die zweite Ausgabe 1533 wurde von der Sorbonne als ketzerisch verurteilt und verboten. Wütend verlangte Franz I. die Rücknahme der Verurteilung, und die Universität fügte sich schleunigst. Als dann, 1534, die Plakataffäre mit ihrem Angriff auf die Messe und das katholische Abendmahlverständnis die Gemüter erregte, ging sie nach Südfrankreich. Dort konnte sie unter Anderen einem Flüchtling, dem jungen Calvin, weiterhelfen. Sie hatte seit jungen Jahren freundschaftliche Beziehungen zu ihrer Cousine, Renée de France, Herzogin von Ferrara, gepflegt, und jetzt schickten die zwei gleichgesinnten Verwandten einander hilfsbedürftige Glaubensflüchtlinge zu.
In den nächsten Jahren war das Verhältnis zwischen Bruder und Schwester etwas abgekühlt. Franz I. unterstützte die römisch-katholische Kirche nach Kräften, und Marguerite war vorsichtig geworden. Als der Berater des Königs ihn aber fragte, ob Gefahr bestünde, Marguerite könne zum Protestantismus übertreten, erwiderte der König: „Dafür liebt sie mich zu sehr!“, und behielt Recht damit.
Die Ruhe und Abgeschiedenheit am Hofe bedeutete für Marguerite Zeit für eine rege schriftstellerische Tätigkeit. Die religiösen Gedichte waren wohl eher eine Art meditative Übung inmitten der oberflächlichen Geschäftigkeit des Hofes. Jetzt verfasste sie Schauspiele, die am Hof aufgeführt wurden. Angeregt durch die Beschäftigung mit den Schriften des Plato, die sie durch den italienischen Humanisten Pico della Mirandola und Marsilio Ficino kennengelernt hatte, dachte sie über das Wesen der Liebe nach, und ihre schriftstellerische Tätigkeit wurde von diesen Überlegungen geprägt. Sie ließ Platos Schriften ins Französisch übertragen, so wie sie auch die Novellen von Boccaccio, „Dekameron“, übersetzen ließ. Diese Novellen beeinflussten ihre berühmteste Werk, die Novellen, aus denen das „Heptameron“ besteht, und die von ihr über einen längeren Zeitraum zusammengefügt wurden. Sie gab nur ein Buch in Druck, „Les marguerites de la Marguerite des princesses“, die Perlen der Perle (Marguerite) der Prinzessinnen, mitsamt dem Folgeband: „Suyte des marguerites“ (1547). Alle andere Schriften von ihr waren zu ihren Lebzeiten nur als Manuskript vorhanden, aber das Heptameron wurde ungefähr zehn Jahren nach ihrem Tod als Buch herausgegeben, und zählt seitdem zu den Klassikern des 16. Jahrhunderts, obwohl es oft missverstanden worden ist – dazu mehr später (vgl. Nielsen, Theologie als Erzählung).
Eine andere wichtige Angelegenheit in den letzten Jahren, ihr Verhältnis zu ihrer Tochter Jeanne, wird im Artikel über diese behandelt. In den letzten Jahren hatte sie eine Auseinandersetzung mit Calvin über die Freigeister, die sich bei ihrem Hof aufhielten. Ihre Bedeutung für die Reformation wird später untersucht. Klar ist allerdings, dass sie als Katholikin starb. Als ältere Frau zog sie sich immer öfters in Klöstern zurück und auch, wenn sie nie besonders rechtgläubig war, trat sie nie aus der Kirche aus. Sie starb 1549 auf ihrem Schloss Odos.
Marguerite d`Angoulême war eine hoch begabte, zutiefst fromme Frau. Sie ging unbeirrt ihre eigenen Wege, und auch, wenn sie diskret war, ließ sie sich nicht einschüchtern. Ihre Verdienste für die Verbreitung der Reformation sind offenkundig, und in Genf wusste Calvin sehr wohl, wie dankbar er ihr sein musste. Dabei war die geistige Freiheit ihr ohne Zweifel eine Herzensangelegenheit, während ihre Tochter und Enkelin mit Nachdruck Partei ergriffen. Zu Marguerites Zeiten waren diese geistige Freiheit und die Hoffnung, die katholische Kirche von innen zu erneuern und zu „reformieren“, ohne die Glaubensspaltung vollziehen zu müssen, noch möglich. Diese Umstände gaben ihr etwas Spielraum, den spätere Generationen nicht länger hatten.
Literatur
In Deutschland ist die Literatur zu Marguerite d´Angoulême übersichtlich. Zu erwähnen sind:
Margarete von Navarra: Das Heptameron, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1960, mit einem ausgezeichneten Nachwort von Peter Amelung. Neudruck München 1979, 1999 (dtv 12710)
Eltz-Hoffmann, Lieselotte von: Kirchenfrauen der frühen Neuzeit, Stuttgart 1995
Kraus, Claudia: Der religiöse Lyrismus Margaretes von Navarra, München 1981
Schönberger, Axel: Die Darstellung von Lust und Liebe im Heptaméron der Königin Margarete von Navarra, Frankfurt a/M 1993
Sckommodau, Hans: Die religiösen Dichtungen Margaretes von Navarra, Köln 1955
Sckommodau, Hans: Galanterie und vollkommene Liebe im „Heptaméron“, Münchener Romanistische Arbeiten, Band 46, München 1977
Sckommodau, Hans: Die spätfeudale Novelle bei Margareta von Navarra, Sitzungsbericht der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang von Goethe-Universität Frankfurt, Bd. XIV, Nr. 4, Wiesbaden 1977
Zimmermann, Margarete: Der Salon der Autorinnen: französische „dames de lettres“ vom Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert, Berlin 2005
Stedman, Gesa & Zimmermann, Margarete: Höfe – Salons – Akademien, Hildesheim 2007
Hinzu kommt eine Übersetzung:
Febvre, Lucien: Margarete von Navarra. Eine Königin der Renaissance zwischen Macht, Liebe und Religion, Frankfurt a/M 1998 (Originaltitel: Autour de l´Heptaméron: Amour sacré, amour profane, Paris 1996)
Allgemeine Kirchengeschichte:
Strasser-Bertrand, Otto Erich: Die evangelische Kirche in Frankreich, in: Die Kirche in ihrer Geschichte, Göttingen 1975
In Frankreich zählt sie zu den wichtigen Renaissancedichterinnen. Eine vollständige wissenschaftliche Ausgabe ihrer Werke von Nicole Cazauran ist in Arbeit:
Marguerite de Navarre: Oeuvres Complètes, Paris 2001. Bisher erschienen:
Heptaméron, Paris 2000 und die Bände 1,3,4,8 & 9
Die klassische Biografie ist:
Jourda, Pierre: Marguerite d´Angoulême, duchesse d´Alençon, reine de Navarre (1492-1549), Étude biographique et littéraire, Paris 1930, Genf 1978
Jourda, Pierre: Répertoire analytique et chronologique de la Correspondance de Marguerite d´Angoulême, Duchesse d´Alençon, reine de Navarre (1492-1549), Paris 1930
Christine Martineau, Michel Veissière & Henry Heller: Guillaume Briçonnet/Marguerite de Navarre: Correspondance, 2 Bd., Paris 1975-79
Herminjard, Aimé, hrsg.: Correspondance des réformateurs dans les pays de langue française, Genf 1886-79
In Heptaméron, ed. Nicole Cazauran, ist weiterführende Literatur erwähnt. Hier verweise ich nur auf drei Kolloquien aus dem Jahr 1992:
Marguerite de Navarre, 1492-1992, Actes du Colloque international de Pau (1992), Mont-de- Marsan 1995
Etudes sur l´Heptaméron de Marguerite de Navarre, Colloque de Nice, 15-16 Fèvrier 1992, Uni.de Nice, o. J.
Marguerite de Navarre, Actes du colloque international du 14 au 16 septembre 1992, Lódź 1997
Karlsson, Britt-Marie: Sagesse divine et folie humaine, Etude sur les structures antithétiques dans l´Heptaméron de Marguerite de Navarre (1492-1549), Göteborg 2001
Montaigne: Oeuvres complètes, Paris 1962
Ausgewählte Literatur in englischer Sprache:
- Patricia F. Cholakian & Rouben C. Cholakian: Marguerite de Navarre, Mother of the Renaissance, New York 2006
- Cholakian, Patricia F.: Rape and Writing in the Heptameron, Carbondale 1991
- Cottrell, Robert D.: The Grammar of Silence, A Reading of Marguerite de Navarre´s Poetry, Washington D.C. 1985
- Davis, Betty J.: The Storytellers in Marguerite de Navarre´s Heptaméron, Lexington 1978
- Davis, Natalie Zemon: Society and Culture in Early Modern France: eight Essays, Stanford 1975
- Farge, James K.: Orthodoxy and Reform in Early Reformation France, The Faculty of Theology of Paris, 1500-1543, Leiden 1985
- Ferguson, Gary: Mirroring belief: Marguerite de Navarre´s Devotional Poetry, Edinburgh 1992
- Gelernt, Jules: World of Many Loves, The Heptameron of Marguerite de Navarre, Chapel Hill 1966
- Greengrass, Mark: The French Reformation, London 1987
- Salmon, J.H.M.: Society in Crisis, France in the Sixteenth Century, London 1975
- Tetel, Marcel: Marguerite de Navarre´s “Heptaméron”: Themes, Language and Structure, Durham N.C. 1973
'Nichts an gesundem Menschenverstand entdeckt'
Calvin und die Juden
1. Calvins Kontakte mit Juden und dem Judentum
In der Forschung wird in der Regel davon ausgegangen, dass Calvin zeit seines Lebens keinen Kontakt zu Juden gehabt hat. Begründet wird dies damit, dass es weder in seiner Heimat Frankreich noch in Genf Juden gab. Diese Annahme steht jedoch im Kontrast zu einer Aussage, die Calvins selbst 1561 in seinem Danielkommentar macht. Dort schreibt er: »Oft habe ich mit vielen Juden gesprochen« (CR 68 CO XL, 605). Diese Stelle ist die einzige, in der sich Calvin über seinen Kontakt zu Juden geäußert hat. Wann, wo und mit wem dieser Kontakt zustande kam, bleibt leider im Dunkeln. Gleichwohl lässt sich für die verschiedenen Lebensstationen Calvins mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit rekonstruieren, ob er dort mit Juden zusammengetroffen sein könnte.
1.1. Frankreich
Beginnen wir mit der französischen Heimat Calvins. Bereits 1394 waren die Juden dort auf Anordnung Karls VI. weitgehend vertrieben worden. Calvin wuchs also in einem soziokulturellen Umfeld auf, in dem die Juden als eine gesellschaftliche Realität so gut wie nicht mehr präsent waren. Dies bedeutete jedoch nicht, dass die Juden auch aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden waren. Vielmehr zeigen die frühen Schriften Calvins, dass ihm einige der antijüdischen Stereotype vertraut waren, die in seiner französischen Heimat auch ohne die Existenz von Juden überliefert wurden (OS I, 48; 207f; CR 37 CO IX, 788). Von unmittelbarer Brisanz war die Auseinandersetzung mit dem Judentum für den jungen Franzosen jedoch nicht.
1.2. Basel
Erst nach seiner Flucht aus Frankreich 1535 dürften Juden überhaupt in den Gesichtskreis Calvins gelangt sein. Bereits in Basel, der ersten Station seines Exils, könnte er vereinzelt auf Juden aufmerksam geworden sein. Dort lebten zwar schon seit 1397 keine Juden mehr; reisenden Juden und jüdischen Händlern aus der Umgebung war es jedoch gestattet, die Stadt unter bestimmten Bedingungen zu betreten. Außerdem ist von dem Basler Hebraisten Sebastian Münster bekannt, dass er mit auswärtigen Juden (z.B. Elia Levita) in Kontakt stand. Ob Calvin allerdings mit Münster vertraut war und von dessen Kontakten wusste, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden.
1.3. Ferrara
Auf jeden Fall aber wird Calvin im Frühjahr 1536 bei seinem kurzen Aufenthalt in Ferrara mit der Existenz jüdischen Lebens und jüdischer Kultur in bisher nicht gekannter Weise konfrontiert worden sein. Denn Ferrara war eine der Hochburgen des norditalienischen Judentums. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts haben dort ca. 3.000 Juden gelebt, die in mehreren Synagogengemeinden organisiert waren.
Zwei Jahre vor Calvins Aufenthalt in Ferrara hatte Herzog Ercole II. d’Este sogar weiteren marrano-jüdischen Flüchtlingen aus Spanien und Portugal zugestanden, sich in Ferrara niederzulassen und zu ihrem ursprünglichen Glauben zurückzukehren. Leider hat Calvin in dieser frühen Phase an keiner Stelle erkennen lassen, dass er einzelnen Juden begegnet ist oder sich mit dem Judentum auseinandergesetzt hat. Gleichwohl aber dürfte er – entgegen dem stillschweigenden Konsens der Forschung – schon früh nach seiner Flucht aus Frankreich auf jüdisches Leben und jüdische Kultur aufmerksam geworden sein.
1.4. Der erste Genfer Aufenthalt
Während des ersten Genfer Aufenthalts (1536-1538) bestand für Calvin dann wenig Anlass sich eingehender mit dem Judentum zu befassen. Zum einen war Calvin ganz auf die Durchsetzung der Reformen konzentriert. Zum anderen gab es in Genf und Umgebung schon seit der Vertreibung von 1491 keine Juden mehr. Ebenso sind hinreichenden Hebräisch-Kenntnisse bei Calvin in dieser frühen Phase noch nicht zu erkennen.
1.5. Die Straßburger Zeit (1538-1541)
Die änderte sich in der Folgezeit. In der Straßburger Phase hatte Calvin gleich an mehreren Orten Gelegenheit, sich mit der Existenz jüdischen Lebens und jüdischer Kultur auseinanderzusetzen. Denn er hielt damals nicht nur in Straßburg auf, sondern reiste auch nach Frankfurt a. M., Hagenau, Worms und Regensburg. In Frankfurt hielt sich Calvin im Frühjahr 1539 anlässlich der Fürstenversammlung etwa sechs Wochen lang auf. Dort existierte eine der letzten großen Judengemeinden im Reich. Calvin könnte also während seines Frankfurter Aufenthalts – ähnlich wie in Ferrara – zumindest einen visuellen Eindruck von dem jüdischen Leben in Frankfurt erhalten haben.
Darüber hinaus dürfte Calvin mit den Fragen einer Duldung von Juden in Berührung gekommen sein. Denn diese Frage wurde auf der Frankfurter Fürstenversammlung kontrovers diskutiert. Erinnert sei hier an die öffentliche Disputation, bei der Josel von Rosheim die antijüdischen Vorwürfe Luthers und Bucers zurückwies. Calvin könnte bei dieser Disputation sogar zugegen gewesen sein. Außerdem deckte Melanchthon in Frankfurt den Brandenburger Hostienfrevelskandal (1510) auf und diskutierte mit dem hessischen Hofprediger Melander über die Duldung von Juden. Sowohl mit Bucer als auch mit Melanchthon stand Calvin beim Frankfurter Fürstentag in intensivem Austausch, so dass ihm diese Problematik kaum verborgen geblieben sein wird.
Auch bei den Religionsgesprächen in Hagenau und Worms (1540/41) dürfte Calvin auf das dortige jüdische Leben aufmerksam geworden sein; denn in beiden Städten gab es größere Judengemeinden. Beim nachfolgenden Religionsgespräch auf dem Regensburger Reichstag (1541) bestand diese Möglichkeit allerdings nicht, da die Juden dort bereits 1519 vertrieben waren. Gleichwohl kam die Duldung von Juden auch auf dem Regensburger Reichstag zur Sprache.
Ob Calvin, der sich mehrere Monate in Regensburg aufhielt (März bis Juni 1541), davon Kenntnis genommen hat, lässt sich nur vermuten. In Straßburg selbst aber dürften Calvin die Auseinandersetzungen um die Duldung von Juden nicht verborgen geblieben sein. Dort wurden zwar keine Juden geduldet, aber den Juden aus der Umgebung (insb. aus dem Elsaß) war es gegen Zahlung einer Abgabe gestattet, die Stadt in geschäftlichen Angelegenheiten zu betreten. Außerdem stand Calvins Straßburger Kollege Capito mit Josel von Rosheim in gutem Kontakt.
Calvins wichtiger Lehrer Bucer hingegen war 1539 auf der Frankfurter Fürstenversammlung mit Josel von Rosheim wegen des hessischen Judenratschlags aneinandergeraten. Ob auch Calvin Josel von Rosheim gekannt hat oder gar in Frankfurt Zeuge des Streits zwischen Bucer und Josel war, lässt sich nicht sagen, da es keine entsprechenden Hinweise gibt. Gleichwohl kann aber auch nicht ausgeschlossen werden, dass sich Calvin und Josel (in Frankfurt, Regensburg oder Straßburg) begegnet sind.
Doch diese möglichen Begegnungen mit einzelnen Juden bleiben Spekulation, gesicherte Hinweise gibt es keine. Trotzdem dürfte Calvin zumindest von der Auseinandersetzung Bucers mit Josel um die hessische Judenordnung gewusst haben. Denn der Streit entbrannte im November 1538, als Calvin gerade wenige Monate in Straßburg war. Zudem sah sich Bucer im Anschluss an die Frankfurter Fürstenversammlung eigens zu einer Streitschrift veranlasst, so dass sich Bucers Konflikt mit Josel noch bis etwa Mitte 1540 hinzog.
Da Bucer und Calvin in Straßburg nicht nur intensiv zusammengearbeitet haben, sondern auch unmittelbare Nachbarn waren, werden sie sich auf jeden Fall mündlich über den Sachverhalt ausgetauscht haben. Doch leider sind aus diesem Grunde auch keine entsprechenden schriftlichen Quellen erhalten. Gleichwohl gibt es einen späteren indirekten Hinweis, dass Calvin zumindest von Bucers Judenratschlag gewusst hat. Denn Ambrosius Blaurer bat Calvin im Mai 1561 um eine Stellungnahme zur Duldung von Juden. Die Antwort Calvins ist leider nicht mehr erhalten. Doch richtete Blaurer wenig später an Konrad Hubert, den einstigen Sekretär Bucers, die Bitte, er möge ihm den Judenratschlag Bucers zuschicken (1). Dies legt nahe, dass Blaurer durch Calvin auf Bucers Gutachten aufmerksam gemacht wurde.
1 Vgl. Briefwechsel der Brüder Ambrosius und Thomas Blaurer, hrsg. v. T. Schieß, Bd III 1549-1567, Freiburg i. B. 1912, Nr. 2384; CR 46 CO 18, 421,34-422,21 (Nr. 3371); 537,49-538,1 (Nr. 3430).
1.6. Der zweite Genfer Aufenthalt
Als Calvin im September 1541 nach Genf zurückkehrte, dürfte er lediglich zu einzelnen konvertierten Juden Kontakt gehabt haben, so z.B. zu einem gewissen Paulus Italus, den Bullinger 1553 als Boten zu Calvin sandte (CR 42 CO XIV, 597f). Außerdem war Calvin im Sommer 1543 erneut für zwei Monate in Straßburg, wo sich Kontakte mit Juden ergeben haben könnten. Zeugnisse dafür gibt es jedoch nicht.
Allerdings ist es sehr wahrscheinlich, dass Calvin dort erstmals dem Hebraisten Immanuel Tremellius begegnet ist. Dieser stammte aus Ferrara, war 1540 vom Judentum zum Christentum konvertiert und unterrichtete seit 1542 in Straßburg an der Hohen Schule Hebräisch. Calvin unterstützte Tremellius 1547 darin, eine Stellung in Bern zu erhalten, was aber daran scheiterte, dass man in Bern schlecht auf Juden und Italiener zu sprechen war.
Auch ein zweiter Versuch Calvins, Tremellius an der Lausanner Akademie unterzubringen, scheiterte daran, dass der Berner Rat Anstoß nahm an der jüdischen Abstammung des Tremellius. Tremellius stand mit Calvin in brieflichem Kontakt, er übersetzte den Genfer Katechismus 1551 ins Hebräische und besuchte Calvin 1554 in Genf. 1558 versuchte Calvin sogar, Tremellius für die neu gegründete Genfer Akademie zu gewinnen (CR 40 CO XII, Nr. 969). Tremellius und Calvin hatten also intensiven Kontakt zueinander und werden auch über das Verhältnis zum Judentum gesprochen haben. Ob dies aber bereits in Straßburg geschah, ist nicht zu sagen. Spätestens jedoch 1551, anlässlich der Übersetzung des Genfer Katechismus ins Hebräische, haben sich beide darüber ausgetauscht (CR 42 CO XIV, 53).
Außerdem gab es dazu 1554 noch eine besondere Gelegenheit. Denn Tremellius hatte den Genfer Katechismus für eine zweite Ausgabe mit einer lateinischen Widmungsrede versehen und war darin auf das Verhältnis zum Judentum eingegangen. Zudem hatte er dem Katechismus eine judenmissionarische Einleitung vorangestellt. Da die Ausgabe bei Robert Estienne in Genf gedruckt wurde, dürfte dies in Absprache mit Calvin geschehen sein, zumal Tremellius Calvin wenig später in Genf besuchte.
Der Straßburger Aufenthalt Calvins von 1543 war aber auch noch in anderer Hinsicht von Bedeutung. Denn inzwischen waren die späten Judenschriften Luthers erschienen, und der Rat der Stadt musste sich auf Betreiben Josels von Rosheim mit der problematischen Wirkungsgeschichte dieser Schriften auseinandersetzen.
Der Rat beschloss Ende Mai, also etwa einen Monat vor Calvins Ankunft in Straßburg, den Nachdruck der Judenschriften zu verbieten, und untersagte den Predigern, gegen die Juden zu hetzen. Außerdem befasste sich der Rat zwei Wochen nach der Ankunft Calvins erneut mit einer Eingabe Josels und bestätigte das Druckverbot für die Judenschriften Luthers. Dies macht es sehr wahrscheinlich, dass Calvin, der in Straßburg über wichtige Kontakte verfügte, zumindest von der kontroversen Diskussion um die Judenschriften Luthers Kenntnis genommen hat und dort eventuell auch über deren Inhalt informiert wurde.
Er konnte Luthers späte Judenschriften in Straßburg aber nicht studieren, da erst im darauffolgenden Jahr eine lateinische Übersetzung zu Luthers Von den Jüden und iren Lügen erschien. Auch ist von Calvin keine Äußerung erhalten, die Auskunft darüber gäbe, wie er die Ansichten Luthers einschätzte. Gekannt hat er sie aber auf jeden Fall; dies geht aus einem Brief hervor, den Ambrosius Blaurer 1561 an Calvin richtete. Darin bat Blaurer den Genfer Reformator um eine Stellungnahme zur Duldung von Juden und bemerkte:
»Ich weiß, Dir ist nicht unbekannt, was Luther im Jahr 1543 in überaus scharfer Weise gegen die Juden geschrieben hat, wo er mit zahlreichen Argumenten verlangt hat, dass man sie unter den Christen keinesfalls dulden dürfe, es sei denn, sie wären einer äußerst harten Erniedrigung ausgesetzt«. (CR 46 CO XVIII, 421).
Im weiteren des Briefes skizzierte Blaurer die Auffassung Luthers, dabei fiel ihm jedoch ein, dass Luthers Judenschriften auf deutsch erschienen waren, und er fügte am Briefrand folgendes hinzu: »[Mir] ist nicht mehr in Erinnerung gewesen, dass all dies von Luther auf deutsch geschrieben wurde, und ich entsinne mich nicht, es von irgend jemandem ins Lateinische übersetzt gesehen zu haben, so dass Du es möglicherweise niemals selbst gelesen hast.« (CR 46 CO XVIII, 422).
Blaurer war sich also im Unklaren darüber, woher Calvin von den Ansichten Luthers wusste und wie genau er sie kannte. Leider ist die Antwort Calvins auf dieses Schreiben nicht mehr erhalten, so dass nicht gesagt werden kann, ob Calvin jemals eine lateinische Übersetzung der Judenschriften Luthers gelesen hat oder auf anderem Wege von Luthers Auffassungen in Kenntnis gesetzt wurde.
Gleichwohl zeigt der Brief Blaurers, dass Calvin spätestens durch Blaurer über Luthers Ansichten informiert war, sehr wahrscheinlich aber schon vorher – etwa 1543 in Straßburg – von ihnen erfahren hatte. Besonders zu bedauern ist, dass Calvins Stellungnahme zur Duldung von Juden nicht erhalten ist. Dennoch lässt sich dem Folgebrief Blaurers zumindest entnehmen, dass Calvin die Frage nach der Duldung von Juden differenziert beantwortet hat. Blaurer bedankte sich nämlich bei Calvin für dessen »Meinung zur Duldung bzw. Nichtduldung von Juden« (CR 46 CO XVIII, 537f.).
2. Calvins theologische Äußerungen über das Judentum
In Calvins Schriften ist nicht immer eindeutig zu erkennen, wen er gerade mit dem Begriff ›Juden‹ meint. Sowohl für das biblische Israel als auch für das nachbiblische und zeitgenössische Judentum konnte er die Bezeichnung Iudaei gebrauchen. Er brachte damit zum Ausdruck, dass er zwischen diesen drei Größen einen Zusammenhang sah. Zugleich aber differenzierte er deutlich zwischen einem Israel Dei und einem Israel carnis. Zum ›Israel Gottes‹ zählte Calvin das alttestamentliche Israel (sowie die Kirche aus Juden und Heiden), das ›Israel des Fleisches‹ hingegen sah er repräsentiert durch das post Christum als solches fortbestehende Judentum.
Diese terminologische Differenzierung Calvins ist jeweils zu beachten, um nicht – wie in der Forschung vielfach geschehen – Calvins Aussagen über das biblische Israel mit denen über das zeitgenössische Judentum zu verwechseln. Dazu ein Beispiel: Calvin schrieb 1539 in seiner Institutio folgendes: »Die Täufer schildern uns die Juden [=Iudaeos] nämlich als dermaßen fleischlich, dass sie mehr dem Vieh gleichen als den Menschen.
Sie erklären nämlich, der Bund, der mit den Juden geschlossen worden sei, gehe nicht über das zeitliche Leben hinaus, und die Verheißungen, die ihnen zuteil geworden wären, bezögen sich bloß auf gegenwärtige und leibliche Güter. Was würde, wenn sich diese Lehre durchsetzte, anderes übrigbleiben, als dass das jüdische Volk eine Zeitlang durch Gottes Wohltat gesättigt worden sei – ebenso wie man eine Sauherde im Koben mästet – , um dann schließlich im ewigen Verderben zugrunde zu gehen?« (OS V, 314,6-13).
Auf den ersten Blick könnte es scheinen, als ob sich Calvin hier über die abwertende Beurteilung des (zeitgenössischen) Judentums durch die Täufer äußerte. Tatsächlich aber ging es Calvin um den Bund mit dem alttestamentlichen Israel. Schon Zwingli und Bucer hatten gegenüber den Täufern die Kindertaufe durch den Hinweis auf die alttestamentliche Kinderbeschneidung zu rechtfertigen gesucht; dazu entwickelten sie die Lehre von der Einheit des Alten und Neuen Bundes. Calvin griff diese Lehre auf und formulierte 1539 den Grundsatz: »Der Bund mit allen Vätern unterscheidet sich von dem unsrigen so wenig in der Substanz und in der Sache selbst, dass er ganz und gar ein und derselbe ist; doch die [äußere] Verwaltung ändert sich.« (CR 29 CO I, 80,40f.).
Calvin ging es also keineswegs um eine Verteidigung des Judentums, sondern um eine Auseinandersetzung mit täuferischen Gruppen, die den alttestamentlichen Bund abwerteten. In diesem Zusammenhang sah sich Calvin auch gezwungen – um der Kontinuität des Bundes willen – das bleibende ›natürliche‹ Vorrecht der Juden zu konstatieren:
»Da sich der Bund, der mit Abraham geschlossen wurde, auf seinen Samen bezieht, ist Christus zum Heil des jüdischen Volkes gekommen, um das vom Vater einmal gegebene Versprechen zu erfüllen und einzulösen. Ist daran nicht zu ersehen, dass sich die Verheißung des Bundes nach dem Urteil des Paulus auch nach der Auferstehung Christi nicht nur sinnbildlich, sondern dem Wortlaut nach an dem fleischlichen Samen Abrahams erfüllen muss?« (Inst. IV, 16,15).
Nur indem Calvin auf diese Weise Gottes Treue im Bund mit dem jüdischen Volk hervorhob, konnte er theologisch an der Einheit des Bundes festhalten. Und dies war auch der vorrangige Zweck seiner Ausführungen. Eine ›Rehabilitation‹ des Judentums hatte Calvin nicht im Sinn. Die Einheit des Bundes bedeutete für ihn keineswegs, das gesamte Judentum weiterhin als erwählt zu betrachten. Vielmehr betonte er die Unterscheidung zwischen dem jüdischem Volk als Ganzem (»tota Iudaeorum natione«) und einzelnen Juden (»singulis hominibus«).
Dies ermögliche es ihm, die widersprüchlichen paulinischen Aussagen zur Verwerfung und bleibenden Erwählung der Juden miteinander zu vereinbaren: »Dass es so zu verstehen ist, ergibt sich mühelos daraus, dass Paulus zuerst den sicheren Untergang mit der Verblendung in Zusammenhang gebracht hat, nun aber Hoffnung macht auf eine Wiederauferstehung [des jüdischen Volkes] – was sich beides in keiner Weise vereinbaren ließe.
Zu Fall gekommen und ins Verderben gestürzt sind also diejenigen, die sich hartnäckig an Christus gestoßen haben. Doch das Volk selbst ist nicht zugrunde gegangen, so dass derjenige, der ein Jude ist, notwendig verloren oder von Gott entfremdet wäre.« (Parker, 247 (ad Rom 11,11)). Diese bleibende Erwählung des Gesamtvolkes sah Calvin darin begründet, dass Gottes Gnade immer einen erwählten Rest im Volk übriglasse.
Durch einige Juden, die fest an die Verheißung glaubten, bleibe die Bundesgnade im jüdischen Volk erhalten. Für diese wenigen erwählten Juden werde die Gnade des Bundes allerdings nur wirksam, sofern sie sich zu Christus bekehrten, durch den der Bund erneuert und bekräftigt worden sei. (Parker, 56f. (ad Rom 3,3); 215 (ad Rom 9,25)). Er wandte sich deshalb auch gegen Vorstellungen, dass im Heilsplan Gottes für das jüdische Volk noch eine besondere Rettung vorgesehen sei.
Die entsprechenden Aussagen des Paulus, die etwa von Capito und Bucer in diesem Sinne verstanden wurden, deutete er stattdessen als eine Verheißung für die Kirche aus Juden und Heiden: »Viele beziehen [Röm 11,26] auf das jüdische Volk, als wenn Paulus sagen würde, dass die Religion in diesem Volk noch einmal wie früher wiederhergestellt werden müsse. Ich dagegen weite den Begriff ›Israel‹ auf das gesamte Volk Gottes aus; und zwar in folgendem Sinne: Wenn die Heiden eingegangen sein werden, werden auch die Juden von ihrer Abtrünnigkeit zum Gehorsam des Glaubens zurückkehren. Und so wird das Heil des ganzen Israel Gottes, das aus beiden [Völkern] versammelt werden muss, vollendet werden. Doch so, dass die Juden als Erstgeborene der Familie Gottes den ersten Platz einnehmen.« (Parker, 256 (ad Rom 11,26).
3. Calvins Äußerungen über das zeitgenössische Judentum
Diese angeführten theologischen Überlegungen Calvins orientieren sich am Römerbrief des Paulus. Sie stammen überwiegend aus der Straßburger Zeit (1538-1541) und haben sich in den Folgejahren wenig verändert. Dies zeigt zum einen, dass Calvin durch die Diskussionen im Straßburger Wirkungsraum angeregt wurde, auch selbst eine Verhältnisbestimmung zum Judentum vorzunehmen. Zum anderen zeigt es, dass die Straßburger Jahre seine theologische Sicht des Judentums nachhaltig geprägt haben.
Hinsichtlich seiner Auffassung zur Duldung von Juden blieb Calvin jedoch zurückhaltend. Die wenigen Aussagen, in denen er sich in der Straßburger Zeit über das Verhältnis zum Judentum äußerte, sind dadurch gekennzeichnet, dass sie sich an biblischen Aussagen orientierten und vor einer Überheblichkeit der Christen warnten. Verglichen mit den gleichzeitigen Äußerungen Bucers zum Judenratschlag wird jedoch deutlich, dass Calvin von der antijüdischen Haltung Bucers weit entfernt blieb.
Dies bedeutet jedoch nicht, dass Calvin die antijüdischen Maßnahmen des Judenratschlags ablehnte oder gar wie Capito für eine Duldung der Juden eintrat. Für ihn standen aber eindeutig nicht Zwangsmaßnahmen im Vordergrund, sondern theologische Überlegungen. Dazu gehörte die Auffassung, dass Gott die Juden mit Blindheit geschlagen habe und deshalb nur bei einzelnen Juden Hoffnung auf eine Bekehrung bestehen würde. Das größte Hindernis für diese Bekehrung sah Calvin in der jüdischen Schriftauslegung, durch die das christologische Verständnis des Alten Testaments unterdrückt würde (vgl. z.B. CR 29 CO I, 817f).
Die Frage der jüdischen Schriftauslegung blieb für Calvin zeitlebens ein kritischer Punkt. Vor allem in späteren Jahren verschärfte sich der Ton in Calvins Äußerungen; dies gilt insbesondere für seine Predigten und seine alttestamentlichen Kommentare (vgl. Potter Engel 1990, Lange van Ravenswaay 2005). Die einzig erhaltene Abhandlung Calvins, in der er sich explizit mit dem Judentum auseinandergesetzt hat, trägt den Titel »Ad quaestiones et obiecta Iudaei cuiusdam« (CR 37 CO IX, 657-674).
Sie dürfte in den letzten Lebensjahren Calvins entstanden sein. Calvin beschäftigte sich darin mit jüdischen Disputationsargumenten. Seine Absicht war es, seinen christlichen Lesern für eine Disputation mit Juden die nötigen Argumente zu liefern. Dabei zeigte er insgesamt wenig Verständnis für die jüdischen Einwände. Er benutzte eine Fülle von abschätzigen Begriffen, um die Juden und ihre »stumpfsinnige Dummheit« zu benennen.
4. Resümee
Diese Hinweise mögen genügen, um Calvins Verhältnis zum Judentum zu charakterisieren. Es wurde deutlich, dass Calvin sehr wohl Kontakte zum Judentum gehabt hat und sich dadurch auch theologisch herausgefordert sah. Vor allem den Erfahrungen der Straßburger Zeit dürfte diesbezüglich eine Schlüsselrolle zukommen. In dieser Zeit übernahm Calvin nicht nur die oberdeutsch-schweizerische Bundestheologie, sondern machte sich auch nachhaltig Gedanken über die Erwählung des jüdischen Volkes.
Hinsichtlich der Frage der Duldung von Juden sind jedoch weder aus dieser noch aus späterer Zeit eindeutige Äußerungen Calvins erhalten. Einiges spricht jedoch dafür, dass er sich im Brief an Blaurer differenziert geäußert hat. Insgesamt aber gilt, dass vor allem der späte Calvin dem Judentum und seiner Schriftauslegung überaus ablehnend gegenüberstand. Dazu passt die anfangs zitierte Aussage im Danielkommentar von 1561, wo Calvin seine Begegnungen mit Juden und dem Judentum resümierte: »Oft habe ich mit vielen Juden gesprochen, niemals [aber] einen Tropfen Frömmigkeit, ein Körnchen Wahrheit oder Geisteskraft [bei ihnen] wahrgenommen. Ja, ich habe sogar nichts an gesundem Menschenverstand jemals bei irgendeinem Juden entdeckt.«
Literatur:
S. W. Baron, John Calvin and the Jews, in: Harry Austyn Wolfson Jubilee Volume on the occasion of his 75th birthday. Bd 1 English section, hrsg. v. L. W. Schwarz u.a., Jerusalem 1965, 141-163.
A. Detmers, Reformation und Judentum. Israel-Lehren und Einstellungen zum Judentum von Luther bis zum frühen Calvin, Judentum und Christentum 7, Stuttgart u.a. 2001, 7-20.
J. M. J. Lange van Ravenswaay, Die Juden in Calvins Predigten, in: A. Detmers und J. M. J. Lange van Ravenswaay (Hgg.), Reformierter Protestantismus und Judentum im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts, Wuppertal 2005, 59-69.
M. Sweetland Laver, Calvin, Jews, and intra-Christian Polemics (Diss. phil. Philadelphia 1987), Ann Arbor: University Microfilms 1988.
M. Potter Engel, Calvin and the Jews, a textual puzzle, in: PSB.SI 1 (1990), 106-123.
A. J. Visser, Calvijn en de Joden, Miniaturen 2, Bijlage van het maandblad Kerk en Israel 17
(1963), s’Gravenhage 1963.
Die Abkürzung ›Parker‹ steht für: Iohannis Calvini Commentarius in epistolam Pauli ad Romanos, hrsg. v. T. H. L. Parker, SHCT 22, Leiden 1981.
Achim Detmers