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Der Glücksteich von Bethesda
Predigt zu Johannes 5, 1-9 (19. Sonntag n. Trinitatis)
1 Danach war ein Fest der Juden, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem. 2 In Jerusalem ist aber am Schaftor ein Teich, der auf hebräisch Bethesda genannt wird, mit fünf Hallen. 3 In diesen lag eine Menge von Kranken, Blinden, Lahmen, an Abzehrung Leidenden, die auf die Bewegung des Wassers warteten. 4 Ein Engel stieg nämlich zu gewissen Zeiten in den Teich hinab und bewegte das Wasser. Wer nun nach der Bewegung des Wassers zuerst hinein stieg, der wurde gesund, mit welcher Krankheit er auch behaftet war. 5 Es war aber dort ein Mensch, der 38 Jahre an seiner Krankheit gelitten hatte. 6 Als Jesus diesen daliegen sah und erfuhr, dass er schon lange Zeit so zugebracht hatte, sagt er zu ihm: Willst du gesund werden? 7 Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser bewegt wird; während ich aber komme, steigt ein andrer vor mir hinab. 8 Jesus sagt zu ihm: Steh auf, hebe dein Bett auf und geh umher! 9 Und alsbald wurde der Mensch gesund, hob sein Bett auf und ging umher.
Liebe Gemeinde,
Was wäre, wenn uns wirklich gesagt würde: „Du bist geheilt. Steh auf, hebe dein Bett auf und geh umher!“ Das Problem ist nicht, dass uns dies nicht gesagt wäre, sondern das Problem ist doch vielmehr, dass wir es nicht glauben, nicht glauben können, weil wir uns alle längst eingerichtet haben in den Wartehallen von Bethesda. Längst sind die Wartehallen um diesen Glücksteich kein Provisorium mehr. Und da sitzen wir in den Hallen von Bethesda um den wundersamen Teich, von dem wir hoffen, dass er sich auch einmal für uns rühren möge. Da sitzen wir zusammen mit all den anderen und hoffen auf unser persönliches Wunder. Wenn da jetzt jemand käme und sagte: „Du bist geheilt. Steh auf, hebe dein Bett auf und geh umher!“ – wir hielten ihn für einen ungezogenen Bademeister, der seinen Spott mit uns treibt. Niemand sitzt in Bethesda und wartet auf Worte – und seien es die Worte Gottes –, vielmehr warten wir – all unserer Aufklärung zum Trotz – auf ein Wunder, auf ein heiliges Wunder.
Gewiss, viele geben sich den Anschein als seien sie keine Patienten, sondern sie hätten hier zu tun. Sie verbreiten um sich den Eindruck als ginge es ihnen gut, so dass sie auf nichts zu warten hätten, und doch warten auch sie in all ihrer Geschäftigkeit auf das große Glück. Etwas versteckter als die anderen blicken auch sie immer wieder zu dem Tümpel, ob er sich denn wieder einmal rührt. Auch sie hoffen auf das Augenzwinkern des Schicksals, das ihnen das Geheimnis und die Bestimmung ihres Lebens zeigen möge.
Liebe Gemeinde, es ist ja nicht schwer zu merken, dass der Besuch in Bethesda, zu dem uns der Evangelist Johannes heute eingeladen hat, auch ein Besuch bei uns ist. Manches aber, was wir so bei uns nicht sehen, fällt uns vielleicht ins Auge, wenn wir uns noch einen Moment in Bethesda umschauen. Nur zum Spaß sitzt niemand hier. Sie alle haben ein Gebrechen, auch wenn man es nicht immer gleich erkennen kann. Die einen sind lahm, die anderen blind oder taub, wieder andere haben sich in ihrem Reichtum so überfüllt, dass ihnen nun der Magen drückt, und wieder andere hat ihre Eitelkeit in die Magersucht getrieben. Die einen haben einen Kaufzwang und stehen ständig an einem der Kioske in Bethesda, und andere können nicht stille halten und hasten ständig geschäftig durch die großen Hallen um den Glücksteich, weil sie vom Arbeitszwang besessen sind. Die einen haben es an den Nerven und sehen Gesichter, andere machen stets eine gute Miene zum bösen Spiel – eine besonders gefährliche Krankheit –, und wieder andere werden verzehrt von der inneren Leere. Da gibt es auch welche, die buckeln ständig herum, beugen die Knie vor jedem Prahlhans oder vergötzen irgendwelche Idole, damit sie mit ihrer eigenen Lebensunlust zurechtkommen. Manche gehen auf geliehenen Beinen, und andere sitzen da in vollkommener Verkleidung, weil sie vorgeben, jemand anderes zu sein. Und bei den letzten ist es schwer zu sagen, was sie haben; allein die Tatsache, dass sie hier sind, zeigt, dass auch mit ihnen etwas nicht in Ordnung ist, denn sonst warteten sie nicht hier auf die Gunst des Schicksals.
Das ist die Wirklichkeit von Bethesda, wo sie alle zusammen sind. Und doch ist jeder allein. Jeder hofft auf sein individuelles Wunder. Sie sitzen da miteinander herum und bleiben doch Konkurrenten in ihrer Hoffnung auf die Gunst des Schicksals. Wenn das Glück des Lebens auf dem Spiele steht, dann geht es nicht der Reihe nach, sondern jeder versucht, der erste zu sein. Selbst das Glück begünstigt die Schnellsten und Raffiniertesten, die sich am günstigsten postiert haben. Und so lange sich vom Teich aus das Schicksal nicht rührt, solange wird herumgerückt und mehr still als lautstark um die beste Startposition gerungen.
Der in den Teich herabsteigende Engel, der unberührt von der merkwürdigen Szenerie in den Hallen von Bethesda sein Bad nimmt, erscheint wie die glücksbringende Lottofee, die stets so auftritt, als könne sie etwas dafür, dass da immer wieder einzelne Menschen Glück haben. Die Glück bringende Lottofee kümmert sich nicht um das Drama, das jedes Mal ausbricht, wenn sie erscheint. Beteiligungslos nimmt sie ihr Bad in dem Bewusstsein, etwas Gutes zu tun. Sie alle haben auf sie gewartet, und sie tut, was ihres Amtes ist. Ihr ist es gleich, wer da vom Schicksal begünstigt wird. Sie hat vor allem die Aufgabe, den Glauben an das Schicksal lebendig zu halten. Denn es ist ja dieser Glaube, der sie alle in den Wartehallen von Bethesda so äußerlich ruhig zusammenhält. Auch wenn es noch so unwahrscheinlich ist, jemals vom Schicksal bedacht zu werden, vermittelt jeder Auftritt der Lottofee den suggestiven Eindruck, nun auch einmal an die Reihe zu kommen.
Bethesda ist nicht die Welt Jesu, und doch geht er dorthin, so wie er immer wieder in die Fremde gegangen ist. Jesus tritt nicht als Verbündeter der Lottofee auf, und er geht auch nicht zum Teich in der Mitte dieser Wartehallen, sondern er kommt durch den Seiteneingang und bleibt gleich bei dem ersten stehen, der da im Halbdunkel seines Leidens mehr halbherzig als wirklich überzeugt auf seine Rettung wartet. Bereits 38 Jahre liegt der in den Wartehallen von Bethesda, und im Grunde genommen hat er längst seine Hoffnung aufgegeben. „Während ich aber komme, steigt ein anderer vor mir hinab.“ Er weiß, dass er dem Schicksal nicht ausreichend entgegenkommen kann, und doch bleibt er hier, um wenigstens noch zu denen gezählt zu werden, die auf etwas hoffen. Nicht die Aussicht auf Erfolg hält ihn hier, mehr die Angst davor, sich mit sich selbst abfinden zu müssen. Wer niemanden hat, der hat nur sich selbst.
Als dieser kranke Mann endlich die Gelegenheit bekommt, sein Leid zu klagen, da liegt er bereits seinem Helfer und Stellvertreter gegenüber. Nicht die Lottofee, die sich um das Drama in den Hallen nicht kümmert, steht ihm gegenüber, sondern der Heiland, der uns von dem Wahn erlöst, in dem wir auf das Glück in unserem Schicksal setzen.
Wir wissen nicht, an welcher Krankheit dieser Mann litt, der schon genauso lange in der Wartehalle des Glück lag, wie Israel durch die Wüste wanderte. Dass Johannes uns die Krankheit nicht nennt, hat einen Grund. Er will uns erzählen, dass dieser Kranke für uns alle daliegt, die wir sehr verschiedene Krankheiten haben. Seine Krankheit ist unbestimmt, weil wir alle bestimmte Krankheiten haben. Jesus geht nicht zu dem Lahmen, der schon ganz am Rande des Teiches sitzt oder dem Blinden an der Säule dahinter, sondern er geht zu dem Kranken mit der unbestimmten Krankheit, denn er will, dass allen geholfen wird, jedem in seiner bestimmten Krankheit. Er ist nicht nur das Heil und die Rettung für die Lahmen und Blinden, sondern auch für all die anderen, die Fußkranken, die Überfüllten, die von sich selbst Berauschten, die in ihrer Einsamkeit Verlorenen und auch die von der Begünstigung des »Schicksals« wirre gemachten Menschen, die den Blick für die Realitäten verloren haben und nun meinen, der Konkurrenzkampf um den besten Platz am Ufer der vermeintlich magischen Quelle des Schicksals sei natürlich.
Da steht er vor uns, der Heiland, und macht uns gesund, und wir merken es nicht, denn immer noch warten wir auf die Lottofee. Wir hören Gottes Wort von unserer Errettung durch seine Hingabe, doch so recht wollen wir es nicht glauben. Noch immer überlassen wir den Terminkalender der Hoffnung unserer alten Welt im Wartesaal des Schicksals. Gewiss freuen sich viele von uns, dass Jesus, der Heiland, da ist, aber wir lassen uns nicht von ihm helfen, sondern fügen ihn einfach in unsere Glückspekulationen mit ein. Wir verlassen nicht die Wartehalle an dem Glückstümpel, sondern lassen Jesus freundlich neben uns stehen und starren weiter auf die Oberfläche des seichten Wassers, um dann nach seiner Hand zu schreien, wenn sich etwas rühren sollte. Jesus ist zu einem Angestellten in den überfüllten Hallen von Bethesda geworden, – wenn man so will, zum Chef der Intensivstation, der zur Stelle ist, wenn wir gar nicht mehr zurecht kommen.
Wir integrieren ihn in unser kleingläubiges Hoffnungskonzept der alten Welt mit den launischen und doch unberührbaren Auftritten des Schicksals. Wir lassen Jesus mehr oder weniger freundlich neben uns stehen, ohne recht auf ihn zu hören, der da längst gesprochen hat »Steh auf, hebe dein Bett auf und geh umher!« Wir merken unsere Heilung nicht, weil wir am Rande des Schicksals sitzen geblieben sind. Und so merken wir auch nicht, mit wem wir es hier zu tun haben. Wir merken es eben auch in unseren Kirchen nur allzu selten, dass es um den lebendigen Gott geht. Denn das kann uns nur Gott und eben kein noch so faszinierender Mensch sagen: „Du bist geheilt. Komm, geh hinaus aus diesem Spital, wo sie alle an sich selber krank sind.“ Das ist schwer zu begreifen und gar nicht zu verstehen, solange man dort im Muff der alten Welt hocken bleibt, anstatt aufzustehen, das Bett zu nehmen und umher zu gehen, wie es der Kranke mit seiner unbestimmten Krankheit auf die Worte Jesu hin getan hat. Möge uns seine Gesundheit anstecken.
Amen
Predigt am 25.06.2006 im Universitätsgottesdienst in der Apostelkirche Bochum Querenburg. Vgl. zum gleichen Text M. Weinrich, 19. Sonntag n. Trinitatis, in: Göttinger Predigtmeditationen 49, 1994/95, 388-395.
Prof. Dr. Michael Weinrich