Wichtige Marksteine
Reformierte im Spiegel der Zeit
Geschichte des Reformierten Bunds
Geschichte der Gemeinden
Geschichte der Regionen
Geschichte der Kirchen
Biografien A bis Z
(1492-1549)
Ludwig XII. versuchte mehrmals, Marguerite als Braut in Europa zu verhandeln, aber weder ihre Aussichten, noch ihr Vermögen waren ausreichend, um eine internationale Ehe einzugehen. Stattdessen heiratete sie 1509, gerade siebzehn Jahre alt, den Herzog von Alençon, von dem wenig bekannt ist. Die Forschung geht meistens davon aus, dass sie und ihr Gatte wenig Gemeinsames hatten, zumal der Herzog vor Allem ein Soldat war. Dafür hatte sie aber eine geliebte Schwiegermutter, Marguerite von Lorraine, die eine zutiefst fromme Frau war. Jahre später schrieb Marguerite über ihren Tod und ließ ihre Trauer darüber durchblicken.
Als Ludwig XII. befürchten musste, nicht selbst Söhne zeugen zu können – er hatte „nur“ zwei Töchter, Claude und Renée de France – holte er Franz d´Angoulême an seinem Hof und gab ihm seine Tochter Claude zur Ehe. 1515 verstarb er und Franz bestieg als Franz I. den Thron Frankreichs.
Für Marguerite änderte sich das Leben schlagartig. Sie kam zu ihrem Bruder an den Hof, und da die Königin Claude sehr zurückhaltend und scheu war, übernahm sie bald die repräsentativen Pflichten. Zusammen mit ihrer Mutter bildete sie mit Franz ein Trio, die sogenannte „Dreieinigkeit“. Franz konnte immer mit seiner Mutter und seiner Schwester rechnen, und sie unterstützten ihn nach Kräften.
Franz I. wurde der erste Renaissancekönig Frankreichs. Er war jung, viril und plötzlich auch reich. Er ließ bauen an der Loire, eroberte das Herzogtum Mailand, versuchte sich als Deutschrömischer Kaiser wählen zu lassen – das war eine extrem teure Angelegenheit – und verwickelte sich in Rivalitäten sowohl mit Heinrich VIII. von England als auch mit Kaiser Karl V.
Schon 1516 verhandelte er ein Konkordat mit dem Pabst in Bologna. Die französische Kirche hatte seit dem Mittelalter ihre gallikanische Freiheiten gegenüber dem Pabst verteidigt, und als Frankreich sich als Nationalstaat festigen konnte und mit Franz I. fast die Grenzen erreicht hatte, die noch heute gelten, gelang es auch Franz, eine römisch-katholische Nationalkirche zu vereinbaren. Vor allem durfte er wichtige Posten in der Kirche mit seinen Kandidaten besetzen, die dann vom Pabst anerkannt wurden. Damit war die französische Kirche ihrem König treu ergeben, nicht desto weniger war sie streng katholisch, besonders die Fakultät der Theologie der Universität von Paris (oft abgekürzt Sorbonne genannt) wachte über die reine katholische Lehre. In den Jahren 1515 bis 1534 war Franz theologisch eher liberal und pfiff die eifrigen Theologen zurück, nach 1534 machte er mit ihnen gemeinsame Sache.
In Frankreich bildeten sich Kreise von Reformkatholiken und Humanisten, die der etwas verkrusteten katholischen Theologie kritisch gegenüberstanden. Sie forderten die Bibel in der Muttersprache und in den Händen von Laien. Sie kritisierten Heiligenkult und Reliquienverehrung, und versuchten eine Erweckung der Gläubigen im Sinne vom reformatorischen „sola fide, sola scriptura“ (= durch den Glauben allein und durch die Heilige Schrift allein) herbeizuführen. Der leitende Humanist war der alte Lefèvre d´Etaples (Faber Stapulensis), der nach Jahren als Herausgeber klassischer antiker Schriften endlich bereit war, die Heilige Schrift zu übersetzen. Er wurde unterstützt von Guillaume Briçonnet, Bischof von Metz. Dieser führte Reformen in seiner Diözese durch, legte die Bibelübersetzung des Lefèvre in den Kirchen aus, verjagte die Franziskaner, die sonst fast Predigtmonopol besaßen, und ließ durch seine eigene Leute „reformatorisch“ predigen. Unter ihnen waren Gérard Roussel, der später Hofkaplan bei Marguerite wurde, Guillaume Farel, der später in Genf als Reformator zusammen mit Calvin wirkte, und Simon Robert, der die frühere Nonne Marie Dentière heiratete und auch in die Schweiz zog.
Als katholischer Bischof wollte Briçonnet nicht die katholische Kirche umstürzen oder dem Pabst die Treue kündigen, er wollte dagegen die Kirche von innen erneuern. Er gehörte dem Reformkatholizismus an, der in Frankreich oft als „évangelisme“ bezeichnet wird, mit dem deutschen Wortbrauch „evangelisch“ aber wenig zu tun hat. Die Humanisten wie Erasmus von Rotterdam oder Lefèvre d´Etaples wollten zu den Quellen zurück, sie wollten die Bibel allen zugänglich machen, sie hatten von Paulus gelernt, dass Rechtfertigung durch den Glauben geschieht, aber er sah das alles nicht als Grund, die Einheit der Kirche auf Spiel zu setzen. Diese Männer prägten Marguerite.
An Bischof Briçonnet wandte sich Marguerite mit der Bitte um geistigen Beistand. Ein Briefwechsel folgte, der sich (nachweislich) über die Jahre 1521 bis 1524 erstreckte. Der Bischof schrieb lange Homilien, und Marguerite bat ihn ständig um mehr „seelische Nahrung“. Sie verwendete vermutlich seine schriftlichen „Predigten“ als Grundlage für Andachten mit ihren Hofdamen. Abschriften ließ sie in ihrem Freundes- und Verwandtenkreis verteilen .
Briçonnet legte ihr die Bibellektüre ans Herz, mit besonderer Wertschätzung der Paulinischen Briefe. Nebenbei sei bemerkt, dass sowohl Luther als auch Calvin in jungen Jahren den Römerbrief auslegten, denn wer Erneuerung für die Kirche erhoffte, kam um Paulus nicht herum. Das Besondere bei Briçonnet war allerdings sein Hang zur Innerlichkeit, die Liebe zwischen Christus und der Seele, die Aufgabe des Selbst und das Hinschmelzen in Christus. Gute Werke, der Verdienst der Heiligen, Fasten und Pilgern kamen bei ihm dagegen nicht vor.
Für Marguerite bedeutete diese religiöse Erneuerung, dass sie anfing, geistliche Gedichte zu schreiben, ihre poetische Ader wurde freigelegt. Das erste Gedicht handelt von einer nächtlichen Vision. Ihre Nichte – die Tochter ihres Bruders – starb 1524 mit acht Jahren, und Marguerite fragt die reine Seele, was sie glauben soll. Der Antwort ist klar, sie soll Christus allein lieben und glauben. Briçonnet hätte es nicht besser ausdrucken können.
In diesen Jahren wurden Luthers Schriften in Frankreich verbreitet und wir wissen mit Sicherheit, dass Marguerite seine Schriften kannte. Die theologische Fakultät der Universität von Paris leistete Widerstand gegen die lutherische Ketzerei und das bekam Bischof Briçonnet zu spüren. In seinen Briefen an Marguerite bat er sie wiederholt um Unterstützung und besonders darum, dass sie ihren Bruder und ihre Mutter für seine Reformen gewinnen möge. Marguerite hatte zwar großen Einfluss auf ihren Bruder, aber trotzdem musste Briçonnet alle seine Reformvorhaben aufgeben. Die Gruppe um ihn flüchtete nach Straßburg, während er selbst widerrufen musste. Er starb kurze Zeit später.
1524 starb Königin Claude, und Marguerite wurde mit der Aufsicht der königlichen Kinder betraut. Aus ihrem Briefwechsel wissen wir, wie sehr diese Kinder ihr ans Herz wuchsen. Ihre Ehe blieb kinderlos – ihre Trauer darüber vernimmt man in den Briefen an Briçonnet – und jetzt konnte sie ihre mütterlichen Gefühle den Kindern ihres geliebten Bruders zu Gute kommen lassen.
1525 verlor Franz I. die Schlacht bei Pavia in Norditalien. Seit vielen Jahren, schon in der Regierungszeit Karl VIII. hatte Frankreich mit den italienischen Stadtstaaten Krieg geführt. Jetzt stießen in Italien die habsburgischen und die französischen Truppen zusammen. Die Blüte des französischen Adels wurde an einem Tag vernichtet, und Franz selbst wurde gefangengenommen. Der Herzog von Alençon flüchtete vom Schlachtfeld und starb wenige Monate später, von seiner Gattin liebevoll gepflegt.
Jetzt schlug die Stunde für Marguerite. Mit ihrer Mutter hatte sie in Lyon den Ausgang des Krieges abgewartet, und nach dem Tod ihres Gatten ließ sie ihre Mutter als Regentin Frankreichs zurück, sie selbst segelte und ritt zu ihrem Bruder, der schwer krank in Madrid im Gefängnis lag. Sie pflegte ihn wieder gesund und versuchte mit dem unerbittlichen Kaiser Karl V. zu verhandeln. Sowohl sie als auch Franz dachten, dass der ritterliche Ehrencodex seine Befreiung möglich machen würde, Karl war aber auf handfeste Vorteile aus. Am Ende versprach Franz alles, um freizukommen, fuhr nach Hause, gab seine Söhne quasi als Unterpfand dem Kaiser und musste eine Riesensumme als Lösegeld aufbringen.
Als Regentin hatte die streng katholische Louise von Savoyen die französische Kirche in ihrem Kampf gegen die „Ketzer“ unterstützt, deshalb war auch keine Hilfe für Briçonnet und seine Leute zu erwarten. Nach der Rückkehr Franzens war er noch abhängiger als zuvor von der Kirche, nur sie konnte ihm mit dem Geld, das er dem Kaiser schuldete, versorgen. Anders als die deutsche Fürsten, die sich sehr wohl handfeste Vorteile von der Reformation in ihren Ländern erhoffen konnten, hatte der französische König schon eine (katholische) Nationalkirche, die ihn kräftig unterstützte, natürlich in der Annahme, dass er keine „Ketzer“ dulden würde.
Marguerite war eine noch junge Witwe, und ihr zweiter Gatte war ein junger, strahlender Held: Henri d´Albret, König von Navarra. Er hatte sich in der Schlacht von Pavia tapfer geschlagen, war gefangen genommen worden, hatte sich aber in einer „Mantel und Degen Aktion“ buchstäblich erfolgreich abgeseilt. Er war zudem ein Frauenheld und 12 Jahre jünger als Marguerite. Sein Königreich war winzig: das Königreich Navarra war ursprünglich das, was wir heute das Baskenland nennen, ein Gebiet, das sich beidseitig über den Pyrenäen erstreckte, jedoch sein Schwerpunkt auf der Südseite der Bergkette mit Pamplona als Hauptstadt hatte. Die Albrets, als südfranzösische Großgrundbesitzer, waren durch Heirat an die Krone gekommen, nur um erleben zu müssen, dass Spanien 1512 der Gebiet um Pamplona eroberte. Damit schrumpfte das Königreich auf Basse-Navarre zusammen, der französische Teil des Baskenlandes. Da er auch Vicomte von Béarn war, eine unabhängige Grafschaft mit eigener Regierung und Generalständen, hatte er dennoch sein eigene Hausmacht. Er erwartete, sozusagen als Mitgift, dass Franz ihm helfen würde, ganz Navarra zurückzuerobern. Franz dagegen erwartete, dass er die Grenze gegen Spanien verteidigen würde und machte ihn zum Oberbefehlshaber in Guienne, eine Bezeichnung für Südwestfrankreich von den Pyrenäen bis Loire, vom Atlantik bis Auvergne.
Was Marguerite erwartete, wissen wir nicht. Ihre Ehe bedeutete für sie eine Zerreißprobe zwischen dem geliebten Bruder und dem Ehemann, und es war für sie nicht einfach, beiden gegenüber loyal zu sein.
Ihre Ehe bedeutete aber auch, dass sie endlich Mutter wurde. 1528 gebar sie ihre Tochter, Jeanne d´Albret, danach einen Sohn, der kurz nach dem Geburt starb, und dann – sie wurde ja nicht jünger – hatte sie eine Reihe von Fehlgeburten und Scheinschwangerschaften.
Als Königin mit eigenem Herrschaftsgebiet konnte sie jetzt Glaubensflüchtlingen Schutz bieten. Bei ihrem Bruder trat sie immer noch für Andersdenkende ein, sie konnte aber jetzt in Bourges luthersche Studenten und Dozenten an die Universität holen, sie brachte den alten Lefèvre d´Etaples bei ihrem Hof in Nérac unter, sie machte Gérard Roussel zum Bischof von Oloron, und sie stellte als Sekretäre bekannte humanistische Skribenten ein, unter ihnen Clément Marot, Dichter und Verfasser vom ersten gereimten französischen Psalter.
Anfänglich blieben sowohl sie wie ihr Gatte am Hofe. Sie verhandelte zusammen mit ihrer Mutter und Margaretha von Habsburg, Statthalterin der Niederlande, den sogenannten Damenfrieden von Cambrai aus. Sie empfing Botschafter, verhandelte mit dem Pabst, und hatte immer noch die Aufsicht über die königlichen Kinder. Sie reformierte Klöster überall in Frankreich, ihre Lektüre der Lutherschrift „Von den Mönchsgelübden“ hatte sie nicht dazu gebracht, die Klöster abzuschaffen, sondern eher Missstände abzubauen.
1531 veröffentlichte Marguerite ihr religiös-poetisches Werk „Ein Spiegel der sündigen Seele“. Die zweite Ausgabe 1533 wurde von der Sorbonne als ketzerisch verurteilt und verboten. Wütend verlangte Franz I. die Rücknahme der Verurteilung, und die Universität fügte sich schleunigst. Als dann, 1534, die Plakataffäre mit ihrem Angriff auf die Messe und das katholische Abendmahlverständnis die Gemüter erregte, ging sie nach Südfrankreich. Dort konnte sie unter Anderen einem Flüchtling, dem jungen Calvin, weiterhelfen. Sie hatte seit jungen Jahren freundschaftliche Beziehungen zu ihrer Cousine, Renée de France, Herzogin von Ferrara, gepflegt, und jetzt schickten die zwei gleichgesinnten Verwandten einander hilfsbedürftige Glaubensflüchtlinge zu.
In den nächsten Jahren war das Verhältnis zwischen Bruder und Schwester etwas abgekühlt. Franz I. unterstützte die römisch-katholische Kirche nach Kräften, und Marguerite war vorsichtig geworden. Als der Berater des Königs ihn aber fragte, ob Gefahr bestünde, Marguerite könne zum Protestantismus übertreten, erwiderte der König: „Dafür liebt sie mich zu sehr!“, und behielt Recht damit.
Die Ruhe und Abgeschiedenheit am Hofe bedeutete für Marguerite Zeit für eine rege schriftstellerische Tätigkeit. Die religiösen Gedichte waren wohl eher eine Art meditative Übung inmitten der oberflächlichen Geschäftigkeit des Hofes. Jetzt verfasste sie Schauspiele, die am Hof aufgeführt wurden. Angeregt durch die Beschäftigung mit den Schriften des Plato, die sie durch den italienischen Humanisten Pico della Mirandola und Marsilio Ficino kennengelernt hatte, dachte sie über das Wesen der Liebe nach, und ihre schriftstellerische Tätigkeit wurde von diesen Überlegungen geprägt. Sie ließ Platos Schriften ins Französisch übertragen, so wie sie auch die Novellen von Boccaccio, „Dekameron“, übersetzen ließ. Diese Novellen beeinflussten ihre berühmteste Werk, die Novellen, aus denen das „Heptameron“ besteht, und die von ihr über einen längeren Zeitraum zusammengefügt wurden. Sie gab nur ein Buch in Druck, „Les marguerites de la Marguerite des princesses“, die Perlen der Perle (Marguerite) der Prinzessinnen, mitsamt dem Folgeband: „Suyte des marguerites“ (1547). Alle andere Schriften von ihr waren zu ihren Lebzeiten nur als Manuskript vorhanden, aber das Heptameron wurde ungefähr zehn Jahren nach ihrem Tod als Buch herausgegeben, und zählt seitdem zu den Klassikern des 16. Jahrhunderts, obwohl es oft missverstanden worden ist – dazu mehr später (vgl. Nielsen, Theologie als Erzählung).
Eine andere wichtige Angelegenheit in den letzten Jahren, ihr Verhältnis zu ihrer Tochter Jeanne, wird im Artikel über diese behandelt. In den letzten Jahren hatte sie eine Auseinandersetzung mit Calvin über die Freigeister, die sich bei ihrem Hof aufhielten. Ihre Bedeutung für die Reformation wird später untersucht. Klar ist allerdings, dass sie als Katholikin starb. Als ältere Frau zog sie sich immer öfters in Klöstern zurück und auch, wenn sie nie besonders rechtgläubig war, trat sie nie aus der Kirche aus. Sie starb 1549 auf ihrem Schloss Odos.
Marguerite d`Angoulême war eine hoch begabte, zutiefst fromme Frau. Sie ging unbeirrt ihre eigenen Wege, und auch, wenn sie diskret war, ließ sie sich nicht einschüchtern. Ihre Verdienste für die Verbreitung der Reformation sind offenkundig, und in Genf wusste Calvin sehr wohl, wie dankbar er ihr sein musste. Dabei war die geistige Freiheit ihr ohne Zweifel eine Herzensangelegenheit, während ihre Tochter und Enkelin mit Nachdruck Partei ergriffen. Zu Marguerites Zeiten waren diese geistige Freiheit und die Hoffnung, die katholische Kirche von innen zu erneuern und zu „reformieren“, ohne die Glaubensspaltung vollziehen zu müssen, noch möglich. Diese Umstände gaben ihr etwas Spielraum, den spätere Generationen nicht länger hatten.
Literatur
In Deutschland ist die Literatur zu Marguerite d´Angoulême übersichtlich. Zu erwähnen sind:
Margarete von Navarra: Das Heptameron, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1960, mit einem ausgezeichneten Nachwort von Peter Amelung. Neudruck München 1979, 1999 (dtv 12710)
Eltz-Hoffmann, Lieselotte von: Kirchenfrauen der frühen Neuzeit, Stuttgart 1995
Kraus, Claudia: Der religiöse Lyrismus Margaretes von Navarra, München 1981
Schönberger, Axel: Die Darstellung von Lust und Liebe im Heptaméron der Königin Margarete von Navarra, Frankfurt a/M 1993
Sckommodau, Hans: Die religiösen Dichtungen Margaretes von Navarra, Köln 1955
Sckommodau, Hans: Galanterie und vollkommene Liebe im „Heptaméron“, Münchener Romanistische Arbeiten, Band 46, München 1977
Sckommodau, Hans: Die spätfeudale Novelle bei Margareta von Navarra, Sitzungsbericht der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang von Goethe-Universität Frankfurt, Bd. XIV, Nr. 4, Wiesbaden 1977
Zimmermann, Margarete: Der Salon der Autorinnen: französische „dames de lettres“ vom Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert, Berlin 2005
Stedman, Gesa & Zimmermann, Margarete: Höfe – Salons – Akademien, Hildesheim 2007
Hinzu kommt eine Übersetzung:
Febvre, Lucien: Margarete von Navarra. Eine Königin der Renaissance zwischen Macht, Liebe und Religion, Frankfurt a/M 1998 (Originaltitel: Autour de l´Heptaméron: Amour sacré, amour profane, Paris 1996)
Allgemeine Kirchengeschichte:
Strasser-Bertrand, Otto Erich: Die evangelische Kirche in Frankreich, in: Die Kirche in ihrer Geschichte, Göttingen 1975
In Frankreich zählt sie zu den wichtigen Renaissancedichterinnen. Eine vollständige wissenschaftliche Ausgabe ihrer Werke von Nicole Cazauran ist in Arbeit:
Marguerite de Navarre: Oeuvres Complètes, Paris 2001. Bisher erschienen:
Heptaméron, Paris 2000 und die Bände 1,3,4,8 & 9
Die klassische Biografie ist:
Jourda, Pierre: Marguerite d´Angoulême, duchesse d´Alençon, reine de Navarre (1492-1549), Étude biographique et littéraire, Paris 1930, Genf 1978
Jourda, Pierre: Répertoire analytique et chronologique de la Correspondance de Marguerite d´Angoulême, Duchesse d´Alençon, reine de Navarre (1492-1549), Paris 1930
Christine Martineau, Michel Veissière & Henry Heller: Guillaume Briçonnet/Marguerite de Navarre: Correspondance, 2 Bd., Paris 1975-79
Herminjard, Aimé, hrsg.: Correspondance des réformateurs dans les pays de langue française, Genf 1886-79
In Heptaméron, ed. Nicole Cazauran, ist weiterführende Literatur erwähnt. Hier verweise ich nur auf drei Kolloquien aus dem Jahr 1992:
Marguerite de Navarre, 1492-1992, Actes du Colloque international de Pau (1992), Mont-de- Marsan 1995
Etudes sur l´Heptaméron de Marguerite de Navarre, Colloque de Nice, 15-16 Fèvrier 1992, Uni.de Nice, o. J.
Marguerite de Navarre, Actes du colloque international du 14 au 16 septembre 1992, Lódź 1997
Karlsson, Britt-Marie: Sagesse divine et folie humaine, Etude sur les structures antithétiques dans l´Heptaméron de Marguerite de Navarre (1492-1549), Göteborg 2001
Montaigne: Oeuvres complètes, Paris 1962
Ausgewählte Literatur in englischer Sprache:
- Patricia F. Cholakian & Rouben C. Cholakian: Marguerite de Navarre, Mother of the Renaissance, New York 2006
- Cholakian, Patricia F.: Rape and Writing in the Heptameron, Carbondale 1991
- Cottrell, Robert D.: The Grammar of Silence, A Reading of Marguerite de Navarre´s Poetry, Washington D.C. 1985
- Davis, Betty J.: The Storytellers in Marguerite de Navarre´s Heptaméron, Lexington 1978
- Davis, Natalie Zemon: Society and Culture in Early Modern France: eight Essays, Stanford 1975
- Farge, James K.: Orthodoxy and Reform in Early Reformation France, The Faculty of Theology of Paris, 1500-1543, Leiden 1985
- Ferguson, Gary: Mirroring belief: Marguerite de Navarre´s Devotional Poetry, Edinburgh 1992
- Gelernt, Jules: World of Many Loves, The Heptameron of Marguerite de Navarre, Chapel Hill 1966
- Greengrass, Mark: The French Reformation, London 1987
- Salmon, J.H.M.: Society in Crisis, France in the Sixteenth Century, London 1975
- Tetel, Marcel: Marguerite de Navarre´s “Heptaméron”: Themes, Language and Structure, Durham N.C. 1973
Auf den Spuren König Davids
Johannes Calvin als Ausleger der Psalmen
Ein Aspekt aus Johannes Calvins Wirken, der für den reformierten Protestantismus von elementarer Bedeutung ist, verdient Aufmerksamkeit: das Hören und Lesen der Bibel und ihre Auslegung in der Predigt. Von Anfang an versteht sich die Reformierte Kirche als Kirche des Wortes, insofern sie von seiner Kraft her lebt sowie ihr Reden und ihr Tun immer wieder an die ausgelegte biblische Botschaft als ihr Kriterium zurückbindet. Theologischer Unterricht heißt für Calvin Auslegung der Schrift.
1. Calvins Psalmenauslegung als authentischer Ausdruck seiner Theologie
Calvins Auslegung der Psalmen[1] erschien erstmals vor 450 Jahren, im Jahr 1557, und ist somit ein Spätwerk, dem die Reife der Auslegungskunst anzumerken ist. Seine Erklärungen sämtlicher 150 Psalmen, die den Umfang von mehr als 1300 enggedruckten Spalten haben, gehen auf seine Genfer Vorlesungen zurück. Calvin hält sich nach dem Vorbild Ulrich Zwinglis (1525) und Leo Juds (1532) möglichst eng an den hebräischen Urtext und übersetzt ihn wortgetreu – gelegentlich auch unter Verzicht auf sprachliche Eleganz oder poetische Schönheit – ins Lateinische. Er hat die so entstandene und manchmal schwer verständliche Übersetzung selbst „barbarisch“ genannt, doch er hat sie bewusst in Kauf genommen, weil es ihm um die „hebraica veritas“, also um den authentischen historischen Schriftsinn, ging.
Calvins Beschäftigung mit den Psalmen fällt in eine Zeit heftiger Auseinandersetzungen um den Weg der Genfer Kirche: Anfang der 50er Jahre findet die Kontroverse mit Hieronymus Bolsec um die Erwählung statt, außerdem der Streit mit Michael Servet über die Dreieinigkeit Gottes sowie Kämpfe in der Gemeinde um Kirchenzucht und Abendmahlsausschluss. Anfeindungen, Verleumdungen und Kämpfe, von denen die Psalmen sprechen, gewinnen für Calvin eine unerwartete Aktualität und lassen den Psalter für Calvin zu einem Trostbuch ersten Ranges werden. Immer wieder trägt Calvin direkt oder indirekt seine eigenen Kämpfe in die Auslegung ein, so etwa zu Psalm 41,10 („Auch mein Freund, dem ich vertraute, der mein Brot aß, tritt mich mit Füßen“), wo er erklärt: „Die Aufzählung seiner Leiden beschließt David mit der Klage darüber, dass er sogar von einem seiner besten Freunde Treulosigkeit erfahren musste. Vielleicht ist aber trotz der Einzahl an mehrere treulose Freunde zu denken.“ Auch setzt er das Leiden des Psalmisten in Beziehung zum Leiden Christi, um über die christliche Gemeinde zu sagen, sie habe ihre Feinde innerhalb und außerhalb der Gemeinde.
Wie hoch Calvin die Psalmen geschätzt hat, geht auch aus seiner Vorrede zur französischen Psalmenübersetzung von Louis Budé (1551) hervor. Das Buch der Psalmen sei ein Spiegel, der uns zeigt, was uns zum Gebet sowie zum Dank und Lobpreis Gottes führen soll, wenn er unser Gebet erhört. Die Beziehung von Gott und Mensch erkennt Calvin als das große Thema der Psalmen. Der Calvinforscher Herman Selderhuis nennt darum die Psalmen zu Recht das „Herz“ der calvinischen Theologie.[2] Wir begegnen Calvin als einen mit seiner ganzen Person engagierten Interpreten, der ein Gespräch mit dem Text einerseits und mit den Hörern bzw. Lesern andererseits führt.
Schon die Vorrede gibt einen Hinweis auf seine persönliche Präsenz in der Auslegung: „Die Leser müssen wohl erkennen, dass die Erfahrungen, die mich Gott … im Kampf hat erleiden lassen, mir mehr als gewöhnlich geholfen haben, nicht nur alle Lehrstücke … für den gegenwärtigen Gebrauch anwendbar zu machen, sondern auch die Absichten der Schriftsteller jedes Psalms besser zu erkennen.“ Calvin ist der festen Überzeugung, dass seine eigenen Erfahrungen die Arbeit am Text nicht behindern, sondern im Gegenteil ihn tiefer in den Sinn der Texte blicken lassen.
Er selbst erkennt sich in der Gestalt Davids wieder – also im Autor der Psalmen nach der Sicht der Alten Kirche und der Reformation. In seiner unerwarteten Berufung zum Reformator, in seiner oft angefochtenen Stellung in Genf, in seinen Kämpfen und Niederlagen bei der Arbeit an der Erneuerung der Kirche: Hier identifiziert sich Calvin mit David. Hinter diesen persönlichen Erfahrungen wird das Bild der alttestamentlichen Gemeinde sichtbar, in der Calvin das Vorbild der Kirche Jesu Christi erkennt. Deshalb spricht er von den „mannigfachen und glänzenden Reichtümern“, die „dieser Schatz [der Psalmen]“ enthält. Die Psalmen sollen letztlich „dem Aufbau der Kirche dienen“.
Seit 1549 predigt Calvin nahezu Sonntag für Sonntag über die Psalmen, bis er 1554 auch den letzten Psalm ausgelegt hat. Leider sind die Predigten im Unterschied zu den Vorlesungen zum großen Teil verloren gegangen. Ein weiteres Indiz für die einzigartige Bedeutung, die er den Psalmen beigemessen hat, liegt darin, dass er seiner Sonntagspredigt sonst durchweg neutestamentliche Perikopen zugrunde legt und nur bei den Psalmen eine Ausnahme macht. Parallel zu diesen Predigten macht er die Psalmen ab 1552 zum Thema seiner Vorlesungen an der Genfer Akademie. Calvin hat sich nahezu ein ganzes Jahrzehnt so intensiv mit den Psalmen beschäftigt, dass sie ihm in dieser Zeit zur wichtigsten biblischen Grundlage seiner Theologie wurden. Und es ist interessant zu beobachten, wie diese exegetische Arbeit auf die Endfassung des „Unterrichts in der christlichen Religion“ von 1559 eingewirkt hat: Manche Spur führt von den Psalmen zur Behandlung der Vorsehung, der Erwählung, den Abschnitten zum christlichen Leben und zum Gebet.
Calvin stellt seiner Psalmenauslegung eine bemerkenswerte Vorrede voran, die eine der wichtigsten Quellen für sein biographisches Selbstzeugnis ist. Das wiegt umso schwerer, da Calvin sonst relativ selten über sein eigenes Leben spricht. Berühmt ist die Vorrede in erster Linie wegen des Satzes von der „plötzlichen Hinwendung zur Gelehrsamkeit“ (subita conversio ad docilitatem). Man sollte darunter nicht ein ganz bestimmtes Datum der Bekehrung oder reformatorischen Wende erkennen, sondern den Ausdruck dafür, dass seine Hinwendung zur Reformation unerwartet geschah.
Dieses Unerwartete, dass der Jurist und Humanist zum Reformator wurde, sieht dieser unter dem Vorzeichen, dass Gott diesen Prozess in ihm ausgelöst hat: In der Sache unerwartet habe Gott ihn mit den Gaben ausgerüstet, die ihn zur Übernahme der Aufgabe in Genf befähigten. Von der Vorrede fällt ein Licht auf Calvins Selbstverständnis als Prediger des Evangeliums von der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes. Denn hier begegnet uns Calvin in seiner theologischen Leidenschaft, an der Seite von König David dem Reichtum der Gottesrede auf den Grund zu gehen. Auf intensives Drängen hin habe er sich zur Veröffentlichung dieses Werkes entschlossen – beflügelt durch die Annahme, dass sein Werk von erheblichem Nutzen für das Verständnis der Gebete und Lieder Israels sein werde, die er als „Kostbarkeiten“ und „Schatzhaus“ bezeichnet.
Zwei Argumentationslinien verdienen besondere Aufmerksamkeit. Erstens legt Calvin seiner Auslegung den Gedanken zu Grunde, dass die Psalmen eine Zergliederung aller Teile der Seele seien, so dass jeder in ihnen ein Spiegelbild seiner inneren Regungen zu finden vermag. Demnach führt der Heilige Geist in ihnen Schmerzen, Traurigkeit, Befürchtungen, Zweifel, Hoffnungen, Sorgen, Ängste und Verwirrungen lebendig vor Augen. Sie bieten den Menschen die Möglichkeit, sich selbst in ihrem zwischen Trost und Trostbedürftigkeit schwankenden Seelenzustand wiederzuerkennen.
Das gesamte Spektrum menschlicher Empfindungen einschließlich ihrer Gottesbeziehung begegnet in den Psalmen in der Weise, dass die Menschen es mit ihrem eigenen Leben in Beziehung setzen können. Ziel dieses Identifikationsprozesses ist die Aufrichtigkeit, in der die Menschen ihres eigenen Lebens samt ihrer Grenzen, Schwächen und Abgründe ansichtig werden. Aufklärung des Menschen über sich selbst statt naive Selbsttäuschung verspricht Calvin dem, der die Psalmen studiert. Darüber hinaus bewirkt ihre Lektüre die Zunahme an „himmlischer Weisheit“ und leitet zuverlässig zur Anrufung und zum Lob Gottes im Gebet an. Vermittlung von himmlischer Weisheit und Anleitung zum Gebet: darauf zielt die gesamte Auslegung der Psalmen.
Hinzu kommt eine zweite Argumentationslinie: Calvin entdeckt im Psalmisten David sein eigenes Leben und das der bedrängten Kirche wieder. Um David und seine gelegentlich klagende Rede zu Gott zu verstehen, macht sich Calvin über sein eigenes Leben Gedanken und nimmt identisches Erleben und ähnliches Erleiden wahr. Davids Erfahrungen gelten ihm als „Spiegel“ seines eigenen Erlebens, manchmal auch als Vorbild. Das Leben und Erleben Davids wird ihm zur Vorabbildung der eigenen Biographie. So geschehen Selbstvergewisserung und Selbstzeugnis, angestoßen und geweckt durch die Beschäftigung mit den Psalmen.
Es geht beim Verstehen der Psalmen um eine theologische Bemühung, die sich biographisch auswirkt. Von Gott redet Calvin gleichsam als dem Autor, der seine Biographie schreibt: „Wie [David] von den Schafhürden zur höchsten Würde erhoben worden ist, so hat Gott auch mich von den dunkelsten und geringsten Anfängen emporgehoben und hat mich gewürdigt, das hohe Amt eines Verkündigers und Dieners des Evangeliums zu bekleiden.“ Calvin betont in alldem die Souveränität und Subjektivität Gottes, der in Davids und in seiner eigenen Biographie von sich reden macht, indem er die Ausrichtung des Lebens bestimmt. Diesen Gedanken hat im 20. Jahrhundert Elie Wiesel einmal so umschrieben: „Gott will am Anfang und auch am entscheidenden Ende unserer Handlungen sein. Er ist Frage und Antwort zugleich.“[3]
Es ist spannend zu beobachten, wie sich in der Psalmenauslegung die Theologie biographisch konkretisiert und umgekehrt die Biographie theologisch reflektiert wird. Das Verständnis von Gott als dem Autor des eigenen Lebens erweist nach Calvins Selbstzeugnis seine besondere Kraft im Bestehen der Not. Auch in dieser Überzeugung weiß sich Calvin mit David verbunden, der weniger als machtvoller König denn als nachdenklicher Dichter gezeichnet wird. In einer Predigt über Psalm 27 sagt Calvin: „David war ganz Mensch, den gleichen Leidenschaften unterworfen, die uns dann und wann quälen und umtreiben. Doch um eine feste Führung zu haben, gibt er Acht auf das, was Gott ihn sehen lässt.“ Und am Ende der Psalmenvorrede spricht Calvin vom Trost, in David ein Vorbild zu haben, und schließt: „Die Leser werden (...) merken, dass ich, wenn ich die geheimen Gedanken Davids (...) entwickle, wie von persönlich Erlebtem rede.“ Calvin zeigt auf, wie die Gotteserkenntnis die Basis für die Deutung des eigenen Lebens bildet.
2. Das Reden von Gott in den Psalmen
2.1. Gott der König
Aus der Fülle der Gottesbezeichnungen ist die Bezeichnung „König“ besonders vielsagend, weil sie in Nachbarschaft zum reformierten Leitgedanken des „Allein Gott die Ehre“ (soli Deo gloria) steht. Auf den ersten Blick steht die Redeweise von Gott als König in Spannung zu unserer Wirklichkeit, der die Vorstellung des Königtums weithin abhanden gekommen ist. Wenn Calvin die Jahwe-Königs-Psalmen 47, 93 und 96-99 auslegt, kann man feststellen: Calvin versteht unter dem Königtum Gottes seine Weltregierung und zieht Konsequenzen für das Leben der Gläubigen. Wo von Gottes Königtum die Rede ist, geht es sogleich um die Stellung des Christen in der von Gott regierten Welt.
Die Hervorhebung Gottes als König mit Macht begründet die Zuversicht der Gemeinde, in den Bedrängnissen dieser Welt bei Gott Schutz zu finden. Würden die Christen Gottes universales Wirken in Abrede stellen, gerieten sie unweigerlich in Furcht und Zittern. Calvin wörtlich: „Darin also steht Gottes Ruhm, dass das Menschengeschlecht nach seinem Willen regiert wird.“ (Ps 93,1). Gottes Sorge um die Welt und den einzelnen Menschen vollzieht sich mit „wunderbarer Weisheit und Gerechtigkeit“ (Ps 93,1f.). Und seine ordnende Herrschaft überragt nicht nur alles Irdische, sondern auch alle himmlische Herrlichkeit und alles, was sonst göttlich genannt wird (Ps 95,3). Wie sich Gottes Herrschaft in kosmische Dimensionen hinein erstreckt, so dehnt sie sich auch auf der ganzen Erde bis in die äußersten Winkel aus (Ps 47,9).
Calvin legt den Akzent auf die ökumenische Sammlung der Gemeinde, um sie unter dem Wort und der Lehre Gottes zu einer Einheit zu formen. An anderer Stelle unterstreicht er die Lebensdienlichkeit von Gottes königlicher Herrschaft: Heil, völliges Glück und Gerechtigkeit leuchten in aller Welt, ausgehend von den Juden bis hin zu den Völkern, unter Gottes königlicher Herrschaft auf (Ps 97,1). Diese Macht Gottes schließt die Bestrafung des Unrechts und die Bewahrung der Juden als seinem auserwählten Volk vor den sie umgebenden Feinden ein – ein Satz, der angesichts der Vernichtungsdrohungen gegen Israel bis heute aktuell ist. Macht und Recht, so Calvin, sind in dieser königlichen Herrschaft miteinander verbunden mit dem Ziel, dass auch im Zusammenleben der Menschen Gerechtigkeit wachse (Ps 99,1.4).
Gottes Herrschaft bedeutet also bei Calvin Schutz und Ordnung der Welt, keineswegs aber Tyrannei (Ps 145,10; 99,4). Calvins Zentralerkenntnis der Souveränität Gottes, die in der Neuzeit gelegentlich als Triumph Gottes über den Menschen missverstanden wurde, steht nicht im Gegensatz zur menschlichen Freiheit. Schließlich geht es bei Calvin um die Souveränität des Gottes des Evangeliums und nicht um eine abstrakte Überlegenheit und Mächtigkeit. Calvins Theologie hat darum nicht einen, sondern zwei Brennpunkte: die Ehre Gottes im Sinne seiner gerechten Souveränität und das Heil des Menschen im Sinne seiner Befreiung durch Gottes Barmherzigkeit.
Beides bleibt aufeinander bezogen, wie Calvin im Genfer Katechismus (1545) erklärt: „Gott selbst hat in seiner unendlichen Güte alles so gestaltet, daß alles, was zu seiner Ehre dient, auch für uns heilvoll ist.“ (Frage 258). Mit der Souveränität Gottes ist also keine schrankenlose, absolute Herrschaft gemeint. Es geht vielmehr um seine ihm zukommende gerechte Macht, und zwar eine Macht, in der er daran gebunden ist, in allem, was er tut, Gott zu sein. Diese Macht steht nicht im Widerspruch zu dem, was er faktisch tut, und nicht im Widerspruch zu seinem guten Willen zu Gunsten des Menschen. In seiner Souveränität behauptet sich Gott gegen alle Egomanie des Menschen, der gefährdet ist, selbst nach göttlicher Verehrung zu streben.
Calvins Einsicht in Gottes Regieren bedeutet zugleich eine seelsorgerliche Vergewisserung der Menschen. Zwar sei es keineswegs so, dass das Erkennen und Anerkennen Gottes zwangsläufig ein geordnetes, ruhiges und friedliches Leben nach sich zieht: „Wohin ein Mensch auch blickt, er wird umringt von einem Labyrinth von Gefahren“ (Ps 30,6). Und an anderer Stelle: „Das Verlassen des Mutterschoßes ist der Eintritt in tausend Tode“ (Ps 71,5). Calvin muss einräumen, dass ein unendlicher Kontrast zwischen unserem verletzlichen kurzen Leben und Gottes ewigem Regieren besteht (Ps 102,13).
Seine Wirklichkeitserfahrung, die durch sein Leiden an der Genfer Gemeinde geprägt ist, lässt ihn von einem vollständigen Durcheinander (confusio) der Welt und der menschlichen Verhältnisse sprechen (Ps 25,13; 30,7). Wo Gott und Mensch einander begegnen, treffen Leben und Tod aufeinander, und zwar so, dass der Mensch mitten in der chaotischen Welt die Festigkeit des Reiches Gottes wahrnehmen (Ps 1,5) und innere Ruhe finden kann (Ps 37,29). Die Paradoxie lässt sich nur dadurch auflösen, dass das Fundament dieser inneren Ruhe außerhalb des Menschen in Gott liegt. Die Argumentation zielt auf das Einstimmen in den Weg, den Gott mit den Menschen beschreitet (Ps 25,13).
Es fällt auf, dass Calvin im Angesicht des wahrgenommenen irdischen Chaos – man denke nur an die Glaubensflüchtlinge und die Gemeinden unter dem Kreuz, die Calvins Leserschaft waren – die Spannung zwischen himmlischer Ordnung und irdischem Geschick nicht harmonisiert. Im Gegenteil: Das irdische Leben ist unter dem Zeichen des Kreuzes verborgen (vgl. Inst. II,16). Auch wenn der Christ unter der Herrschaft Gottes lebt, ist und bleibt er ein Fremder und Durchreisender auf Erden (Ps 37; 4,7).
2.2. Gott als der Schöpfer von Himmel, Erde und Mensch
Calvin legt in der Auslegung der Schöpfungspsalmen großen Wert darauf, dass Gott und seine Schöpfung auf Dauer zusammengehören. Mit großem Nachdruck unterstreicht er, dass Gott aktiv – also „niemals nichts tuend“ (non otiosus) – an der ganzen Wirklichkeit teilnimmt. Er wendet sich entschieden gegen den griechischen Philosophen Epikur (341-270 v. Chr.), dem zufolge die Erde zufällig aus der Verbindung von allerlei Atomen entstanden sei: „Die Welt ist nicht ewig ..., sondern die wunderbare Ordnung, die wir vor uns sehen, ist auf Gottes Befehl ... entstanden.“ (Ps. 148,7).
Er vertieft den Gedanken in die Richtung, dass die Welt durch das Wort geschaffen ist (Ps. 33,6). Schon in seinem schöpferischen Handeln ist Gott gnädig, um Land zum Leben entstehen zu lassen (Ps. 136,4). Gemäß dem Grundprinzip seiner Theologie bezweckt die Schöpfung ein Doppeltes: Gottes Ehre und das Heil des Menschen. Alles hat Gott geschaffen, damit die Menschen seinen Namen preisen (Ps. 113,1) und sich im Loben Gottes üben (Ps. 11,10): „Wir wissen, dass wir auf diese Erde niedergesetzt sind, um mit einem Herzen und aus einem Munde Gott zu loben, und dass dies das Ziel unseres Lebens ist.“ (Ps. 6,6).
Wie der Mensch um Gottes willen geschaffen ist, so kann Calvin nun auch umgekehrt erklären, dass die Welt um des Menschen willen gemacht ist (Ps. 147,7): „Gott hat die Menschen geschaffen und in diese Welt gesetzt, damit er für sie ein Vater sein kann.“ (Ps. 89,47). Das ist der Grund von Gottes Sorge für die Welt: dass wir seine väterliche Fürsorge bemerken und seine Wohltaten genießen (Ps. 115,16). Das ideale Leben kann sich Calvin nicht anders als ein Leben mit Gott vorstellen, und ein solches Leben trägt die Züge von Heiterkeit und Zufriedenheit (Ps. 16,9).
Dass Calvins Psalmauslegung eine entscheidende Station auf dem Weg zur Endfassung der Institutio war, zeigt sich auch an der Bezeichnung der Schöpfung als „Schauspiel der Ehre Gottes“ (theatrum gloriae Dei): Er nennt die Welt „das Schauspiel von Gottes Güte, Weisheit, Gerechtigkeit und Kraft“ (Ps. 125,13; vgl. Ps. 19,7). Und in der „Institutio“ erklärt er, Gott habe die gesamte Welt „zu dem Ziel erschaffen, dass sie Schauspiel seiner Herrlichkeit sein sollte“ (Institutio III,9,4). An anderer Stelle spricht er vom Weltall als dem Spiegel von Gottes Pracht (Ps. 19,1). Aber auch in seinen Geschöpfen offenbart Gott, wer er ist: „Ist nicht der Walfisch, der mit seinen Bewegungen nicht nur das ganze Meer, sondern auch das Herz eines Menschen in Aufruhr versetzt, ein schlagender Beweis der beeindruckenden Macht Gottes?“ (Ps. 104,25). Um Gott aber vollkommen zu verstehen, ist noch eine andere Stimme als die der Natur nötig: sein Wort, ohne das der Mensch für Gottes Wesen blind bleibt.
Aufs Engste gehören Schöpfung und Freiheit zusammen: Die Beziehung, die Gott in der Schöpfung zum Menschen eingeht, ist geprägt von seiner Freiheit. Gott erschafft die Welt nicht, weil er sie braucht, sondern weil er sie will. Wie schon in sich selbst, so bleibt Gott auch in der Zuwendung zu seinen Geschöpfen frei. Anders als bei Martin Luther, der von der vollkommenen Selbstbindung Gottes an das Geschöpfliche spricht (finitum capax infiniti), finden wir bei Calvin die Freiheit Gottes betont: Zu seiner Gottheit gehört es, sich den Bedingungen der Endlichkeit zu entziehen.
Der Mensch hingegen soll seine irdische Verfasstheit annehmen und akzeptieren: „Warum den Flug in die Luft nehmen und den festen Boden verlassen, der doch der Schauplatz der Güte Gottes ist? ... Es muss der Fuß fest auf der Erde stehen, ist sie doch die Stätte, auf der wir nach Gottes Anordnung eine Zeitlang weilen.“[4] Was auf Erden geschaffen ist, steht aber unter dem Vorzeichen des Unendlichen, von dem her alles Leben sein Recht bekommt. Dieses kritische Potential sorgte dafür, dass auf Seiten der Reformierten eine Abneigung dagegen entstand, natürliche Vorgänge in der Welt als Schöpfungsordnungen hochzustilisieren. Calvins Schöpfungsvorstellung hat damit eminente politisch-ethische Konsequenzen, da hier die Überzeugung wurzelt, dass sich das Vorletzte vor dem Letzten verantworten muss.
Es ist interessant zu sehen, an welcher Stelle Calvin Jesus Christus in die Auslegung der Schöpfungspsalmen einführt. Angesichts der Tatsache, dass der Mensch die gute Ordnung Gottes verwirrt hat, bedarf es ihrer Wiederherstellung. Diese geschieht bei der Wiederkunft Christi, der endzeitlich dafür sorgen wird, dass alles wieder vollkommen in Ordnung kommt (Ps. 72,2). Die Kirche als Leib Christi ist der Ort, an dem sich schon jetzt Spuren der wiederhergestellten Schöpfung abzeichnen – dies gesagt als Trost für die, die das Leben um sie herum als chaotisch erleben (Ps. 102,26). Nicht zuletzt darum liegt Calvin soviel daran, dass die Kirche ihre Ordnung hat und gleichsam in guter Ordnung ist. Oder mit der 3. Barmer These gesagt: Die Kirche bezeugt mit ihrer Botschaft und mit ihrer Ordnung, dass sie Kirche der begnadigten Sünder ist und von Christi Trost her lebt.
2.3. Gott als der gerechte Richter
In den Psalmen wird auch über Recht und Gerechtigkeit, Zorn und Strafe geredet. Immer wieder rufen die Psalmisten Gott auf, als Richter aufzutreten und Unrecht zu bestrafen. Wie geht Calvin mit diesen dunklen Seiten Gottes um? Calvin blendet diese Texte nicht aus, sondern zeichnet Gott so als Richter, dass er wohl Respekt einflößt, aber keine Angst einjagt.
Er versteht die Gerechtigkeit Gottes primär als Treue und Barmherzigkeit, mit der er die Gläubigen beschützt (Ps. 5,9; 7,18): Gottes Gerechtigkeit „ist sein fortwährender Schutz, mit dem er über die Seinen wacht, und die Güte, mit der er sie hegt“ (Ps. 40,11). Wie Luther geht es Calvin um die Gerechtigkeit, die Gott schenkt und – hier liegt der besondere Akzent Calvins – mit der er seine Bundestreue beweist. Die Gerechtigkeit Gottes vergilt nicht jedem nach dem, was ihm zukommt, „sondern ist ein Beweis seiner Güte, Gnade und Treue“ (Ps. 98,1). Allerdings fordert Gott von Seiten des Menschen eine entsprechende Gerechtigkeit und mahnt insbesondere die soziale Gerechtigkeit gegenüber Witwen, Waisen und Flüchtlingen an (Ps. 94,5). Gerade die Kinder, die besonders verletzlich und schutzbedürftig sind, bedürfen der Fürsorge gegen alles Böse, da Unrecht gegen Wehrlose Gottes Zorn weckt (Ps. 94,5).
Gottes Gerechtigkeit und der Anspruch an die Menschen, füreinander einzutreten, hat allerdings eine Kehrseite: seine strafende Gerechtigkeit gegenüber den Feinden Israel und der christlichen Gemeinde (Ps. 5,5). Dieses Urteil Gottes über die Feinde ist der Ausdruck seiner Liebe zu den Gläubigen (Ps. 74,3): „Kein Wunder also, wenn die Gottlosen aus ihrem erträumten Glück plötzlich herausgerissen werden!“ Denn: „Jedes Mal, wenn sie über ihr Leben Rechenschaft geben müssen, erkennen sie, wie vom Schlaf erwacht, dass es nur ein Traum gewesen ist, als sie sich – kaum recht bei Besinnung – für glücklich hielten.“ (Ps. 1,5).
Sollte es den Menschen allerdings gelingen, Gott vom Thron zu holen und ihm das Amt des Richters zu nehmen, dann hätten Gottlosigkeit und Unmenschlichkeit ihren Höhepunkt erreicht. Die Botschaft Calvins ist deutlich: Eine Gottesrede, in der Gott kein über alles regierender König und kein strafender Richter wäre, wäre keine Gottesrede und würde auch die Unmenschlichkeit befördern. Calvin will Gott keineswegs auf die Gestalt des Richters festlegen. Aber er will beim Sünder das Verlangen wecken, bei Gott Zuflucht zu suchen (Ps. 19,12) und ihn um Vergebung zu bitten (Ps. 25,18).
Gottes Strafe ist eine väterliche, und wenn er straft, lässt er darin immer seine Gnade und Liebe fühlen: „Er mäßigt die Strafe nicht nur, sondern indem er die Strafe mit Trost würzt, macht er sie selbst angenehm.“ (Ps. 39,11). Strafe gegenüber den Gläubigen ist Strafe auf Zeit und mit dem Ziel der Freude (Ps. 85,6). Im Hintergrund steht der calvinische Gedanke der göttlichen Pädagogik, durch die Gott die Menschen dazu anhält, ihr Leben zu bessern.
Schließlich wagt sich Calvin auch in die Region von Gottes Zorn vor. Die Rede von Gottes Zorn ist aber ein uneigentliches Reden, weil sein Zorn immer mit Gnade vermischt ist (Ps. 6,2). Selbst wenn er zürnt, hört er nicht auf, Vater zu sein (Ps. 74,9). Von Gott wird etwas ausgesagt, was faktisch nicht auf ihn zutrifft: Denn Zorn drückt emotionale Erregung aus – eine Eigenschaft, die eigentlich nicht zu Gott passt (Ps. 74,1). In seinem Zorn setzt sich Gott gleichsam eine Maske auf, damit wir seinen Widerwillen gegen die Sünde merken (Ps. 106,23).
2.4. Gott als der liebende Vater
Öfter als über Gottes Zorn spricht Calvin von Gott als liebendem Vater. Seine Gottesaussagen münden immer wieder in die Erklärung, dass die Vaterschaft Gottes das endgültige Ziel seines Handelns ist und sich das Leben im Glauben als eine Vater-Kind-Beziehung darstellt. Die Gewissheit des Glaubens wächst, wo Gott wie ein Vater für seine Kinder sorgt. Weniger die subjektive Frage, ob jemand ein Kind Gottes ist, interessiert ihn, sondern die grundsätzliche Frage, ob Gott angesichts des Schreckens und Elends in der Welt für den einzelnen Menschen Sorge trägt.
Glaubensgewissheit bedeutet, „geduldig auf Gnade zu warten, wenn sie auch verborgen ist, und sich an sein Wort zu hängen, wenn es auch so lange dauert, bevor etwas von diesem Wort zu bemerken ist“ (Ps. 52,11). Und an anderer Stelle heißt es: Der Glaube weiß den Himmel mit der Erde zu verbinden, so dass wir „in all den Schiffbrüchen, die uns treffen, den Anker unseres Glaubens und unserer Gebete in den Himmel auswerfen“ (Ps. 88,7).
Diese Gewissheit wandelt sich in Freude an Gott. Die Freude ist nach Calvin ein wesentlicher Bestandteil des Glaubens und geradezu gleichbedeutend mit ihm (Ps. 51,9): „Obwohl wir nicht immun gegen Schmerz sind, ist es doch nötig, dass die Freude des Glaubens darüber hinaussteigt, die uns zum Singen über die zukünftige Freude bringt.“ (Ps. 13,6). Solche Freude an Gott inmitten des Unglücks zu empfinden: das ist die Botschaft Calvins für die Asylsuchenden in Genf und für die Verfolgten in Frankreich. Wiederum wird das Bewusstsein Calvins dafür deutlich, dass die Psalmen Orte und Zeiten überwinden, um in der eigenen Gegenwart das Ihre zu sagen – theologisch und existenziell.
3. Die Psalmen und Jesus Christus
Calvin geht in seiner Psalmenauslegung von einer wichtigen Voraussetzung aus, nämlich der Einheit zwischen Altem und Neuem Testament. Die ganze Bibel bezeugt den einen Gnadenbund, so dass auch im Alten Testament und besonders in den Psalmen Gottes Gnade und Treue begegnen. Zugleich gibt es in der Bibel eine fortschreitende Bundesgeschichte, wobei der Unterschied zwischen der Zeit vor und nach dem Erscheinen Christi eher graduell ist: „Christus war zwar schon den Juden unter dem Gesetz bekannt; er tritt uns aber erst im Evangelium entgegen.“ (Institutio II,9,1).
Die Einheit des Gottesbundes wird so stark betont, dass das Erscheinen Christi lediglich die Erneuerung der Zeiten ist (Ps. 48,8). Für das Verständnis der Kirche entscheidend ist die Auskunft, dass das Erscheinen Christi keineswegs der Anfang der Kirche ist, sondern lediglich der Beginn einer neuen Epoche in der Kirche (Ps. 96,7). Calvin sieht die Kirche zutiefst im Bund Gottes mit Israel verwurzelt, und die Psalmen sind ihm ein elementares Zeugnis für diesen Sachverhalt.
Vom Grundsatz der Einheit des Gottesbundes aus kommt Calvin dann allerdings auch zur Unterscheidung des Reiches Davids und des Reiches Christi (Ps. 21,4), wobei gilt: „Das Königreich Christi beginnt bei dem Königreich Davids, denn bei David wird das Fundament für Christus gelegt.“ (Ps. 118,25). Calvin folgt der altkirchlichen Tradition, die Psalmen auf Jesus Christus zu beziehen. So finden wir immer wieder die Auskunft, dass Christus das Ziel der Verheißungen der Psalmen ist.
Calvins Bezugnahmen auf Christus sind vielfältig. Zunächst liegt ihm daran, dass auch die Gemeinde, die Christus als ihren Herrn bekennt, allen Anlass hat, auf die Worte der Psalmen zu hören: „Auch wir, deren Leben mit Christus in Gott verborgen ist, müssen unser ganzes Leben hindurch dieses alte Lied bedenken.“ (Ps. 118,17). Der Bezug der Psalmen auf Christus ist auch dadurch gegeben, dass David Christus bereits bildhaft in sich trug, da Israel unter ihm und seinen Nachfolgern bis zum Erscheinen Christi lebte.
Der irdische Thron Davids stellt sich für Calvin als Abbild der ewigen Herrschaft Christi dar. Was in den Psalmen über das Königreich David gesagt wird, „trifft eigentlich [erst] auf die Person Christi zu, und alles, was dunkel und schattenhaft in David angedeutet war, ist vollständig [erst] in Christus zu Tage getreten“ (Ps. 118,26). Calvin bedient sich der Typologie und verdichtet diese durch den Hinweis, dass Gottes Gnade im Alten Bund „das Vorspiel der Erlösung“ gewesen sei, „die man endlich von Christus erhoffen durfte“ (Ps. 118,27).
Die Grundlinien, die Calvin zieht, zeigen eine Theologie, die die besondere Stellung Israels wahrnimmt. Calvin wirbt geradezu dafür, Gottes Hinwendung zum Volk seines Bundes wahrzunehmen, und spricht von einer auf Gottes Gnade beruhenden „heiligen Verbindung“ mit Israel (Ps. 24,1). Auch die Verwendung des Begriffs „ecclesia“ für Israel ist ein deutliches Indiz für die Zusammengehörigkeit von Synagoge und Kirche. Er liest die Aussagen der Psalmen über Gottes Volk als Aussagen über die Kirche, ohne dabei den Bezug der Psalmen auf Israel aufzulösen. Jesus Christus ist nicht nur der Erlöser, sondern auch das Bindeglied zwischen Israel und der Kirche (Ps. 45,17).
Israeltheologisch bedeutsam ist schließlich Calvins Überzeugung, dass die Juden mit der Ankunft des Evangeliums keineswegs außerhalb des Gottesbundes gestellt sind, sondern umgekehrt Menschen aus den Völkern dem Bund hinzugefügt und aus Gottes Gnade in das Haus Abrahams aufgenommen wurden (Ps. 47,10; 110,2; 98,3). Die Juden sind die Quelle, aus der heraus Gott die ganze Erde befeuchtet (Ps. 97,8). Und selbst wenn die Juden Christus als Erlöser ablehnen, behält Israel seine herausragende Stellung (Ps. 47,10). Die Kirche ist folglich nicht an die Stelle Israels getreten, sondern die Gläubigen unter den Völkern werden in Gottes Bund mit Israel aufgenommen, um mit ihnen gemeinsam Gott zu loben (Ps. 150,5).
4. Verbindliches Reden von Gott
Die Einblicke in die Gottesrede, die Calvin in den Psalmen erkennt, können auch uns als Anleitung dienen, von Gott verbindlich zu reden. Calvins Ringen mit den Psalmen kann sich auch für unsere Gottesrede – insbesondere die der Predigt – als inspirierend auswirken. Denn die Schwierigkeiten, angemessen von Gott zu reden, sind offenkundig: Selbst da, wo sich die Predigt als Anwältin des biblischen Textes erweist, entsteht doch von Zeit zu Zeit die Verlegenheit, wie man dem Beziehungsreichtum Gottes auch sprachlich nachkommen kann statt monoton und steril die Vokabel Gott im Mund zu führen.
Inspiration tut Not: biblische Inspiration von der Buntheit der Gottesbezeichnungen, die nicht zuletzt in den Psalmen wahrzunehmen sind. Calvin hat sich der Vielfalt der Gottesbezeichnungen gestellt und diese nicht auf Gott als Menschenfreund begrenzt. So weiß er von der Freiheit Gottes und seiner Andersartigkeit. Er spricht vom Schöpfer des Kosmos und seiner Fürsorge für den Menschen. Er stellt sich dem richtenden und sein Recht ausübenden Gott. Er tastet sich in die Bereiche der Verborgenheit und des Zorns Gottes vor. Er weiß von ihm als dem Heiligen zu reden und sieht ihn zugleich in seiner Bundesgemeinschaft mit den Menschen. Es ist gerade die bunte Vielfalt in der Einheit Gottes, die Calvin in den Psalmen entdeckt und der er sich stellt. Er tritt dafür ein, dass das genaue Hören auf die biblischen Texte der menschlichen Gottesrede zur Sprache verhilft.
Wer unter Anleitung Calvins von Gott redet, bringt ihn zugleich als den zur Sprache, der im Bund mit den Menschen für diese heilsam gegenwärtig ist. Gott erweist sich als ein Gott in Beziehungen, so dass konsequent auch das Reden von Gott diesen nicht einfach als „höchstes Gut“ anspricht, sondern als den, der redet und handelt. Wer unter dieser Voraussetzung von Gott redet, bringt dann auch die eigene Person in ihren Regungen und Empfindungen ins Spiel und versteht sich selbst als von Gott angesprochenes Wesen. Eine solche Lesekunst, wie sie bei Calvin erkennbar ist, kann das eigene Leben in die Schrift gleichsam einzeichnen, um in der Gegenwart Israels von dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der zugleich der Vater Jesu Christi ist, zu reden.
Im Gespräch mit Calvins Psalmenauslegung wird auch uns die Aufgabe zugemutet, das Wagnis einzugehen, in den Grenzen menschlicher Worte von Gott zu reden. Nur unter der Voraussetzung, dass Gott selbst zum Menschen redet, kann eine solche Gottesrede gewagt werden. Wenn diese dem Schweigen und dem Geschwätz vorgezogen und gewagt wird, dann wird diese Gottesrede verbindlich sein. Auf diesen Weg weist uns auch die 6. Barmer These, die den Auftrag der Kirche anmahnt, „die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk“.
Die verbindliche Rede von Gott muss seiner Personalität entsprechen. Statt einer göttlichen Kraft, wie es gelegentlich heißt, eignet Gott die Anrede als Person und mit Namen, was ein gemeinsames Anliegen der jüdischen und der christlichen Gottesrede ist. Der Aufruf „Allein Gott die Ehre“ entfaltet sein ideologiekritisches Potenzial bis heute: Wer Gott allein die Ehre gibt, wird alles Geschaffene achten, nicht aber verehren, und dem Menschen als Geschöpf Gottes seine Würde zusprechen. Wo Gott die Ehre zukommt, kann auch der Mensch menschlich leben.
5. Zu Gott reden im Gebet und Psalmengesang
Die Aufgabe der christlichen Gemeinde, verkündigend und bekennend von Gott zu reden, schließt die Aufgabe in sich, zu Gott zu reden. Darauf zielt ja überhaupt alle Theologie: auf die Anrufung Gottes im Gebet. Nach Calvin ist das Gebet der Hauptort des Gesprächs von Mensch und Gott. Ohne das Gebet würde der Glaube leblos werden (Ps 119,58). „Familiär“, so wie ein Kind mit seinen Eltern spricht, ist der Umgang der Bundespartner Mensch und Gott im Gebet (vgl. Ps 10,13). Es ist ein unvorstellbares Vorrecht, dass sich der Mensch frei an Gott wenden darf (Ps 65,2; 50,14; 145,18).
Nicht zu beten hieße, Gott die Ehre zu entziehen, weil man seine Hilfe ignorierte (Ps 17,1). So wird das Reden zu Gott im Gebet gleichsam zur Sehhilfe des Glaubens. Eng verwandt mit Calvins Hochschätzung des Gebetes sind seine Initiativen für die Gestaltung des reformierten Gottesdienstes, insbesondere bei der Einführung des Psalmengesangs. Wie schon beim Gebet sollte sich auch im Psalmengesang zeigen, dass das rechte Reden von Gott eine Anleitung zur Anrufung Gottes ist. In den Artikeln zur Ordnung der Kirche von 1537 schreibt Calvin: „Weiter ist es zum Aufbau der Kirche eine überaus nützliche Sache, einige Psalmen als öffentliche Gebete zu singen, und so Bitten an Gott zu richten, oder ihn singend zu loben.“[5]
Die Psalmen sollen nach der Genfer Gottesdienstordnung von 1542 als „ehrbare Lieder, welche die Liebe und Ehrfurcht gegenüber Gott lehren“ gesungen werden. Und: „Wir werden keine besseren und geeigneteren Lieder finden als die Psalmen Davids (...) Wenn wir sie singen, so sind wir sicher, dass Gott uns die Worte in den Mund legt, als ob er selbst in uns sänge, um seine Ehre zu erhöhen.“[6] Am Ende dieses liturgisch innovativen Weges steht der französische Hugenottenpsalter bzw. Genfer Psalter von 1562 mit der Bereimung und Vertonung sämtlicher 150 Psalmen. Diese Vertonung unterstreicht Calvins Leidenschaft dafür, dass zur Rede von Gott die Rede zu Gott hinzutritt.
[1] Die Auslegung trägt den lateinischen Titel „In librum Psalmorum, Iohannis Calvini Commentarius“ und findet sich in Calvini opera (CO), Bände 31 und 32. Eine lateinisch-deutsche Auswahledition der Psalmenauslegung wird im Rahmen der Calvin-Studienausgabe derzeit erarbeitet und erscheint 2008. Als ältere Übersetzung liegt vor: Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift, Bd. 4/1 und 4/2: Die Psalmen, Neukirchen o.J. (1914).
[2] Herman J. Selderhuis, Gott in der Mitte. Calvins Theologie der Psalmen, Leipzig 2004, 19f. Auch im Folgenden verdankt der Autor dieser Monographie wichtige Einsichten in Calvins Psalmenauslegung.
[3] Elie Wiesel, Eines Menschen Gebet, in: ders., Macht Gebete aus meinen Geschichten, Freiburg i.Br. 1986, 39.
[4] Auslegung zu Gen 2,8, in: CO 23,37; vgl. J. Calvin, De aeterna praedestinatione dei: „theatrum gloriae dei, in: CO 8,294.
[5] Artikel zur Ordnung der Kirche (1537), in: Calvin-Studienausgabe, hg. v. E. Busch u.a., Bd. 1.1, Neukirchen-Vluyn 1994, 115.
[6] Genfer Gottesdienstordnung (1542), in: Calvin-Studienausgabe, hg. v. E. Busch u.a., Bd. 2, Neukirchen-Vluyn 1997, 159.
Matthias Freudenberg
Matthias Freudenberg, Johannes Calvin als Ausleger der Psalmen. PDF