Befreiende Relativierungen

Karl Barths Versöhnungsdenken (1/4)

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Von Dennis Schönberger

Dieser Vortrag1 nimmt Barths Versöhnungslehre und darin seine Heiligungslehre in den Blick, deren Generalnenner Gottes Gnadenbund ist. Wir betrachten also das Heilswerk Jesu Christi genauer. Der Fokus liegt erstens auf der Verknüpfung von Heiligung und Rechtfertigung und zweitens auf der Deutung der Heiligung als Christusgemeinschaft und Neuschöpfung.2 Sie fragen sich vielleicht: wieso wird uns anlässlich des Karl Barth-Jahres ausgerechnet dieses Thema präsentiert? Das Paulinische Wort von der Versöhnung aus 2Kor 5 werden Sie alle als Pfarrerinnen und Pfarrer irgendwann, irgendwo, irgendwem verkündigt haben. Ob Sie hierbei das Wort „Heiligung“ verwendet haben, ist fraglich. Wahrscheinlich haben sie es ausgespart – entweder weil es den Hörern ihres Erachtens gar nicht oder allzu bekannt war. Vielleicht sagt ihnen das Wort auch nichts.

Ich habe dieses nur scheinbar randständige, weil theologisch übersehene und exegetisch selten gewürdigte Thema ausgewählt, da ich der Ansicht bin, dass es spannende, für Theologie und Kirche, gerade auch für ihre tägliche Praxis relevante Aussagen bereithält, die verkannt oder vergessen wurden oder deren Relevanz in freikirchliche Kontexte gewandert ist und dort teils entstellt, teils aber auch erhellt wurden.3

Bevor ich darauf zu sprechen komme, noch eine wichtige Vorbemerkung zum Titel. Er nimmt einen scheinbar paradoxen Ausdruck auf. Doch damit verbindet sich die Einsicht, dass Barths Versöhnungslehre dafür eintritt, theologische Extreme und Verabsolutierungen zu vermeiden. Das gilt in dogmatischer und in ethischer Hinsicht: als Erstes geht es um Barths Versöhnungsals Zweites um seine Heiligungslehre. Als Drittes wenden wir uns dann seiner Tauflehre und ihren Rückkopplungen zur Versöhnungs- und Heiligungslehre zu. Es geht dabei quasi um die ethischen Konsequenzen des Heilswerkes Jesu Christi. Als Viertes steht ein kurzes Fazit.

1. Inwieweit ist Barths Versöhnungslehre von befreienden Relativierungen durchzogen?

Barths Spitzensatz ist: in Jesus Christus begegnet uns der versöhnende Gott und der versöhnte Mensch zugleich. Im Licht des Gnadenbundes vermag der Mensch nicht von Gott und vermag Gott nicht vom Menschen getrennt zu werden, denn in Christus offenbart sich der wahre Gott im wahren Menschen und umgekehrt. Dass es sich bei dem Bund zwischen Gott und Mensch nach Barth um einen Gnadenbund, der Werke ein- und nicht ausschließt, handelt, lässt sich im Endeffekt an folgender klassischen atl. Bibelstelle festmachen:

„Nicht hat euch der HERR angenommen und erwählt, weil ihr größer wäret als alle Völker, denn du bist das kleinste unter allen Völkern, sondern weil er euch geliebt hat und damit er seinen Eid hielte, den er euren Vätern geschworen hat. Darum hat der HERR euch herausgeführt mit mächtiger Hand und hat dich erlöst von der Knechtschaft, aus der Hand des Pharao, des Königs von Ägypten. So sollst du nun wissen, dass der HERR, dein Gott, allein Gott ist, der treue Gott, der den Bund und die Barmherzigkeit bis ins tausendste Glied hält denen, die ihn lieben und seine Gebote halten, und vergilt ins Angesicht denen, die ihn hassen, und bringt sie um und säumt nicht, zu vergelten ins Angesicht denen, die ihn hassen.“ (Deut 7,7-10)

Gott schließt einen unverbrüchlichen Bund mit Israel, weil er es liebt. Grund und Ausdruck – Kern und Stern – der Liebe Gottes zu Israel ist der Exodus, dessen Zweck darin besteht, dass Israel JHWH „ein heiliges Volk“ werde (Deut 7,6). Wie JHWH nicht ohne Israel ist und sein kann, so kann Israel nicht ohne JHWH sein und ist es nach Deut 7 (s.o.) auch nicht. Für Barth entspricht diese Beziehung der zwischen dem Vater und dem Sohn (vgl. Mk 1,11par). Gott ist nach Barth nie ohne den Menschen, oder er ist nicht Gott und das ist – genau genommen – der Kern der Menschwerdung Gottes. Damit rückt neben der Person Christi (wahrer Gott, wahrer Mensch) auch sein Werk (Priester, König, Prophet) in den Fokus des Interesses Barths.4

Barth durchdenkt intensiv, weshalb Gott in Jesus Christus über sein Schöpfersein hinaus zum Menschen in Beziehung steht und gelangt zur Einsicht, dass darüber Kreuz und Auferstehung Auskunft geben. Gottes Geschöpf muss nicht erst versöhnt werden. Denn das ist in Kreuz und Auferstehung Christi ultimativ ans Licht gekommen: der Kosmos ist versöhnt. Barth spricht von der Wirklichkeit der Versöhnung, die an Ostern Ereignis wurde. Doch was nutzt uns das? Wie kann das, was damals war, heute von Belang sein? Barth erwähnt neben der Wirklichkeit die Wahrheit der Versöhnung und macht damit deutlich, dass dieses Ereignis damals über sich selbst hinaus weist, weil ihm eine Kraft, Dynamik innewohnt, die zeit- und ortsüberschreitend wirkt. Barth denkt an niemand Geringes als an Gottes Geist, der für ihn ja noch einmal Gott selbst ist.5 Wir können es auch so sagen: Gottes Versöhnung ist ein Akt der Vermittlung, der von Gott (nicht vom Menschen) ausgeht (vgl. 1Tim 2,5). Vermittlung heißt Wechselseitigkeit, meint Einbezug des Menschen von der Seite Gottes her: Vermittlung schließt darum Teilhabe notwendig mit ein, so Barth im Anschluss an reformatorische Grundentscheidungen.6

Barths Frage lautet: Wie partizipieren Menschen an dem, was Christus im Leben und Sterben gewirkt hat? Der Geist Jesu Christi, der nicht grundlos der Heilige Geist heißt, gibt Menschen Anteil nicht nur am Versöhner, sondern auch an seinem Versöhnungs-, wir sagten Heilswerk. Der „locus classicus“ dieser Einsicht steht in 1Kor 1,30: „Durch ihn [sc. Gott] aber seid ihr in Christus Jesus, der für uns zur Weisheit wurde […] und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung.“

Christi Heilswerk zerfällt, wenn wir auf Ostern blicken, in zwei Teil miteinander verbundene Momente: die Selbsterniedrigung des Sohnes am Kreuz und seine Erhöhung durch den Vater. Darin drückt sich nach Barth die Versöhnung als Gnadenbund aus: schon im Alten Testament schließt JHWH einen Vertrag mit seinem erwählten Volk: JHWH sichert seinem Volk zu, ihm treu zu sein, den Vertragt einzuhalten und fordert vom Volk, ihm ebenso treu zu sein, also den Bund zu füllen bzw. danach zu leben (Tora). Das Besondere des Bundes JHWHs und deshalb wird er von Barth als Gnadenbund bezeichnet, ist, dass JWHW ihn selbst da nicht aufkündigt, wo das Volk ihn bricht, im Gegenteil: des Volkes Untreue zum Trotz hält JWHWH den Bund, ja, wir können sagen: er hält sein Wort, auch wenn sein Volk es nicht tut! Jahwes Bundestreue macht aus dem Wort „Gnade“ nicht irgendein oberflächliches Verzeihen, sondern eine in die Tiefe vordringende Veränderung des Menschen durch Gott in Gestalt der Hin- und Rückkehr des Volkes zu JHWH aufgrund vorausgehender Hinwendung JHWHs.7

Im Neuen Testament erblickt Barth JHWHs Hinkehr zu Israel und Israels Rückkehr zu JHWH im „Vorgang“ des Todes und der Auferstehung Jesu Christ, kurz: des Christusereignisses. Der Gott Israels geht in der Geschichte Jesu Christi, die einem Drama ähnelt, so weit, dass er für sein untreues Volk und darüber hinaus für alle Völker und also für alle Menschen stirbt, damit dieses Volk, jene anderen Völker, kurz: „das ganze Menschengeschlecht“ (Apg 17,26) seinem Willen gemäß lebe. Die Versöhnung gilt der „Welt“ (2Kor 5,19), nicht Einzelnen (Plural) und erst recht nicht dem Einzelnen (Singular). Barth schließt jede partikulare Versöhnung aus.

Christi Tod ist dabei ein Tod nicht für Gerechte, sondern für Ungerechte. Der Gnadenbund ist, soviel sollte deutlich geworden sein, eine Zumutung, denn obwohl er die Form eines Vertrags hat, ist sein Inhalt doch über alle menschliche Gerechtigkeit erhaben, ohne diese freilich aufzuheben. Der Gnadenbund thematisiert Gottes Recht (Gerechtigkeit), das im Alten und Neuen Testament nicht anders zu haben ist als im Paradox: bei der Versöhnung werden aus Feinden! Freunde (so Röm 5,10). „Gnade“ ist, Barth zufolge, ein kritisches Ereignis und darum redet er in seiner Versöhnungslehre vom heilsamen Einbruch Gottes (Advent) in die Wirklichkeit des Menschen – der in der Schöpfung anzutreffende Mensch ist noch nicht „neue Kreatur“ (2Kor 5,17), sondern noch der „empirisch vorfindliche Mensch“ (Hans Joachim Iwand).

Versöhnung heißt Ankunft des Schöpfers beim Geschöpf, oder genauer: Gottes Kommen zum Menschen, damit dieser ihm diene. Gottes Erwählung, die für Barth wiederum ausschließlich! in der Person und dem Werk Jesu Christi anschaulich wird, hat einen Zweck: dass der Mensch Gott treu werde, dass er also den – nicht irgendeinen – Gott, der sein Schöpfer, Versöhner und Erlöser ist, wie seinen Nächsten und sich selbst liebe (vgl. Lev 19,18).

Dies bedarf auf Seiten des Menschen einer radikalen Umwandlung seines Seins und Tuns, die Barth anhand des rechtfertigenden und heiligenden Handelns Gottes nachzeichnet. Laut Barth greift Gott in Jesus Christus aktiv in die Menschheitsgeschichte ein. Hieraus ergeben sich die, wie erwähnt, befreienden Relativierungen innerhalb des Heilswerkes Jesu Christi. Wir können aus Umfanggründen nur Andeutungen machen; ehe wir auf besagte Relativierungen eingehen, gehen wir der Frage nach, inwiefern die Versöhnung, zugleich der Einbruch Gottesherrschaft ins Leben, befreiend ist. Ein Blickwechsel wird nötig.

1.1 Versöhnung ist nicht Erlösung (bzw. Vollendung)

Auch wenn die Begriffe oft synonym benutzt und verstanden werden – nach Barth gibt es hier einen gewichtigen Unterschied: es gibt den eschatologischen Vorbehalt. In Christus ist Gottes Herrschaft zwar schon angebrochen, aber noch nicht voll verwirklicht. Daraus folgt, dass das Christenleben unter einer unaufhebbaren Spannung steht, die erst im Tod endet. Diese liegt in der Versöhnung selbst begründet und stellt Menschen unter Gottes gnädiges Gericht. Das darf so verstanden werden, dass man sich als Christenmensch immer wieder klar macht, dass unser christliches Leben im „Glauben“ (teilhaben), nicht im „Schauen“ (haben) lebt (2Kor 5,7).

Es kann auch so ausgedrückt werden, dass, gerade weil die Versöhnung in der Kraft des Heiligen Geistes geschieht, ihre Kraftwirkung, ihre Dynamik, ins gesamte Christenleben eingezeichnet bleibt: in Gestalt Kampfes des Geistes gegen alle menschlichen Irrungen und Wirrungen. Was soll daran befreiend sein? Erstens wird hier die Vorstellung relativiert, die Versöhnung sei der Abschluss der Wege Gottes mit dem Menschen. Zweitens wird der Gedanke, um mehr als um einen Ideengebilde kann es Gott sei Dank nicht gegen, aufgegeben, Christenmenschen würden im Glauben Jesus Christus, oder vielleicht geläufiger: „den Herrn Jesus“ besitzen. Umgekehrt wird für Barth ein Schuh daraus: die Christen gehören Christus (so Röm 14,8).

Das Verhältnis HERR und Knecht ist für Barth unumkehrbar. Das Wort „Knecht“ klingt so, als sei der Christ ein Sklave der Gottheit. Dem ist nicht so: des Menschen Heiligung durch Gott ist die größte Auszeichnung, die einem Menschen wiederfahren kann: die Würde des Menschen liegt somit für Barth in der Versöhnung selbst begründet. Die erste befreiende Relativierung besteht also darin, wahrzunehmen, dass das christliche Leben ein Leben „Zwischen den Zeiten“8 ist und das bedeutet: Christen leben in der Spannung zwischen Himmelfahrt und Wiederkunft Christi. So verwundert es nicht, dass man ein Christ nicht sein, sondern nur werden kann.

1.2 Versöhnung gilt Entfremdeten

Der soziologische Begriff „Entfremdung“ stammt ursprünglich von Karl Marx9 und ist in den verschiedenen Spielarten des Marxismus erhalten geblieben, ebenso bei einigen Vertretern der „Frankfurter Schule“10 (Theodor W. Adorno, Max Horkheimer u.a.). Bezog sich der Entfremdungsbegriff bei Marx auf „entfremdete Arbeit“11, betonte etwa Adorno dessen soziologische, auch philosophische Dimension und konzipierte zusammen mit Horkheimer in dem Klassiker „Dialektik der Aufklärung“ eine Theorie, in der die in der Zivilisation erlangte Macht über die Natur nur zum Preis der Entfremdung von dieser zu haben war12.

Schon der Soziologe Emile Durkheim behandelte im Übergang vom 19. zum 20. Jhd. Phänomene der Entfremdung von gesellschaftlichen und religiösen Traditionen, etwa von der Natur durch „Urbanisierung“ oder von der Familie durch „Individualisierung“.13 Was Marx, Durkheim und Adorno/Horkheimer gemeinsam ist, ist die Beobachtung, dass es im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu derart tiefgreifenden Wandlungen an individuellen und gesellschaftlichen Zuständen gekommen ist, die zur Aufhebung, Verkehrung oder gar Zerstörung natürlicher Beziehungen geführt haben. Der Begriff „Entfremdung“ ist insofern auf Barths Versöhnungslehre anwendbar, als dass auch Barth Beziehungsstörungen zwischen Gott und Mensch, Mensch und Mitmensch thematisiert; ohne Rückgriff auf das Natürlichkeitsargument, dafür vor dem Hintergrund des Gnadenbundes.

Christus ist für Verlorene gekommen (vgl. Lk 19,10). Das klingt reichlich pessimistisch, ja, es riecht förmlich nach einem düsteren Menschenbild. Ist dem so? Die Versöhnung der Welt mit Gott in Jesus Christus ist kein „Geschäft“ (Schleiermacher). Dann würde sie zur Lappalie. Ihr wohnt der „Zauber eines Neuanfangs“ (Sarek) inne. Neuanfang, oder wie wir es sagten: Neuschöpfung überbietet Schöpfung, überbietet das „im Anfang“ von Gen 1,1, indem es auf jenes andere „im Anfang“ aus Joh 1,1 verweist, auf Gottes Wort, für Barth: auf Jesus Christus; aber damit nicht genug. Versöhnung, Neuschöpfung ist in erster Linie und grundlegend Vergebung – Gerechte brauchen sie nicht. Für wen ist Jesus Christus dann gestorben, warum hat Gott ihn auferweckt von Toten? Nach Barth offensichtlich darum, weil auch alle noch so Gerechten in den Augen des gekreuzigten Auferweckten Verlorene sind. Was heißt das?

Versöhnung gilt dem von Gott, sich selbst und seinem Mitmenschen entfremdeten Menschen. Das für heutige Ohren gewöhnungsbedürftige Substantiv Sünde sagt inhaltlich nichts anderes aus als das: ein derart Entfremdeter soll nicht länger „in der Ferne“ bleiben (Lk 15,13), er darf heimkommen (vgl. 2Kor 5,1). Wäre Gottes Versöhnungshandeln in Christus tatsächlich etwas Geschäftliches, dann wäre sie etwas Unpersönliches und Informelles. Sie wäre, so Barth, aber auf keinen Fall identisch mit der Lebenshingabe Jesu für seine Freunde (vgl. Joh 15,13), kurz: mit seinem Selbstopfer für die ihm eben nicht Treuen, sondern Untreuen vgl. Röm 3,23). Laut Barth geschieht Versöhnung also zuerst um des Menschen, sondern um Gottes Treue willen – dieser Gedanke ist insofern notwendig, als dass Sünde zuerst Gott zu schaffen macht, ehe sie uns in die Entfremdung führt. Das lateinische alienatio beschreibt genau das: das Weggeben einer Sache in Fremden Besitz, nur dass das Weggeben im Gnadenbund „Selbstauslieferung“ des Menschen an menschfeindliche Mächte ist, die zuerst Gott und dann ihn selbst bedrohen – für Barth ist damit letztlich nichts anderes gemeint als ein die Entzweiung zwischen Schöpfer und Geschöpf.

„Sünde“ stammt wortgeschichtlich von „absondern“. Gottes Geschöpf hat sich nolens volens, von Freiheit kann nach Barth keine Rede sein, von seinem Schöpfer abgetrennt. Der Schöpfer kann diese Abtrennung nicht akzeptieren, nicht nur weil das Geschöpf irreparabel beschädigt, sondern weil Gottes Souveränität untergraben wird. In der Versöhnung beginnt für Barth Gott ein neues Werk über seine Schöpfung hinaus. Sie ist nicht Überbietung der Schöpfung, sie ist deren Zweck und Endziel. Der Gott des Bundes will Gemeinschaft mit Bundesgenossen. Aber die Schöpfung ist was sie ist: zutiefst zwiespältig. Das Geschöpf ist „sehr gut“ (Gen 1,31), gar zum „Ebenbild Gottes“ geschaffen, dennoch ist es seinem Schöpfer nicht treu, sondern untreu – sein Ebenbild ständig verratend.

Das liegt darin begründet, dass Sünde eben Entfremdung in vierfacher Hinsicht ist: aus der Entfremdung des Menschen von Gott folgt im wahrsten Sinne des Wortes zwangsläufig Selbstentfremdung sowie Entfremdung von den Mitgeschöpfen und der Schöpfung überhaupt. Die drei letzten Phänomene können, wie gezeigt, ebenso gut philosophisch oder soziologisch analysiert werden. Laut Barth kommt aber alles darauf an, deutlich zu machen, dass diese Formen der Entfremdung abgeleitete sind: sie sind Folgen unserer Entfremdung von Gott. Sie haben ihr Recht und ihre Berechtigung nicht in sich selbst, darum die Ablehnung des Natürlichkeitsarguments (s.o.). Dass aber auch die erwähnten Philosophen und Soziolagen eine Ahnung von der Tiefe! der individuellen wie gesellschaftlichen Entfremdung des Menschen haben, kann an neueren Debatten zum Klimawandel studiert werden.

Es ist nicht verwunderlich, dass der von Haus aus religiöse Begriff „Sünde“ sich gegenwärtig mehr in ökologischen (oder gesundheitlichen) Kontexten wiederfinden lässt als in religiösen – das Kompositum „Klimasünder“ spricht Bände. Die Initiatoren und Gefährten der Fridays for Future haben, das ist wohl kaum zu bestreiten, ein neues und wie wir finden: auch relevantes, weil zu lange verkanntes Bewusstsein dafür entwickelt, dass der modern-westliche Mensch in Entfremdung zu der ihn umgebenden Welt und Umwelt steht und gerade damit tiefgreifende Folgeprobleme für den gesamten Planeten entstanden sind, die in ihrem ganzen Ausmaße jetzt durchschlagen, worunter die Erderwärmung sicherlich die größte Baustelle ist. Ohne sich hier in ideologische Grabenkämpfe zu verbeißen, kann doch gesagt werden, dass diese Bewegung auf ihre Weise die Theorien Durkheims u.a. aufgegriffen haben. Was daraus werden wird, das sei hier dahingestellt.

Versöhnungstheologisch ist dieser Tatbestand darum so interessant, weil er beweist, dass jene Zwiespältigkeit der Schöpfung notwendig über sich hinausweist. Aus der Schöpfung selbst ist die Einsicht in ein „Recht“ des nachhaltigen Kampfes gegen die Klimaerwärmung nach Barth nicht zu gewinnen. Darum sind für ihn Schöpfung und Bund auch untrennbar verbunden. Was der Mensch vom Schöpfer weiß, muss er über den (scheinbaren) Umweg des Versöhners, wir können auch sagen: des Mittlers (vgl. 1Tim 2,5) lernen, der auch Schöpfungsmittler (vgl. Kol 1,15ff. u.ö.) genannt wird. Er allein ist es, der die Klammer um Schöpfung und Neuschöpfung bildet. Im Bereich der Schöpfung könnte Gott vom Menschen zwar erkannt werden, aber dazu bedürfte es einer geistesgegenwärtigen bzw. läuternden Erkenntnis in Gottes Schöpfung, wie schon der Völkerapostel argumentiert (vgl. dazu Röm 1,18-32). Kommen wir aber nun wieder auf die Versöhnung im Gegenüber zur Entfremdung zu sprechen und damit auf das Neue, das die Versöhnung verspricht und hält.

Versöhnung gilt Entfremdeten, sagten wir. Sie gilt den Untreuen, nicht den Treuen und das ist schon daran zu erkennen, dass Gott in der Heiligung nicht bei jenem entfremdeten Geschöpf, sondern bei Jesus Christus, der „neuen Kreatur“ (2Kor 5,17) anfängt. Versöhnung ist folglich nicht Wiederholung, sondern Erneuerung des Bundes. Entscheidend ist dafür die Vergebung, das heißt: die ultimative Überwindung der Gottes- und Selbstentfremdung des Menschen, die Gott selbst wirkt. Versöhnung ist für Barth exklusives Gotteshandeln. Im Gegensatz zu Jesus Christus, bei dem Person und Werk bzw. Wort und Tat vollständig übereinstimmen, muss der Mensch der Sünde, also die Person, von ihren bösen Werken getrennt werden, um versöhnt zu werden und als versöhnte Person leben zu können.

Damit fällt laut Barth auch eine gewichtige anthropologische Entscheidung: der Mensch, der denkt, bei sich selbst zu sein, ist nicht(!) der wirkliche Mensch, sondern der eingebildete, der da, wo er in sich selbst zu ruhen meint, nicht bei sich bzw. nur noch bei und für sich ist und also nicht bei Gott, sondern fern von Gott ist – Entfremdung meint, kurz gesagt, Ferne. Der Mensch muss erst „außer sich sein“, um bei sich sein zu können, dann aber ist er nicht länger bei sich, sondern bei dem, der der wirkliche, der wahre Mensch ist. Des Menschen Versöhnung mit Gott geschieht in Christus, nicht in uns, sie geschieht außer uns (extra nos) und daraus folgt, dass theologisch nicht a priori feststellbar ist, wer, der Mensch ist, denn der Mensch ist und bleibt (den Betern) eine Frage (s. Ps 8,5). Diese Undefinierbarkeit des Menschen ist Barth zufolge eine befreiende Erkenntnis, da der Mensch dadurch entlastet wird, sich selbst definieren und also festlegen zu müssen oder gar, was noch schlimmer ist: sich definieren und also festlegen zu lassen und gerade dann, wenn andere ihn definieren, geht es erfahrungsgemäß nicht ohne Werturteile ab, die schnell in „Unwerturteile“ umschlagen können und damit Menschen degradieren. Das ist nicht Ziel der Versöhnung.

Sie will Menschen wieder in den Gnadenbund einfügen, dahin also, wo sie nach Gottes Liebe, seiner Erwählungsliebe (vgl. Deut 7,7ff.) hingehören. Nach Barth überwindet daher nur Jesus Christus selbst die Kluft zwischen Gott und Mensch, weil er beide „Naturen“ – wir wissen um die hohe Erklärungsbedürftigkeit des Wortes „Natur“, sparen sie aber aus –, in sich vereint. Er tritt an den Platz des Entfremdeten, und damit in eine verworrene und ein elende Lage hinein, füllt ihn aus und bezwingt damit alles, was zerstörend zwischen Schöpfer und Geschöpf steht. Das eben meinten wir, wenn wir von der Versöhnung als Vermittlung sprachen: jemand tritt hier ins Mittel, jemand springt in die Bresche, jemand leistet Beistand, wo alles verloren ist – es kommt zu einem Platztausch, den Martin Luther „admirabile“ oder „sacrum commercium“, wunderbaren oder heiligen Tausch bzw. fröhlichen Wechsel genannt hat. Diese Beschreibung dient ihm zur Erklärung des Versöhnungsgeschehens.14

Den Theologen ist dieser Platztausch als „Stellvertretung“15 bekannt. Aus ihr folgt für Barth: kein Mensch kann sich selbst versöhnen, geschweige denn vergeben, denn kein Mensch hält es an dem Platz aus, an welchen er vor Gott gerechterweise hingehört: ans Kreuz. Und darum ist die Versöhnung Gnade: sie rechnet dem, der schuldig ist und Strafe verdient, Schuld nicht zu und lädt sie auf einen Schuldlosen: auf Jesus Christus (vgl. 2Kor 5,21). Dies führt uns zum letzten Gedanken Barths hinsichtlich der Versöhnung.

1.3 Versöhnung meint gerechtes Erbarmen

Versöhnung ereignet sich nach Barth im Modus von Gericht und Gnade. Wieder so ein steiler Gedanke! Doch für Barth wäre es zu wenig gesagt, wenn die Versöhnung „Fünfe gerade sein“ ließe. Dann wäre sie keine Versöhnung. Sie geschieht als Einbruch der Wirklichkeit Gottes in die menschliche Entfremdung und hinterlässt damit auch Spuren. Wenn Versöhnung bloß ein Wort wäre, das keinem weh tut, ungehört verhallt und alles beim Alten ließe, wäre es nichtig, überflüssig. Es würde niemand trösten, niemanden ermahnen. In der Versöhnung der Welt mit Gott in Jesus Christus raucht der liebe Gott nicht einfach Friedenspfeife, alles ist gut und man geht auseinander, als wäre nichts gewesen. Solch eine Versöhnung wäre Verhöhnung Gottes – und: Verhöhnung des Menschen. Dem setzt Barth entgegen: die Versöhnung hat immerzu die Gestalt gnädiger Gerechtigkeit, m.a.W.: die Liebe Gottes ist „eifernd“ (Ex 20,5). Sie ist nicht kühl-berechnend, sie kommt nicht und geht dann wieder, sondern sie brennt leidenschaftlich – das Alte Testament weiß oft eindringlicher von JHWHs Emotionen zu reden als das Neue (so etwa im Hoseabuch16).

Gottes Liebe erweist ihre Leidenschaft (passio) uns gegenüber nun dadurch, dass das, was wir als Entfremdete rechtmäßig, sprich: zu Recht verdienen, gnädigerweise, sprich: aus Gnaden nicht an uns geschieht, sondern Jesus Christus trifft: Gottverlassenheit, Sterben, Tod (vgl. Mk 15,34). Der fröhliche Wechsel offenbart im Nachhinein, also im Geschehen der Auferstehung, dass Jesus Christus gestorben ist, damit der Mensch lebe. Der Entfremdete erweist JHWH mit seinem Tod keinen Dienst (vgl. Ez 18,32). Der Gehorsam, den auch Jesus Christus erst lernen musste, kommt den Entfremdeten zugute (vgl. Hebr 5,7-9), darum spricht Barth von einer uns fremden, von außen zukommenden Gerechtigkeit, die ewiges Leben schafft, wo Tod herrscht. Kurzum: Versöhnung meint nicht, Gnade anstelle von Recht walten zu lassen, sondern Gnade im Recht suchen und in Christus finden. Das ist nach Barth die Zumutung des Gnadenbundes, zugleich aber die beste Botschaft, die Menschen gesagt und von diesen gehört werden kann – der Tod Jesu Christi ist ohne seine Auferstehung unvollständig, denn erst in der Auferstehung, so Barth, spricht der Vater sein großes Ja zum Gehorsam des Sohnes, sodass Auferstehung im Endeffekt als Tod des Todes gedeutet wird (vgl. 1Kor 15).17

Wir können es mit Barth auch so sagen: die Kreuzigung Jesu Christi ist Gottes Gericht, das er, quasi als negatives Vorzeichen, auf sich selbst nimmt, während die Auferweckung Christi von den Toten als positives Vorzeichen Gottes Gnade an den Entfremdeten ist. Wir sind wiederum bei der Ausgangsfrage: Wie wird der Mensch, der vom Schöpfer und sich entfremdet ist, treu gegen sich und seinen Schöpfer? Antwort: Indem er sich heiligen, heilig machen lässt, freilich im Gedenken daran, dass er sich gleichermaßen auch rechtfertigen, gerecht machen lässt, aber eben immer im Zusammenspiel von Gericht und Gnade, den zwei Seiten der Versöhnung. Im Folgenden gilt programmatisch: Rechtfertigung und Heiligung zielen gleichermaßen auf Gottes Ja zum Entfremdeten und Gottes Nein zur Entfremdung.

2. Welche befreienden Relativierungen kommen in Barths Heiligungslehre zu Geltung?

Was verbirgt sich konkret hinter den befreienden Relativierungen in Sachen Heiligung? Zwei Dinge vorweg: „Heiligung“ meint wörtlich Aussonderung von Gegenständen, Menschen und Zeiten durch Gott. Sie kommt in kultischen Kontexten besonders häufig vor. Entscheidend ist, dass bei der Aussonderung die Inklusion des Sünders die Exklusion der Sünde überwiegt. Das haben wir versucht durch jenes Ja und Nein auszudrücken. Und das ist das Erste. Das Zweite ist: „Heiligung“ bezeichnet eine Bundesverheißung. Eine „klassische Referenzstelle“ dafür ist Jer 31,31-33:

„Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund schließen, nicht wie der Bund gewesen ist, den ich mit ihren Vätern schloss, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägyptenland zu führen, mein Bund, den sie gebrochen haben, ob ich gleich ihr Herr war, spricht der HERR; sondern das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel schließen will nach dieser Zeit, spricht der HERR: Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein, und ich will ihr Gott sein.“

Der Clou ist: Gottes heiligendes Handeln wird hier mit dem neuen Bund verglichen, der darin besteht, dass JHWHs Tora in Israels „Herz“, also im Lebenszentrum des Volkes verankert ist. Gottes Freiheit will im Leben jedes Israeliten Gestalt annehmen. Das heißt nichts anderes als die gnädige Inanspruchnahme des Menschen durch Gottes Gebot. Klingt das nicht gesetzlich? Wenn der Mensch mit Gott versöhnt, ihm vergeben ist, wozu Gebote? Weshalb überhaupt von Heiligung reden, wenn doch die „Rechtfertigung“ derjenige „Artikel“ ist, „mit dem die Kirche steht oder fällt“?18

Wir antworten: sowenig die Versöhnung Selbstzweck ist, ebensowenig ist die Rechtfertigung ein Automatismus. Es versteht sich ja nicht von selbst, dass der, der das Wort der Versöhnung vernommen hat, danach lebt. Das Wort ist wirkmächtig. Es sollte aber nicht auf das Hören der Predigt beschränkt, sondern um deren Tun erweitert, Hören und Tun „ineins“ gesehen werden (Jak 2). Dasselbe gilt für Rechtfertigung und Heiligung. Sie verhalten sich zueinander wie die zwei Seiten ein und derselben Medaille: Gottes gnädige Annahme des Sünders ist von Gottes gnädiger Inanspruchnahme nicht zu trennen und umgekehrt. Die Rechtfertigung ist dabei kurz gesagt als Annahme, die Heiligung als Inanspruchnahme zu verstehen. Erstere korrespondiert mit der Vergebung der Sünden, Zweitere mit der Umkehr des Sünders. Die Rechtfertigung ist, vorsichtig gesagt, der objektive Aspekt des Heilswerks – die Heiligung der subjektive Aspekt; ihre Verhältnisbestimmung ist eine „theologische Meisterfrage“ (Köberle). Das ist auch daran zu erkennen, dass es in Fragen des angemessenen Verhältnisses beider Größen zu Irritationen zur einen oder anderen Seite hin gekommen ist, also entweder zur Vergebung oder zur Buße.

Für Barth stellen sich diese Irritationen oft dadurch ein, dass in der Versöhnung von etwaigen Heilsbedürfnissen des Menschen ausgegangen wird, auf die die Versöhnung dann die Antwort liefert bzw. diese Bedürfnisse befriedigt. Versöhnung ist aber Gnade und Gnade ist etwas dem Menschen von Haus aus Fremdes, ja Unangenehmes, so Barth eindrücklich: Menschen hassen Gottes Gnade, denn Gnade erlässt Schuld, wo wir sie einfordern, sie vergibt, wo wir hart sind, sie verändert, wo wir gleich(gültig) bleiben. Deshalb legt Barth so immens viel Wert auf eine Umkehrung der Reihenfolge: nicht der heilsbedürftige Mensch sucht Versöhnung. Der wahre Mensch, Jesus Christus, sucht den unwahren Menschen, sprich: uns, da, wo er sich tatsächlich befindet: in Hochmut, Trägheit und Lüge.19 Wir können auch sagen in der Lebenslüge, die da lautet: „Es ist kein Gott“ (Ps 14,1). Sünde hat hier die Gestalt der Dummheit.20

Barths Heiligungslehre wurde Anfang August 1955 fertiggestellt – im Ost-West-Konflikt. Die Zeitgeschichte hat Spuren im Werk hinterlassen. Allerdings: seine Versöhnungslehre hat sich wirkungsgeschichtlich kaum entfalten können.21 Es ist daran zu erinnern, dass der Dogmatiker Barth immer auch ein wachsamer Zeitgenosse war. Zudem war er beständig im Gespräch mit Theologen (und Nicht-Theologen) der Vergangenheit und Gegenwart; auch bei der Heiligung. Er hat auf die Irritationen bzgl. der Verhältnisbestimmung von Rechtfertigung und Heiligung hingewiesen und einen Ausweg angeboten, den wir uns genauer anschauen wollen.

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1 Der vorliegende erweiterte und veränderte Aufsatz geht auf einen Vortrag vor der Pfarrkonferenz des Dekanats Büdinger Land zurück, den ich am 05.06.2019 gehalten habe und der noch während seines Verlaufes zu einer gleichermaßen kritischen wie anregenden Diskussion führte, deren Kern um die Frage des Verhältnisses von Rechtfertigung und Heiligung und deren Bezug zur Taufe drehte und um die Frage nach Barths politischem Engagement im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit und damit nach der charakteristischen Verbindung von Theologie und Zeitgenossenschaft beim Baseler Dogmatiker. Es war für mich aufregend zu erleben, dass viele Pfarrerinnen und Pfarrer Barths Gedankengang in Sachen Heiligung mitgehen wollten, auch wenn seine Positionen nicht unwidersprochen blieben, was die Diskussion umso attraktiver machte, sodass ich mich für die Veröffentlichung genötigt sah, Verbindungslinien zwischen Barths systematisch ausgeführter Heiligungslehre und seiner Fragment gebliebenen Versöhnungsethik mit ihrer Tauflehre zu ziehen. Barths Zeitgenossenschaft in den 1950er Jahren, die im Juni-Vortrag noch ausgeführt wurde, habe ich ausgelassen und verweise auf folgenden Aufsatz: „Politisch-theologische Zeitgenossenschaft. Barths Rede zum ‚Volktrauertag‘ als implizit explizite Ideologiekritik“ (erscheint in Kürze auf meinem Blog).

2 Vgl. dazu im Folgenden: Dennis Schönberger, Gemeinschaft mit Christus. Eine komparative Untersuchung der Heiligungslehren Johannes Calvins, John Wesleys und Karl Barths (FRTh 2), Neukirchen-Vluyn 2014.

3 Als positives Beispiel möchte ich Karl Heinz Knöppel, Die vergessene Gnade. Und wie wir sie neu entdecken können, Gießen 2001 anführen, der den Gnadencharakter des heiligenden Handels Gottes nachhaltig betont und auf die damit lebenslange Veränderung des Menschen durch Gott aufmerksam gemacht hat. Als einen eher problematischen Vertreter des Heiligungsanliegens verweise ich auf Wolfram Kopfermann, Heiligung. Teilhabe an der neuen Schöpfung – Biblische Grundlegung und geistliche Einübung, Gießen 2008, der zwar die neuschöpferische Dimension der Heiligung nachvollziehbar herausarbeitet, jedoch immer wieder mehr Interesse an einer psychologischen Schulung der Gläubigen bekundet als an der Relationalität der Heiligung, die Gottes Handeln mit dem menschlichem Handeln eng verschränkt bzw. verzahnt. Zudem besteht bei Kopfermann eine Tendenz, sein pfingstkirchliches Anliegen allzu dominant zu gestalten, sodass der Zusammenhang von Soteriologie und Pneumatologie in einem merkwürdigen Licht erscheint, was m.E. mit einer Verkennung der Theologie Luthers zum dritten Artikel zusammenhängt (vgl. Schönberger, a.a.O., 307-309).

4 Zu diesen komplexen Überlegungen Barths, vgl. Ders. KD IV/1, Zürich 1953, 83-170 (bes. § 58.3-4: „Jesus Christus der Mittler“ und „Die drei Gestalten der Versöhnungslehre

5 Spannend und lehrreich sind hierzu Barths Ausführungen zu „Gott der heilige Geist“, § 12, in: Ders., KD I/1, Zürich 1932, 470-514.

6 Vgl. Anm. 4. S. Hans Joachim Iwand, Nachgelassene Werke, Bd. 1, hrsg. v. H. Gollwitzer u.a., München 1962, 175 hat Barths Intention einmal so auf den Punkt gebracht: „So liegt das Vermittelnde in Gott. Darin, daß hier etwas Unerwartetes, Unableitbares geschieht und geschehen ist und wir sozusagen alle von dieser Gottestat herkommen! Erst im Versöhner werden wir begreifen, was Schöpfer heißt.“

7 Vgl. Hans Walter Wolff, Das Thema „Umkehr“ in der alttestamentlichen Prophetie, in: Ders., Gesammelte Studien zum Alten Testament, München 1964, 130-150. Eine äußerst beredte Stelle lautet: „Ich, der HERR, wandle mich nicht; und ihr habt nicht aufgehört, Jakobs Söhne zu sein: Ihr seid von eurer Väter Zeit an immerdar abgewichen von meinen Geboten und habt sie nicht gehalten. Kehrt um zu mir, so will ich zu euch umkehren, spricht der HERR Zebaoth. Ihr aber sprecht: ‚Wovon sollen wir umkehren?‘“ (Mal 3,6f.)

8 So hieß eigentlich die von 1924 bis 1929 von Georg Merz in München herausgegebene Zeitschrift, in der die sog. „Dialektische Theologie“ um Karl Barth, Emil Brunner, Eduard Thurneysen und Friedrich Gogarten (teils auch Rudolf Bultmann und Paul Tillich) Vorträge veröffentlichte.

9 Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, im Zus. ausgew. u. eingel. v. Benedikt Kautsky, mit einem Geleitwort v. Carl-Erich Vollgraf, Stuttgart 72011.

10 Emil Walter Busch, Geschichte der Frankfurter Schule. Kritische Theorie und Politik, München 2010.

11 Vgl. Anm. 9.

12 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (Limitierte Sonderausgabe, Frankfurt am Main 2003.

13 Ich verweise auf Emile Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, Frankfurt am Main 1992.

14 Eine schöne Interpretation dieses Sachverhalts liefert Raymund Schwager, Der wunderbare Tausch. Zur Geschichte und Deutung der Erlösungslehre Luthers, Kösel/München 1986.

15 Geradezu vorbildlich hat das dargestellt Bernd Janowski, Sühne als Heilsgeschehen, Traditions- und religionsgeschichtliche Studien zur priesterlichen Sühnetheologie (WMANT 55), Neukirchen-Vluyn 1986.

16 „Freue dich nicht, Israel, jauchze nicht wie die Völker; denn du bist mit deiner Hurerei deinem Gott weggelaufen; gern nimmst du Hurenlohn auf allen Tennen. Tenne und Kelter sollen sie nicht nähren, und der Wein soll ihnen fehlen. Sie sollen nicht bleiben im Lande des HERRN; sondern Ephraim muss zurück nach Ägypten und muss in Assyrien Unreines essen. Dort werden sie dem HERRN keinen Wein darbringen, und ihre Schlachtopfer werden ihm nicht wohlgefällig sein. Ihr Brot wird sein wie das Brot der Trauernden, an dem unrein werden alle, die davon essen; denn ihr Brot müssen sie selbst essen, es wird nichts davon in des HERRN Haus gebracht. Was wollt ihr dann in den Festzeiten und an den Feiertagen des HERRN tun? Denn siehe, die der Verwüstung entgangen sind, die sammelt Ägypten ein, Memphis begräbt sie. Nesseln werden wachsen, wo jetzt ihr kostbares Silber ist, und Dornen in ihren Zelten. Die Tage der Heimsuchung sind gekommen, die Tage der Vergeltung; dessen wird Israel innewerden. »Ein Narr ist der Prophet und wahnsinnig der Mann des Geistes!« Um deiner großen Schuld willen ist die Anfeindung groß! Ephraim liegt auf der Lauer – bei seinem Gott ist der Prophet. Fallen auf allen seinen Wegen, Anfeindung selbst im Hause seines Gottes! Tief verdorben ist ihr Tun wie in den Tagen von Gibea. Er gedenkt ihrer Schuld, sucht heim ihre Sünden.“ (Hos 9,1-8)

17 Vgl. Schönberger, 312-337. Empfehlenswert zum Zusammenhang von Versöhnungs- und Bundestheologie ist Eberhard Busch, Der theologische Ort der Christologie Karl Barths. Die Versöhnungslehre im Rahmen des Bundes, in: ZDTh 18 (2002), 121-137.

18 Martin Luther, WA 40 III, 352, 3; 39/I 205,20-22.

19 Vgl. zu diesem Dreischritt von Hochmut, Trägheit und Lüge Barths zwischen Christologie und Soteriologie eingebettete Harmatiologie in KD IV/1, § 60, KD IV/2, § 65 und KD IV/3, § 70.

20 Vgl. Barth, KD IV/2, 460-486. Die Sünde in Gestalt der Dummheit erweist sich für Barth darin, dass sie – freilich vergeblich – so tut, also ob Gott gar nicht Mensch geworden wäre, als ob das Licht, das Christus selbst ist, die Welt nicht erhellt, hätte, ja, als ob die in ihm geschehene Versöhnung nur „Schall und Rauch“ sei. Sie ist eine Unterlassung dessen, wozu Christus auffordert, sie ist eine Unvernunft wider besseres Wissen: „Der etwas ungewöhnliche Satz muß […] gewagt werden: Sünde ist auch Dummheit und Dummheit ist auch Sünde. Wobei unter Dummheit freilich streng das Verwerfliche zu verstehen ist, was die Bibel des Menschen Torheit oder Narrheit nennt. Von ihr kann man also gerade nicht etwa sagen, daß der Mensch nichts dafür könne, wenn sie ihm […] beschieden sei. Sie kann man aber auch nicht als Entschuldigungs- oder Milderungsgrund für des Menschen entsprechendes Denken und Reden, Benehmen und Tun, geltend machen. Sie ist nicht bloß eine bedauerliche Schwäche, ein verdrießlicher Übelstand, der durch Erziehung und Aufklärung teilweise oder ganz zu beheben, vielleicht auch in Nachsicht und Gelassenheit zu ertragen, vielleicht auch durch andere, bessere Eigenschaften des Menschen wett zu machen wäre. Sie ist des Menschen – des ganzen Menschen – üble Tat, oder, da es sich in ihr ja um die Grunddimension der Trägheit handelt, seine ‚Untat‘, sein verantwortliches und sträfliches Versagen und Unterlassen“, so Barth KD IV/2, 462f. Trägheit in Gestalt der Dummheit hat nach Barth die unangenehme Begleiterscheinung, dass sie sich selbst verbirgt, sodass man ihrer kaum ansichtig wird, sodass Barth zu dem Schluss kommt, dass nur der gekreuzigte Auferstandene selbst uns von ihr überführen kann und muss (vgl. a.a.O., 468-478).

21 Vgl. Peter Zocher, Wirkung und Rezeption. In der Kriegs- und Nachkriegszeit, in: Michael Beintker (Hg.), Barth Handbuch, Tübingen 2016, 437-444.


Dennis Schönberger
Sakrament: ein Zeichen, das hilft, den Glauben zu nähren

Das reformierte Verständnis der Taufe drückt sich aus in den Worten „Hilfsmittel“, „sichtbares Zeichen“, „Siegel“, „Unterpfand“, „Wahrzeichen“, „Zeichen des Bundes“.
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