Ein ''tolerantes'' Bekenntnis?

Einige Hinweise zur ''Toleranz'' des Heidelberger Katechismus

Jörg Schmidt © Georg Rieger

Neben Zügen der Intoleranz finden sich im HK Aussagen, die für ein positiv gestaltetes Miteinander grundlegend sind und somit Toleranz positiv zu füllen vermögen.

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Wenn der Reformierte Bund 2013 mit dieser Ausstellung an die Veröffentlichung der ersten Ausgabe des Heidelberger Katechismus vor 450 Jahren erinnert, dann geschieht das in einem bestimmten Zusammenhang: Seit 2008 bereitet die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) das Reformationsjubiläum 2017 mit einer sogenannten Reformationsdekade vor. Im Rahmen der Dekade hat jedes Jahr ein spezifisches Thema, das mit der Reformation verbunden ist. Und für 2013 lautet das Thema: Reformation und Toleranz.

Nun ist Toleranz sicher nicht das erste Stichwort, das bei einer Erinnerung des HEIDELBERGER eine Rolle spielt. Was im Übrigen für die der Reformation insgesamt zu gelten scheint. So veröffentlicht die EKD das Themenheft für das Jahr 2013 unter dem Titel „Schatten der Reformation. Der lange Weg zur Toleranz“. Und Thies Gundlach spricht im eröffnenden Artikel „Verdunkelter Christus“ von einer „Scham- und Schuldgeschichte der reformatorischen Kirchen“. Die Reformation habe „keinen wirklichen Zugang zum Thema Toleranz gefunden“[1] Und: „Im christlichen Glauben ist die Haltung der Toleranz ebenso angelegt wie die der Intoleranz.“[2]

Was für die Reformation hier generell ausgesagt wird, würde für die reformatorische Grundschrift Heidelberger Katechismus natürlich auch gelten. Beim letzten Zitat von Gundlach mag dem einen oder der anderen ja auch die eine oder andere Frage des HEIDELBERGER einfallen, etwa Frage 80 mit der schroffen Verwerfung der päpstlichen Messe als „vermaledeite Abgötterei“. Allerdings – ohne die gegenseitigen Verwerfungen in der Reformationszeit verharmlosen zu wollen –: Die Frage mag erlaubt sein, ob denn das, was wir inzwischen unter Toleranz verstehen und zu leben meinen, angewendet werden kann, um Tendenzen reformatorischer oder katholischer (Streit-)Schriften und mehr noch konfessionspolitische Entscheidungen in der Zeit der Reformation angemessen beurteilen zu können.

Oder anders: Im Interesse und auf dem Weg eines selbstkritischen Zugangs zur Reformation und ihrer Rezeptionsgeschichte ist dann Vorsicht geboten, wenn der Wahrnehmungshorizont von gegenwärtigen Vorstellungen etwa von der der Toleranz bestimmt wird. Ich kann mir Toleranz gut erlauben, zumindest im Bereich Religion. Gewöhnlich hängt davon für mich nichts ab und ich gehe kaum ein Risiko ein, jedenfalls nicht für mein Leib und Leben und in der Regel nicht einmal für gesellschaftlichen Einfluss oder politische Macht[3].

Das war in der Reformationszeit anders. Das ist, wie wir gegenwärtig mit einem gewissen Erschrecken merken, auch in anderen soziokulturellen Zusammenhängen anders. Wer, wie es in dem genannten Themenheft der EKD zumindest implizit geschieht, von den sich herausbildenden reformatorischen „Flügeln“ Toleranz erwartet, muss wissen, dass eine so handelnde Gruppe sich damit aufgegeben hätte, ihren Glauben wie sehr wahrscheinlich auch ihre Existenz.

Andererseits kann es nun gar nicht anders sein, dass mit Bekenntnissen und mit Katechismen auch ein positiver Bezug auf anderes und auf andere formuliert wird. Sie verstehen sich – das ist zumindest ihr Anspruch – als im Evangelium begründet, in Herleitung wie in Auslegung[4]. Und im Evangelium der ganzen Bibel ist das die deutliche Perspektive: über die Selbst-Bindung Gottes an das Volk Israel hinaus auf Fremde sich auch positiv zu beziehen[5]; über die Selbstliebe hinaus den Nächsten[6], ja den Feind zu lieben[7].

Zugespitzt kann man formulieren: Nur das ist ein angemessenes und darum richtiges Bekenntnis, in dem sich dieses biblische Zeugnis wiederfindet und Bahn bricht. Dementsprechend ist zu erwarten, dass sich etwa im HEIDELBERGER Facetten dessen finden, was wir heute vielleicht mit Toleranz bezeichnen würden.

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Michael Weinrich unterscheidet in seinem Beitrag „Vermittlung gescheitert“ in dem genannten Themenheft der EKD zwischen einer negativen und einer positiven Toleranz. Mit negativer Toleranz beschreibt er das Verhalten „etwas passiv hinzunehmen, ohne Einspruch zu erheben. Toleranz bekennt sich dazu, unterschiedliche Lebensauffassungen in gleicher Weise für gültig zu halten“[8].

Das klingt wie eine Beschreibung des Nebeneinanders von Religionen, wie wir es gemeinhin in unserer Gesellschaft erleben. Und wir erleben auch, dass aus dem „gleich gültig“, das das Existenzrecht der verschiedenen Religionen oder auch Religionsgegner bewahren soll, ein „gleichgültig“ wird. Und Gleichgültigkeit kann leicht zur Folge haben, dass auch eine mögliche Bedrohung einer anderen religiösen Gruppierung als „gleich gültig“ wahrgenommen und letztlich denen überlassen wird, denen sie gilt: den Bedrohten selbst.

Demgegenüber versteht Weinrich unter positiver Toleranz ein die Toleranz gewissermaßen füllendes Bekenntnis, etwa das zum Rechtsstaat oder zu den Menschenrechten oder etwa auch zu dem Gott, „dessen Gnade und Barmherzigkeit allen Menschen gilt“[9].

Die in den Anmerkungen 5-7 genannten Bibelstellen (2. Mose 20,10; 3. Mose 19,18; Mt 22,39; Mt 5,44) sind Beispiel für eine solche positive Toleranz: Sie sprechen nicht von einer Toleranz im Sinne eines „die anderen gelten lassen“, mit der wir dann bestenfalls anderes und andere aushalten. Vielmehr formulieren sie ein Darüber-Hinaus, einen positiven Bezug auf die anderen, auf das andere. In dieser Perspektive ist also der HEIDELBERGER wahrzunehmen: ob und wenn ja wie sich ein solches Bekenntnis findet, das Toleranz positiv zu füllen und zu gestalten vermag.

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Ein vordergründiger Blick richtete sich wahrscheinlich auf die Absicht des HEIDELBERGER, auf seinen ausdrücklichen Versuch, die verschiedenen reformatorischen Akzente und Richtungen gewissermaßen zusammen zu bringen und zu halten. Was allerdings für die damalige Zeit ein – wenngleich gescheiterter, so doch – ehrenwerter Versuch war, wäre heute, als Bekenntnis zur Toleranz erinnert, ein eigentlich längst überholtes Bekenntnis und insofern nicht mehr als eine Bestätigung des „gleich gültig“.

Schließlich erinnert die EKD im nächsten Jahr auch an die Unterzeichnung der Leuenberger Konkordie vor 40 Jahren, in der beide evangelischen Richtungen bzw. ihre Vertreterinnen und Vertreter festgehalten haben, dass die Lehrunterscheidungen nicht mehr kirchentrennend sind. Und unabhängig davon, wie gegenwärtig das evangelische Miteinander gestaltet wird, gilt in vielen Gemeinden weithin doch tendenziell das „gleichgültig“ gegenüber der Bedeutung der unterschiedlichen reformatorischen Akzente.

Ein etwas tieferer Blick könnte dann in einzelnen Fragen des HEIDELBERGER das eine oder andere finden, das „Toleranz“ positiv zu füllen vermag, Aussagen, die für ein positiv gestaltetes Miteinander grundlegend sind. Hauptsächlich finden sie sich in den Fragen, die die 10 Gebote als Lebensordnung der Gemeinde auslegen.

Frage 107 etwa, in der in der Auslegung des sechsten Gebots der Blick über das Verbot des Tötens hinaus auf den Schutz des Nächsten gerichtet wird:

Haben wir das Gebot schon erfüllt, wenn wir unseren Nächsten nicht töten?
Nein.
Indem Gott Neid, Hass und Zorn verdammt,
will er, dass wir unseren Nächsten
lieben wie uns selbst,
ihm Geduld, Frieden, Sanftmut,
Barmherzigkeit und
Freundlichkeit erweisen,
Schaden, so viel uns möglich, von ihm abwenden,
und auch unseren Feinden Gutes tun
(Hervorhebung J.S.).

Frage 111 etwa, die in der Auslegung des achten Gebotes nicht nur das Verbotene benennt, sondern auch das Gebotene betont:

Was gebietet dir aber Gott in diesem Gebot?
Ich soll das Wohl meines Nächsten
fördern, wo ich nur kann,
und an ihm so handeln,
wie ich möchte, dass man an mir handelt
(Hervorhebung J.S.).
Auch soll ich gewissenhaft arbeiten,
damit ich dem Bedürftigen
in seiner Not helfen kann.

Frage 112 etwa, die in Auslegung des neunten Gebotes formuliert:

Was will Gott im neunten Gebot?
Ich soll gegen niemanden
falsches Zeugnis geben,
niemandem seine Worte verdrehen,
nicht hinter seinem Rücken reden
und ihn nicht verleumden.
Ich soll niemanden ungehört und leichtfertig
verurteilen helfen
und alles Lügen und Betrügen
als Werke des Teufels
bei Gottes schwerem Zorn vermeiden.
Vor Gericht und in all meinem Tun
soll ich die Wahrheit lieben,
sie aufrichtig sagen und bekennen
und auch meines Nächsten Ehre und guten Ruf
nach Kräften retten und fördern
(Hervorhebung J.S.).

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Ein letzter Blick noch. Ohne Frage finden sich im HEIDELBERGER Züge der Intoleranz. Am schärfsten allerdings begegnet diese Intoleranz da, wo es zu Beginn generell um den Menschen geht. Unter der Überschrift „Von des Menschen Elend“ skizziert der HEIDELBERGER in den Fragen 3-11 ein auf den ersten Blick drastisches Bild vom Menschen[10]: Er sei „von Natur aus geneigt, Gott und s[m]einen Nächsten zu hassen“ (Frage 5) und „unfähig zu irgendeinem Guten und geneigt zu allem Bösen“ (Frage 8), denn er lebt von Gott entfremdet als Sünder.

In scharfer Intoleranz wendet sich der Katechismus gegen diese Auswirkungen der Trennung von Gott, gegen das „Geneigt sein zu allem Bösen“. Vor allem auf dem Hintergrund des Bildes, wie Gott den Menschen geschaffen hat (vgl. Frage 6), wird deutlich, wie klar der HEIDELBERGER sich dagegen wendet.

Und das ist eine Intoleranz, die allen Menschen gilt: Von „des“ Menschen Elend spricht von allen Menschen. Ohne Frage unterscheidet der Katechismus später zwischen denen, die durch den „Geist wiedergeboren“ wurden (Frage 8), und den anderen. Aber unter der Voraussetzung, dass auch die „zu Gott Bekehrten“ (Frage 114) über einen „geringen Anfang“ nicht hinauskommen, nach dem Willen Gottes zu leben, wird es jedem schwer fallen, in irgendeiner Weise von anderem, von anderen sich überhebend abzugrenzen.

Vergleichbares gilt, wenn man dem Duktus der Frage 54 folgt[11]:

Was glaubst du von der „heiligen allgemeinen christlichen Kirche“?
Ich glaube,
dass der Sohn Gottes
aus dem ganzen Menschengeschlecht
sich eine auserwählte Gemeinde
zum ewigen Leben
durch seinen Geist und Wort
in Einigkeit des wahren Glaubens
von Anbeginn der Welt bis ans Ende
versammelt, schützt und erhält
und dass auch ich
ein lebendiges Glied dieser Gemeinde bin
und ewig bleiben werde.

Der HEIDELBERGER nimmt hier einer intoleranten Überhebung einer Kirche oder christlichen Gruppierung jeden Grund. Der Sohn Gottes selbst nämlich sammelt sich „aus dem ganzen Menschengeschlecht“ seine Gemeinde und schützt und erhält sie auch „von Anbeginn der Welt bis ans Ende“. So eng ist die Bindung an Christus, dass die Gemeinde Anteil erhält an seinen „Gaben und Schätzen“ (Frage 55): Grund für die Zuwendung zum anderen und zum Gabentausch.

Gerd Theißen, der emeritierte Heidelberger Neutestamentler, stammt aus einer reformierten Gemeinde am linken Niederrhein. In einer Predigt zu den Fragen 53-55 hat er das beschrieben, was ihm als Aussage seines Heimatpfarrers dazu erinnerlich ist, eben auch zur Grundlegung eines positiven Bezugs zu Toleranz:

„Die Kirche ist zwar die Versammlung derer, die Gott berufen hat. Aber Gott kann auch andere berufen und erwählen. Unser Pastor machte uns das so klar. Lutheraner, so sagte er, sind Christen.

Man muss sie lieben und schätzen. Aber sie sind im Grunde ein Übergang zu den Katholiken. Katholiken sind Christen. Man muss sie lieben und schätzen. Aber sie sind ein Übergang zu den Heiden. Aber Gott ist frei, jeden Heiden zu erwählen. Du kannst ihm keine Vorschriften machen, wen er erwählt. Doch auch im Blick auf die reformierten Gemeinden gilt: Viele sind berufen, wenige sind auserwählt. Gott ist größer.“[12]

Anmerkungen:

[1]Thies Gundlach, Verdunkelter Christus, in: Ev. Kirche in Deutschland (Hg.), Schatten der Reformation. Der lange Weg zur Toleranz, Hannover 2012, 4ff., hier: 4.

[2] AaO., 5.

[3] Es sei denn, meine Toleranz hätte da negative Folgen, wo sie in Gleichgültigkeit umschlägt, die letztlich auch intolerantes Verhalten anderer, „gleichgültig“ wahrzunehmen bereit ist. Zu diesem Gedanken s. u. 2.

[4] Vgl. etwa HEIDELBERGER 19, in dem der Bezug auf das Evangelium ausdrücklich ausgesprochen wird. Angemerkt sei hier ergänzend, dass der HEIDELBERGER unter Evangelium Gottes Geschichte mit den Menschen, beginnend mit dem Paradies versteht und nicht das Evangelium auf ein neutestamentliches Geschehen – oder gar Buch – reduziert.

[5] vgl. etwa 2. Mose 20,10.

[6] 3. Mose 19,18; Mt 22,39.

[7] Mt 5,44.

[9] Ebd.

[10] Vgl. zum Folgenden Ausstellungstafel 8: Geneigt zu allem Bösen; dort auch die Vorstellung des Katechismus vom „neuen Menschen“.

[11] Zum Folgenden vgl. Ausstellungstafel 9: Gemeinschaft der Heiligen.

[12] Gerd Theißen, Predigt über HK 53-55, Universitätsgottesdienst in der Peterskirche in Heidelberg am 27.5.2012, http://www.theologie.uni-heidelberg.de/universitaetsgottesdienste/2705_ss2012.html


Jörg Schmidt
 

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