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Der zweifache Schrei
Karfreitagspredigt über Matthäus 27, 45-54
Gott will Kinder, die nach Erkenntnis trachten.
(Johannes Calvin)
Mit einem reinen Kinderglauben ist es nicht getan.
Nicht nur das Herz, sondern auch der Verstand muss mitbeten.
Andernfalls wird ein Verstand,
der nicht mitbetet,
unbeschäftigt bleiben und beginnen,
über das betende Herz zu spotten.
(Martin Luther)
Text in der Lutherübersetzung (Evangeliumslesung):
45 Und von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde.
46 Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut: Eli, Eli, lama asabtani? Das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
..……
50 Aber Jesus schrie abermals laut und verschied.
51 Und siehe, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben an bis unten aus.
52 Und die Erde erbebte und die Felsen zerrissen, und die Gräber taten sich auf und viele Leiber der entschlafenen Heiligen standen auf
53 und gingen aus den Gräbern nach seiner Auferstehung und kamen in die heilige Stadt und erschienen vielen.
54 Als aber der Hauptmann und die mit ihm Jesus bewachten das Erdbeben sahen und was da geschah, erschraken sie sehr und sprachen: Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!
Text (Verlesung vor der Predigt) in Anlehnung an die Übersetzung in: Massimo Grilli / Cordula Langner, Das Matthäus-Evangelium, Katholisches Bibelwerk, Stuttgart 2010, S. 435
45 Von der sechsten Stunde an kam Finsternis über die ganze Erde bis zur neunten Stunde.
46 Um die neunte Stunde aber schrie Jesus auf mit lauter Stimme, sagend: Eli, Eli, lema sabachthani?
Das ist: Mein Gott, mein Gott, warum und wozu hast du mich verlassen? (Ps 22,2)
……
50 Jesus aber - wieder schreiend mit lautem Schrei - gab den Geist auf.
51 Und – siehe! - der Vorhang des Tempels wurde von oben bis unten in zwei (Stücke) gespalten, und die Erde wurde erschüttert, und die Felsen wurden gespalten,
52 und die Gräber wurden geöffnet, und (die) vielen Leiber der entschlafenen Heiligen wurden auferweckt,
53 und - herauskommend aus den Gräbern - nach seiner (Jesu) Erweckung gingen sie hinein in die heilige Stadt und erschienen vielen.
54 Der Hauptmann aber und die mit ihm Jesus Bewachenden - sehend das Erdbeben und die Geschehnisse - fürchteten sich sehr, sagend: Wahrhaft Gottes Sohn war dieser!
Predigt
I
Am Karfreitag unter dem Kreuz Jesu wurde nach dem Bericht des Matthäus nicht (wie etwa in der „Matthäus-Passion“ von Johann Sebastian Bach) gesungen und gebetet. Es ist überhaupt eine ernste Frage: Verliert nicht – wenn die Leidensgeschichte in erhabene Musik gesetzt wird – sie recht eigentlich ihren leidvollen, tödlichen Ernst.1 Jesus hat am Kreuz nicht gesungen. Er hat nicht in bewegende Choräle eingestimmt. Und er hat keinen malerischen Anblick geboten. Vielmehr ist in der Leidensgeschichte Jesu nach Matthäus zweimal ein gellender Schrei zu hören. Und ein Mensch ist in einem grauenhaften Sterben zu sehen.
Es ist zunächst der Schrei zu hören, mit dem Jesus am Kreuz aufschreit. Und in diesem Schrei betet der Gekreuzigte den Psalm 22. Hier heißt es zu Beginn: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“. So wird in der Regel übersetzt. Es kann aber auch heißen: „Mit welcher Absicht hast du mich verlassen?“ Oder: „Zu welchem Zweck hast du mich verlassen?“ Oder eben auch: „Aus welchem Grund hast du mich verlassen?“ Also, nicht nur nach der Ursache des Kreuzes ruft der Gekreuzigte, sondern auch nach Ziel und Zweck schreit er: „Mit welchem Vorbedacht hast Du mich verlassen?“
Dieser Gebetschrei ist oft verstanden worden als Ausdruck letzter Verzweiflung. In ihm habe der Gekreuzigte seinen Glauben an Gott verloren, wird gesagt. Es ist vermutlich anders: Wenn wir sagen: „Der betet das Vaterunser“, wissen wir: Der Beter betet nicht nur die erste Zeile. Sondern er spricht das ganze Vaterunser. So interpretiert der Evangelist Matthäus das Schreien Jesu in seinem Sterben: Der Gekreuzigte ruft hier betend – in der Art jüdischer Gelehrter, der Rabbiner - mit dem Beginn des Psalms 22 den ganzen Psalm.
Es ist zunächst in seinem ersten Teil der Psalm aus tiefster Tiefe. Wir haben ihn eben in dieser Art miteinander gesprochen und gebetet:2
- „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ (V. 1);
- „ich aber bin ein Wurm und kein Mensch“ (V. 7)
- „sei nicht ferne von mir, denn die Not ist nahe, keiner ist da, der hilft“ (V. 12)
- „Mein Gott, mein Gott warum bist du fern meiner Rettung, den Worten meiner Klage?“
Dann jedoch – auch diesen zweiten Teil haben wir eben gesprochen - ist der Psalm von Vers 22 an - „Du hast mich erhört“ - ein Psalm äußersten Vertrauen. Ja er ist geradezu ein Jubel über Gottes Rettungstat:
- „doch meine Seele, ihm lebt sie“ (V. 30)
- „die nach dem Herrn fragen, werden ihn preisen“; (V.27)
- „euer Herz soll ewiglich leben“ (V. 27);
- „des Herrn ist das Reich“ (V. 29);
- „alle Enden der Erde werden dessen gedenken und umkehren zum HERRN“ (V. 28)
- „ihn allein werden anbeten alle, die in der Erde schlafen“ (V. 30).
Von den beiden Teilen des Psalms 22 aus gesehen ist der Tod Jesu Ereignis tiefster Erniedrigung und zugleich Ereignis höchster Erfüllung. Hier erfüllt sich, was schon am Anfang des Matthäusevangeliums mit der Nennung des Namens „Jesus“ durch den Engel dem Joseph verheißen wird: Dieser wird die Sünde, das Böse und Gemeine überwinden, ja „Er wird sein Volk retten: Er befreit es von aller Schuld“ (Mt 1, 21)3. Man kann hier mithin vom Zeichen der „Vergebung im Gericht“ sprechen, von der „Auferstehung im Tod“, „vom Ostermorgen im Karfreitag“. - Im vor Ihnen liegenden Bild der Brigitte Strauß sind es die widerstreitenden Farben des dunklen Chaos des Erdbebens und der Kreuzigung einerseits und des Lichtes der Ostersonne, die diese Spannung von Erhöhung und Erniedrigung zum Ausdruck bringen.
II
Nun ist uns allen in der vergangenen Woche am 25. März einmal mehr der Blick auf Trümmer, Vernichtung und Tod zugemutet worden. Der Absturz des Germanwings-Flugzeuges in den Bergen Südfrankreichs erschüttert unser Land – und Frankreich und Spanien ebenso. Im Bild der Brigitte Strauß sehen wir auf der linken Seite Trümmer, die aussehen wie die Trümmer in den französischen Alpen. Unter ihnen sind 150 Menschen begraben. Schneidend stellen uns die Trümmer wieder die alte Frage: Wenn Gott allmächtig ist, könnte er Leid und Wahnsinn nicht verhindern? Wenn Gott gerecht ist, warum lässt er Leid und Verbrechen zu? Warum fällt er einem Wahnsinnigen oder einem Gewalttäter nicht in den Arm? Es gibt nun aber so viel Leid und Verbrechen in der Welt. Mithin ist Gott entweder nicht allmächtig oder nicht gerecht. Das sagt die Logik. Wie kann man nach der März-Katastrophe 2015 noch an den Gott glauben, der uns seine bewahrende Nähe verspricht?
Man „kann“ es gar nicht, meine Schwestern und Brüder. Ganz und gar ist der Glaube darauf angewiesen, dass er trotzdem erhalten und gehalten wird. Denn unser Glaube hat ja keine umstandslose Antwort parat auf die Frage nach dem Leid von Menschen. Keine „wie aus der Pistole geschossene“ Antwort gibt es. Die Klage bleibt offen. Und doch hält der Glaube sich an den Trost: Gott wird in der Kraft des Gekreuzigten den Opfern gerecht. Und er bewahrt die Toten in der Kraft des Auferstandenen in Ewigkeit. Sie sind nicht vernichtet. Sie sind nicht ins Nichts gefallen! Sie sind bei Gott. – Was bedeuten die nur im Schemen, im schwachen Umriss angedeuteten Menschen auf dem Bild der Brigitte Strauß? Könnte man sie nicht auch verstehen als all die, die durch den Tod hindurch den Weg ins Licht Gottes gehen?
III
Nun aber seht und hört: Auf dem Hügel Golgatha ist ein zweiter Schrei zu hören: ein unartikulierter Schrei, in dem Jesus stirbt: „Aber Jesus schrie abermals laut auf und gab den Geist auf“ (V. 50). Und was zweimal in den Evangelien berichtet wird, hat eine doppelte Unterstreichung, eine unüberhörbar scharfe Akzentuierung: Es ist auch hier nicht der Schrei der Verzweiflung. Es ist vielmehr das Schreien und Rufen des Weltenrichters. Der „Weltenrichter“, das ist für jüdisch Verstehende Gott selber. Er wird einst kommen „mit den Wolken des Himmels“ (26, 64). Genau diese Weise aber kündigt an der gefangene Jesus vor dem Hohen Rat: „Und Jesus sprach: Von nun an werdet ihr sehen den Menschensohn sitzen zur Rechten der Kraft (Gottes) und kommen mit den Wolken des Himmels.“ Und bei diesem Kommen schreit er – in der Vorstellung jüdisch Glaubender hinsichtlich der Endzeit – gellend.
Davon erwachen dann „die Heiligen“. Und sie werden auferweckt zum letzten Gericht Gottes. Und eben dies geschieht bzw. ist geschehen unmittelbar zuvor auf dem Hügel Golgatha. Genau das bezeugt der Theologe und Evangelist Matthäus mit der Erwähnung des zweifachen Schreis als schon geschehen. So ist zu sagen: Am Nachmittag des Karfreitags geschieht das Weltgericht. Die Finsternis, von der hier die Rede ist, ist die über die ganze Erde sich ausbreitende apokalyptische – d.h. die endzeitliche – Gerichtsfinsternis. Von ihr ist im Alten Testament verschiedentlich die Rede.4
Jetzt ergeht auf Golgatha das Gericht, das an allen Menschen ihrer Schuld vor Gott wegen vollzogen werden müsste. Das jüngste und letzte Gericht ergeht nun in dieser Stunde allein über den Gekreuzigten. „Und – siehe! -, der Vorhang im Tempel wurde (nämlich: von Gott5) zerrissen in zwei Stücke von oben an bis unten aus“ (27, 51). Was lässt die Künstlerin uns hinter dem zerrissenen Tempelvorhang sehen? Dunkelheit. Es ist die Dunkelheit, in die sich Gott hüllt6 Mit ihr ist Gott gnädig, um den Menschen den Anblick seiner Herrlichkeit zu verhüllen, - ein Anblick, der sie töten würde. Der zerrissene Vorhang jedoch kündigt an, dass Gott nun kommt. Gott kommt zu seinem sündigen Volk – zum Gericht: „Gott will im Dunkeln wohnen,“ dichtet Jochen Klepper, „und hat es doch erhellt! Als wollte er belohnen, so richtet er die Welt!“ Der gekreuzigte Jesus eröffnet durch den zerrissenen Tempelvorhang hindurch die Gegenwart Gottes unter den Menschen. Ihnen werden die von Gott trennenden Sünden vergeben.
Und die endzeitliche Auferstehung geschieht ebenfalls: „Und die Erde wurde erschüttert (nämlich von Gott), und die Felsen wurden gespalten, und die Gräber wurden geöffnet, und viele Leiber der entschlafenen Heiligen wurden geöffnet und sie wurden erweckt, und – herauskommend aus den Gräbern – nach Jesu Auferweckung gingen sie hinein in die heilige Stadt (Jerusalem) und erschienen vielen“ (V. 52f). Die hier geschilderten Vorgänge entziehen sich völlig unseren menschlichen Vorstellungen. Sie sprechen nicht von „Tatsachen“, sondern von Gesichtern und Ahnungen. Recht eigentlich lässt sich davon nur im Zusammenhang von Andeutungen und Farben sprechen. Brigitte Strauß deutet das vom Evangelisten Bezeugte in der Zerfetzung des hellen Tempelvorhang an und in den brüchig gewordenen Tempelsäulen. Sie stehen nicht dafür, dass das „jüdische
Gesetz“ brüchig geworden ist, sondern dafür, dass durch das Kreuz Jesu unsere mitgebrachten und oft einbetonierten religiösen Überzeugungen durch das Karfreitagsgeschehen radikal in Frage gestellt werden.
IV
Was also lässt Matthäus nach dem Tod Jesu sehen? Die Vision und Audition, die „Sehung“ und „Hörung“ des Jüngsten Tages, die Vision und Audition der Totenauferstehung. Die Verwirklichung dieser Vision ist im Tod Jesu so gegenwärtig, dass der Evangelist sie darlegt als schon geschehenes Ereignis: Die „vielen Leibern der Heiligen wurden auferweckt und kamen aus den Gräbern.“ Dabei sind die „Heiligen“ nicht die besonders frommen Menschen, sondern die Toten und die Lebenden, die nun untrennbar und untrüglich zu Gott gehören. Die zu Gott Gehörenden – das sind die Heiligen.
Wie viele waren das? Es waren die „Vielen“, „die unendlich und unzählig Vielen“. Wir, du und ich, werden einst auch dazu gehören. Und es ist dies alles nun ausdrücklich und nachdrücklich auch zu sagen über die Opfer des großen Unglücks in der vergangenen Woche. Die in den Bergen so gewaltsam zu Tode Gebrachten, sind nicht einfach zerschellt und ins Nichts gefallen, sie haben schon jetzt einen vorweggenommenen Anteil an der großen Auferstehung des Gekreuzigten. Dies gilt auch für den kranken Co-Piloten Andreas. Auch er ist hineingenommen in die Kraft des Kreuzes und der Auferstehung Jesu.
Nur mit Vorsicht kann und darf davon gesprochen werden. Brigitte Strauß bringt es zum Ausdruck, indem sie die auferstandenen „Heiligen“ eben nur im äußersten, kaum erkennbaren Schemen zeichnet. Auf einer Ebene zeitlicher Abfolge lässt sich das von Matthäus „Berichtete“ nicht mehr denken. Es ist vielmehr die symbolische Verschlüsselung der hohen Wahrheit des Evangeliums: Der Tod ist im Tod Jesu überwunden; wir sterben hinein in die offenen Arme des Gekreuzigten und Auferweckten. Der Tod wird einmal für alle überwunden. Und der neue Himmel und die neue Erde werden erstehen.
Im Horizont des Kreuzes dürfen wir uns darauf verlassen und es bezeugen: Wir haben es im Leid nicht mit einem sich von uns abwendenden Gott zu tun, auch wenn er uns so oft ver9 borgen erscheint. Der Vater Jesu Christi ist nicht der Urheber von einer Katastrophe und eines Wahnsinns. Jedoch darf gesagt und geglaubt werden: Kein Unglück und keine gewalttätige Tat geschehen in seiner Abwesenheit. Sie müssen an ihm vorbei. Gottes Treue trägt uns dennoch über Unglück und Tod und Gewaltverbrechen hinaus und gibt unserem vorläufigen und so gefährdeten Leben trotzdem Sinn und Zukunft.
V
Schließlich: Es sind in der Matthäuspassion ausgerechnet hervorgehoben jener im Gottesschrecken sich fürchtende römische Soldat und „die, mit ihm waren – bewachend Jesus“, …. die also, die zu den Henkern und Gewalttätern gezählt werden. Sie erfahren die Würdigung, als Erste auszusprechen, was A und O, was Kern und Stern des christlichen Glaubens ist: „Wahrhaft, Gottes Sohn war dieser!“ Er war es. Er ist es. Er wird es sein.7 Und so sind auch die Fernsten nicht zu fern vom Gekreuzigten. Sie sind vielmehr die ihm Nahesten.
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1 Für die Leser des Manuskripts: Manfred Hausmann, Dichter und reformierter Laienprediger (* 10. September 1898 in Kassel; † 6. August
1986 in Bremen)
Zwiesprache
„Wenn ich der Teufel wäre, jene unheimliche Macht, die unter allen Umständen verhindern will, dass der Mensch in die gute Ordnung Gottes zurückkehrt, dann würde ich zum Beispiel die Matthäuspassion komponieren.“ Eliot wich aus: „Das würden Sie nicht können, denn der Teufel ist nicht imstande, auch nur das kleinste Etwas, geschweige denn ein so herrliches Werk wie die Matthäuspassion zu erschaffen. Er kann nur zunichte machen, er ist ein nichtender Geist.“ – „Richtig. Dann würde ich also einen Komponisten dazu verführen, diese Passion zu erschaffen.“ – „Und warum?“ – „Weil ich dann die Menschen vom Ernst der Passionsgeschichte ablenken und zu einem falschen Verständnis bringen würde.“ – „Es gibt aber nicht wenige Menschen, die das Gegenteil behaupten, dass sie nämlich durch die Bachsche Musik erst zum richtigen Verständnis des Textes
angeleitet worden seien.“ – Wenn das Geschehen der Passion Christi in Musik gesetzt wird, in erhabene, in einzigartige Musik, dann verliert es dadurch seinen tödlichen Ernst. Und je höher der künstlerische Wert der Musik ist, umso größer der Verlust an Ernst.“ – Ihm aber seien, sagte Eliot, Kunstwerke musikalischer, bildnerischer und dichterischer Art bekannt, in denen ein ungeheurer Ernst vorwalte. – Ich antwortete, um meine Meinung deutlich zu machen, mit einem Beispiel: „Ein Ihnen sehr teurer Mensch, Ihr Vater, Bruder, Freund, ist in einem Konzentrationslager unter entsetzlichen Umständen ermordet worden. Und nun kommt ein entlassener Mithäftling zu Ihnen, um Ihnen von Leiden und Sterben des Ihnen so teuren Menschen zu berichten, das er hat mit ansehen müssen. Er tut das aber nicht mit stockenden Worten und immer wieder überwältigt von der Erinnerung an das Schreckliche, sondern er setzt sich an Ihren Flügel und gibt Ihnen seinen Bericht in Form einer wundervollen Arie. Das wäre
unertragbar. Jemand, der bei der Erstattung eines solchen Berichtes noch an die künstlerischen Gesetze einer Arie denken kann, wird unglaubwürdig, denn er verwandelt durch seine Kunst die grauenvolle Wirklichkeit, von der die Rede ist, in eine ästhetische Überwirklichkeit, er entstellt, verschleiert, pervertiert sie. Das gleiche gilt für die Matthäuspassion. Jesus hat am Kreuz nicht gesungen, er hat keine Gedichte aufgesagt und er hat keinen malerischen Anblick geboten. – Eliot: „Er hat sehr wohl ein Gedicht aufgesagt, nämlich einen Vers aus dem 22. Psalm. Und Sie werden gewiss nicht bestreiten wollen, dass ein Psalm unter anderem auch eine Dichtung ist.“ – „Ich bestreite erstens, dass im Anfang des 22. Psalms, in dem ‚Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?‘ auch nur die kleinste Spur von Dichtung steckt – er war und ist ein Gebet -, und ich bestreite ferner, dass Jesus diese Worte aufgesagt oder auch nur gesagt hat, er hat sie in der Erstickungsqual des Kreuzestodes – ein am Kreuz Hängender erstickte ja langsam – er hat sie mit verdurstender Kehle, mit geschwollener Zunge, mit zerrissenen Lippen geschrien, geächzt, geröchelt. Wenn so etwas mit Musik unterlegt oder wenn in diesem Zusammenhang gar von ‚süßen Kreuz‘ gesungen wird, wie es in der Matthäuspassion geschieht, dann ist das – bitte, sagen Sie selbst, was das dann ist!“
2 Die Gemeinde hat im ersten Teil des Gottesdienstes den Psalm 22 (in Auswahl) gesprochen. Er ist im EG (Ausgabe für die Evangelisch reformierte Kirche [Synode evangelisch-reformierte Kirchen in Bayern und Nordwestdeutschland] und für die Evangelisch-altreformierte Kirche in Niedersachsen) wie in der Rheinischen-Westfälischen und Lippischen Ausgabe unter der Nr. 709 (Psalm 22 I) und unter der Nr. 710 (Psalm 22 II) abgedruckt. Außerdem wurde vor der Predigt die gar nicht genug zu rühmende Bereimung des Psalms 22 von Jürgen Henkys gesungen. Er steht im selben Gesangbuch unter der Nr. 22B. Ich bin überzeugt, diese Bereimung „ein exegetisches-systematisches-liturgisches Meisterstück“ nennen zu dürfen.
3 Exegetisch gesehen ist darauf hinzuweisen, dass der Name „Jesus“ hier gedeutet wird mit den Worten des Psalms 130, 8. In ihm wird der Vers 8 - „Ja, er wird Israel erlösen von allen seinen Sünden“ – vom Gott Israels gesagt wird. In Kapitel 28, 18. 20 nimmt dann der Auferstandene für sich in Anspruch, was Israel nur von Gott sagen kann: „Mir ist alle Gewalt gegeben im Himmel und auf Erden … Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an das Ende der Welt.“ Diese unerhörte Identifikation ist die alles bestimmende theologische Klammer des Matthäusevangeliums.
4 “Was wir hier vor uns haben, ist das alttestamentliche Motiv der apokalyptischen Gerichtsfinsternis. S. dazu
vor allem Am 8,9 sowie ferner: Jes 13,9ff.; Joel 2,1ff.10f.; 3,4; 4,15. Die Finsternis von Mt 27,45 (= Mk 15,33) ist
die – über die ganze Erde …. sich ausbreitende – apokalyptische Gerichtsfinsternis. Jetzt ergeht das Gericht,
unter dem alle Menschen rechtens stehen, über den Gekreuzigten“ (Otfried Hofius).
5 Passivum divinum (= den Namen Gottes nicht nennendes aber meinendes Passiv)
6 Die Dunkelheit, in die Gott seine Herrlichkeit hüllt (2. Mo 20,21; 1. Kön 8, 12; Ps 18,9.11; 97,2; Heb 12,18
7 Ich habe einmal aus einem englischen Kommentar notiert zu „än“: Imperfect of a truth just recogniced although
true before – and in all time. Vgl. auch Joh 1, 15; 2, 25; 10, 41; 11, 18; 12, 16. Apg 27, 8 u.ö.
Gehalten am Karfreitag 3. April 2015 in der Reformierten Kirche zu Soest
Rolf Wischnath
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