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Er für uns
Meditation einer Skizze von Pablo Picassos
Liebe Gemeinde!
I.
Die Kreuzigung Jesu hat Pablo Picasso zu deuten versucht, indem er sie einzeichnet in eine Stierkampfszene.*
Wir sehen den Kopf eines sich wild aufbäumenden Pferdes – Erschrecken und Panik sind angedeutet. Wir ahnen etwas von dem Entsetzen, das der vorbeistampfende Stier ausgelöst hat.
Der Gekreuzigte hat eine Hand vom Balken gerissen. Hat seinen Lendenschurz gegriffen, hält ihn, wie ein Stierkämpfer seine Cappa hält, jenes Tuch, mit dem er die Bewegungen des Stieres dirigiert.
All dies hat Picasso mit nur wenigen Strichen angedeutet – und doch steht uns das phantastische Geschehen vor Augen, das der Maler mit seinem Bild eingefangen hat.
Der Stier war im Begriff, auf das Pferd loszugehen, ihm die Hörner in den Leib zu rammen. Da lenkt der Gekreuzigte mit seinem Lendenschurz die Aufmerksamkeit des Stieres im letzten Augenblick vom Pferd ab. Noch stößt der Stier nach dem Tuch. Aber weil der ans Kreuz genagelte sich nicht wegbewegen kann, wird der Stier unweigerlich vom Tuch zu dem hin geführt, der es hält. Beim nächsten Anlauf werden seine Hörner ihn treffen. Wehrlos gibt sich der Gekreuzigte dem tödlichen Angriff preis.
II.
Auf seine Weise führt Picasso uns ins theologische Zentrum des Kreuzesgeschehens.
Er hat Golgatha in eine Stierkampfarena verlegt – für die meisten von uns eine fremde Welt.
Aber soviel verstehen auch wir: Die Arena ist ein Spiegelbild der Welt in der wir leben: Da herrscht der Tod. Da wird gekämpft und am Kampf verdient. Da wird gewonnen, da wird verloren. Und die armseligsten Verlierer sind die Pferde.
Sie tragen auf ihrem Rücken die Picadores, die Lanzenträger, die den ersten Teil des Kampfes bestreiten. Die Pferde sind in ihren Bewegungen viel langsamer als der Stier. Werden sie ungeschickt geführt und geraten sie in die Laufbahn des Stieres, sind sie ihm unweigerlich ausgeliefert.
In fast jedem Stierkampf verlieren einige von ihnen das Leben.
Man hat ihnen bunt verzierte Decken über den Rücken gelegt. Aber diese Decken schützen sie nicht etwa – sie verschonen nur die Augen der Zuschauer vor den grausamen Verletzungen, die ein Arenapferd davontragen kann. Kommt es zu Tode, wird es von Mauleseln aus der Arena geschleift. Keiner ehrt solch ein Pferd. Niemand trauert. Sein Tod ist ein typischer Verlierertod.
Und gerade für solch ein Pferd, für das unwichtigste Rädchen im Arenagetriebe, für ein Nichts ergreift der gekreuzigte Partei. Der Gekreuzigte als Torero, den Lendenschurz als Cappa schwingend. Der Torero ist der Herr in der Arena. Er ist der Herr über den Tod. Er verwaltet ihn, spielt mit ihm, zögert ihn hinaus und teilt ihn schließlich aus.
Zweifellos ist auch in Picassos Bild der gekreuzigte der Herr über die Situation. Er ragt aus dem Geschehen heraus. Der Bogen in dem er die Cappa schwingt ist perfekt, nicht umsonst folgt ihr der Stier prompt.
Aber diese Bewegung wird ihm, dem Meister, den Tod bringen. Das Pferd wird gerettet und der Stier, Tötender und Todgeweihter zugleich, wird verschont.
Das ist die Botschaft von Golgatha.
In dieser vom Tod gezeichneten und todgeweihten Welt ergreift der Sohn Gottes Partei für die Opfer.
Statt mitzukämpfen gibt er sich hin.
Statt den Tod auszuteilen, nimmt er ihn auf sich.
Ein für alle mal verletzt er die tödlichen Spielregeln und setzt sie außer Kraft.
Jesaja schreibt:
Fürwahr, er trug unsere Krankheit
und lud auf sich unsere Schmerzen.
Wir aber hielten ihn für den, der geplagt
und von Gott geschlagen und gemartert wäre.
Aber er ist um unserer Missetat willen verwundet
und um unserer Sünden willen zerschlagen.
Die Strafe liegt auf ihm
auf dass wir Frieden hätten,
und durch seine Wunden sind wir geheilt. (Jesaja 53, 4.5)
III.
Auf die kürzeste Formel gebracht lautet die Botschaft des Kreuzesgeschehens:
Jesus Christus, gestorben für uns. Picasso hat sie auf seine Weise ins Bild gesetzt. Viele Passionslieder besingen das Geheimnis dieses „für uns“. Und in jedem Abendmahl wird uns zugesagt: Christi Leib, für dich gebrochen – Christi Blut für dich vergossen.
Nun ist heute ausgerechnet dieses „für uns“ vielen Christenmenschen ein Stein des Anstoßes. Deshalb möchte ich noch zwei Fragen aufgreifen, die immer wieder gestellt werden.
1. Frage: Warum muss ein unschuldiger Mensch leiden und sterben, damit Gott uns unsere Sünden vergibt und seinen Bund mit uns erneuert? Oder kürzer: braucht Gott Opfer?
Ich glaube: nein. Gott braucht keine Opfer. Aber wir brauchen es, dass Gott uns und unsere Welt, die noch und noch Opfer produziert, nicht aufgibt. Wir brauchen es, dass Gott mit seiner vergebenden und heilenden Kraft seiner Schöpfung und seinen Geschöpfen gnädig zugewandt bleibt. Und wenn Gott uns die Hingabe dieses leidenden Gerechten zurechnet, dann besagt das nicht: ein böser, despotischer Gott wurde durch dieses Opfer gnädig gestimmt, sondern im Gegenteil: der gnädige Gott lässt es mit dem Tod dieses Einen für alle gut sein. Zum Zeichen dafür hat er ihm neues unvergängliches Leben gegeben. „Für uns“ bedeutet: Gott sieht uns an wie ihn. Wir sind mit Gott im Bunde. Wir, die wir doch sündige Menschen sind, sind Gott recht. Jesu Tod ist unser Leben, Jesu Auferweckung unsere Zukunft.
2. Frage: Jesu Leben für unseres, also stellvertretendes Leiden und Sterben - wie soll man sich das denn vorstellen?
In gewisser Weise kennen wir den Sachverhalt, um den es hier geht, alle. Nur ist er uns so vertraut, dass wir ihn kaum noch wahrnehmen. Komplexe Formen von Leben sind nur möglich, weil ständig Akte von Stellvertretung stattfinden. Das gilt für das Zusammenspiel unserer (und aller Lebewesen) Organe, das gilt für die Lebewesen in ihrem Zusammenleben: Nur weil nicht jeder alles machen muss, kann sich überhaupt Vielfalt entwickeln. Die Arbeit des einen schafft dem anderen Entlastung und Raum für eigene Entfaltung. Auch Paulus´ Bild vom Leib mit den vielen Gliedern beschreibt das An-seinem-Ort-für-andere-Einstehen als eine Grundbedingung für gelingende Gemeinschaft. Nun erklärt das organismische Bild noch nicht alles. Dass Jesu Tod dem Barrabas zugute kommt, leuchtet ein, da gibt es eine direkte Verbindung, so, wie auf unserem Bild: dieser darf leben, weil jener an seiner Stelle den Tod auf sich nimmt. Aber wie soll Jesu Tod Menschen betreffen, die über Räume und Zeiten von ihm getrennt sind. Was heißt da: „Für uns“.
Mir hat sich das „Für uns“ in einem zugegebenermaßen reichlich banalen Zusammenhang erschlossen. Ich fuhr vor einigen Jahren im Zug am Tag nachdem Schalke Europameister geworden war. Ich war umgeben von glücklichen, ja von im Freudentaumel feiernden Menschen, die z.T. von weit her anreisten um, wie sie sich ausdrückten, an „unserer Siegesfeier“ teilzunehmen. Der Sieg auf Schalke war wirklich und wahrhaftig für sie errungen. Und da sage keiner, das sei nur ideell, ohne Auswirkungen in der Realität. Von der philosophischen Problematik, die sich hinter dem „Nur-ideell“ meldet, einmal abgesehen, stimmt der Einwand faktisch nicht. Vereinswechsel: Als Neapel in den 80ern erstmalig italienischer Meister wurde (Madonna und Maradona sei Dank), da vermeldete die Polizeistatistik über Wochen einen gewaltigen Rückgang der Kriminaldelikte. Mann, Frau, alle feierten „ihren“ Sieg, des verachteten Südens über den stolzen Norden. Auf der Innenseite einer Friedhofsmauer hat jemand am Tag nach dem Spiel den Toten die Parole hingesprüht: „Ihr wisst nicht, was ihr verpasst habt“.
Ich wähle noch ein völlig anderes Beispiel aus einem sehr ernsten Zusammenhang: Als Willi Brandt vor dem Mahnmal des Warschauer Ghettos auf die Knie sank und Buße tat, da tat er das für uns. Seine Tat kam unserem Volk zugute und war ein nachhaltig wirkender Meilenstein auf den Weg der Aussöhnung zwischen dem polnischen und dem deutschen Volk.
Stellvertretung über Räume und Zeiten hinweg - auch dieser Gedanke ist uns also nicht fremd. Denkbar ist er. Ob das „für uns“ Jesu allerdings glaubhaft ist, hängt freilich daran, ob wir ihn als einen von uns anerkennen und annehmen können. Die biblische Bezeichnung Menschensohn soll uns dabei helfen. Weil in ihm Gott uns als wahrer und wirklicher Mensch begegnet, als einer von uns eben, haben wir Anteil an seinem Geschick, kommen sein Tod und seine Auferstehung uns zugute. Durch die Zeiten hindurch haben Menschen darin ihren Halt und Trost gefunden. Ihre gesprochenen und gesungenen Glaubenszeugnisse führen oft weiter als dogmatische Setzungen. So fasst etwa Paul Gerhardt in düsteren Zeiten seine Glaubensgewissheit in das Bild von der Geburt:
Ich hang und bleib auch hangen
an Christus als ein Glied;
wo mein Haupt durch ist gangen,
da nimmt er mich auch mit.
Er reißet durch den Tod,
durch Welt, durch Sünd, durch Not,
er reißet durch die Höll,
ich bin stets sein Gesell. (EG 112,6). Amen
*Wem das in worten nachgezeichnete Bild nicht reicht, kann sich die Zeichnung in der gedruckten Fassung der Predigt ansehen, in: Sylvia und Peter Bukowski, Etwas zum Mitnehmen. Reden von Gott in der Welt, Neukirchen-Vluyn 2008, 144.
Peter Bukowski, Direktor des Seminars für pastorale Ausbildung
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