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Kantate: Matthäus 11,25-30 - Gott preisen, mit seinem Ratschluss einverstanden sein
Von Johannes Calvin
25 Zu der Zeit antwortete Jesus und sprach: Ich preise dich, Vater und Herr Himmels und der Erde, daß du solches den Weisen und Klugen verborgen hast und hast es den Unmündigen offenbart. 26 Ja, Vater; denn es ist also wohlgefällig gewesen vor dir. 27 Alle Dinge sind mir übergeben von meinem Vater; und niemand kennt den Sohn denn nur der Vater; und niemand kennt den Vater denn nur der Sohn und wem es der Sohn will offenbaren. 28 Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. 29 Nehmet auf euch mein Joch und lernet von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. 30 Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht.
Matth. 11, 25. „Zu der Zeit antwortete Jesus.“ Obgleich das Wort „antworten“ den Hebräern vertraut ist, wenn eine Rede beginnen soll, so meine ich doch, daß auf dieser Stelle eine Betonung liege, daß Christus nämlich von der verhandelten Sache her die Gelegenheit ergreift, so zu reden. Das bestätigen die Worte des Lukas noch besser, wenn er sagt, Christus habe zu jener Stunde „im heiligen Geist frohlockt“. Woher kam denn dieses Frohlocken, wenn nicht daher, daß ihm die Gemeinde, die aus niedrigen und verachteten Menschen zusammengelesen war, nicht weniger lieb und kostbar war, als wenn der Adel und die Würde der ganzen Welt in ihr geprangt hätte? Seine Rede hat um so mehr Gewicht, als er sich an den Vater wendet und nicht mit den Jüngern redet. Er sagt sicher jedoch auch mit Rücksicht auf sie und um ihretwillen dem Vater Dank, damit ihnen die niedrige und unedle Form der Gemeinde nicht zum Anstoß werde. Denn wir verlangen immer Glanz; und es scheint nichts dem himmlischen Reich des Sohnes Gottes, dessen Herrlichkeit die Propheten in so großartiger Weise rühmen, weniger angemessen, als daß es aus dem Abschaum des Volkes und aus Gelichter besteht. Doch ist dies der wunderbare Ratschluß Gottes, daß er, wo er doch den ganzen Erdkreis in seiner Hand hat, sich das Volk zum Eigentum lieber aus dem verachteten Pöbel erwählt als aus den Vornehmen, die mit ihrer Würde den Namen Christi besser geziert hätten. Aber hier bringt Christus seine Jünger von einer stolzen und allzu hochfahrenden Gesinnung ab, daß sie es nicht wagten, die niedrige und unbekannte Stellung der Gemeinde zu verachten, an der er sein Wohlgefallen hat und für die er freudig dankt. Um im übrigen die Neugier, die zuweilen die menschlichen Überlegungen beschleicht, kräftiger zu beschneiden, erhebt er sich selbst über die Welt und schaut zu dem geheimen Ratschluß Gottes auf, damit er durch sein Beispiel zugleich die andern dazu bewege, diesen Ratschluß zu bewundern. Und obwohl es nun sicher ist, daß diese Anordnung Gottes mit unserem Empfinden in Widerspruch steht, gebärdet sich doch der Hochmut bei unserer Verblendung allzu unsinnig, wenn wir uns gegen sie auflehnen, während Christus, unser Haupt, sie ehrerbietig feiert. Aber wir müssen nun den einzelnen Worten nachgehen.
„Ich preise dich, Vater.“ Mit diesen Worten bezeugt er, daß er mit jenem Beschluß des Vaters einverstanden sei, der doch von unserem menschlichen Urteil so weit abweicht. Denn diesem Lob, das er an den Vater richtet, liegt zwischen den Zeilen der Gegensatz zugrunde; es fällt dadurch Licht auf die böswilligen Störversuche und auch auf das unverschämte Bellen der Welt. Nun ist zu sehen, aus welchem Grund er den Vater preist: er ist Herr über die ganze Erde und stellt die Kleinen und Einfältigen den Weisen voran. Denn wie die Dinge liegen, hat nicht wenig Gewicht, daß er den Vater „Herr Himmels und der Erde“ nennt; denn auf diese Weise gibt er deutlich zu erkennen, daß die Scheidung allein von dem Beschluß Gottes abhänge, wenn die Weisen sich verblenden, die Unerfahrenen und Ungebildeten jedoch die Geheimnisse des Evangeliums verstehen. Es gibt viele andere Stellen dieser Art, an denen der Herr zeigt, daß alle, die zum Heil gelangen, ohne ihr Zutun von ihm erwählt wurden, da er der Bildner und Schöpfer der Welt ist und alle Völker sein sind. Darum lehrt uns diese Aussage ein Doppeltes: es liegt nicht an Gottes Ohnmacht, daß nicht alle dem Evangelium Gehorsam leisten, denn es ist ihm ein leichtes, alle Geschöpfe seiner Herrschaft zu unterwerfen; zum andern erkennen wir, daß es auf Grund seiner freien Erwählung geschieht, wenn die einen zum Glauben kommen, die andern aber taub und verschlossen bleiben; denn indem er die einen zu sich zieht und dabei an den andern vorübergeht, vollzieht er allein diese Scheidung zwischen den Menschen, die von Natur aus alle gleich beschaffen sind. Wenn er sich aber die Geringen eher erwählt als die Weisen, so tut er das um seiner Herrlichkeit willen. Denn wie sich das Fleisch nur allzu begierig zum Hochmut versteigen würde, wenn die scharfsinnigen und gelehrten Menschen den Vorrang hätten, so würde sofort jene Oberzeugung herrschen, daß man den Glauben durch menschliche Gewandtheit, durch Heiß und Gelehrsamkeit erringe. Darum kann die Barmherzigkeit Gottes nicht anders offenkundig werden, wie sie es verdient, als dadurch, daß eine solche Auswahl stattgefunden hat, und es wird daraus klar, daß es nichts mit dem ist, was die Menschen von sich aus dazutun. Deshalb wird die menschliche Weisheit mit Recht aus ihrer Stellung verdrängt, damit sie das Lob der göttlichen Herrlichkeit nicht verdunkeln möchte. Man fragt jedoch, wer nun bei Christus „weise“ und wer „klein“ heißt. Denn die Erfahrung lehrt doch offensichtlich, daß nicht alle Einfältigen und Ungebildeten zum Glauben erleuchtet werden und nicht alle Klugen und Gebildeten in ihrer Blindheit verbleiben. Deshalb bestimmt man die Klugen und Weisen als solche, die, von teuflischem Hochmut strotzend, sich weigern, Christus anzuhören, der aus der Höhe zu ihnen spricht. Doch ist dies gar nicht einmal durchgängig, daß von Gott verworfen wird, wer sich mehr gefällt als ihm zukommt; das erkennen wir am Beispiel des Paulus, dessen Trotz Christus gebrochen hat. Wenn wir aber an das ungebildete Volk denken, wie die Bosheit der meisten von ihnen zum Himmel schreit, so sehen wir sie ohne Unterschied zusammen mit den Edlen und Großen an ihrem Verderben hängenbleiben. Ich gebe zwar zu, daß alle Ungläubigen einem falschen Selbstvertrauen huldigen, sei es, daß sie ihr Herz an die Weisheit, an ihren guten Ruf, an Ehrenstellungen und ihren Reichtum hängen; ich meine jedoch, daß Christus hier einfach alle die darunter versteht, deren Stärke die Begabung und Gelehrsamkeit ist, ohne das als Fehler zu bezeichnen, wie er auf der anderen Seite es nicht für eine Tugend hält, wenn jemand ein Geringer ist. Denn wenn Christus auch der Meister der Niedrigen ist und dies als der erste Grundsatz des Glaubens gilt, damit sich nicht einer weise dünke, so handelt es sich hier doch nicht um ein Geringsein, zu dem wir uns freiwillig bequemen, sondern Christus steigert die Herrlichkeit des Vaters unter diesem Blickwinkel, daß er sich nicht zu gut war, bis in den tiefsten Schmutz hinabzusteigen, um die Armen aus dem Kot heraus aufzurichten. Aber hier taucht die Frage auf: Wenn die Klugheit eine Gabe Gottes ist, wie geht es an, daß gerade sie uns zum Hindernis wird, Gottes Licht zu erkennen, das im Evangelium aufstrahlt? Wir müssen uns an das erinnern, was ich schon gesagt habe, daß die Ungläubigen alles, was ihnen an Klugheit gegeben ist, verderben und ihnen darum ihre trefflichen Begabungen oft zum Hindernis werden, weil sie sich nicht dazu herablassen können, etwas bereitwillig anzunehmen. Aber was die vorliegende Stelle betrifft, lautet meine Antwort so: Obwohl der Scharfsinn (an sich) den Klugen nichts in den Weg stellt, so kann ihnen doch das Licht des Evangeliums verlorengehen. Denn wo alle in der gleichen bzw. unterschiedslosen Lage sind, warum darf Gott nach seinem Wohlgefallen nicht die einen oder die anderen annehmen? Warum er jedoch den Weisen und Großen den Vorrang abspricht, das zeigt Paulus in 1. Kor. 1, 27, daß Gott nämlich erwählte, was schwach und töricht vor der Welt ist, um den Ruhm des Fleisches zunichte zu machen. Im übrigen schließen wir daraus auch, daß Christus nicht allgemein spricht, wenn er sagt, die Geheimnisse des Evangeliums seien vor den Weisen verborgen. Denn wenn von fünf Weisen vier das Evangelium verachten, einer es aber annimmt, und von ebenso vielen Einfältigen zwei oder drei Christi Jünger werden, so beweist der Satz bereits seine Richtigkeit. Das erhärtet auch jene Stelle bei Paulus, die ich oben angeführt habe, denn es werden nicht alle Weisen und Edlen und Mächtigen vom Reich Gottes ausgeschlossen, sondern er macht nur darauf aufmerksam, daß es nicht viele sind (die hineinkommen). Nun ist die Frage gelöst: Nicht die Klugheit wird hier verurteilt, insofern sie Gottes Gabe ist, sondern Christus erklärt lediglich, sie sei ohne Belang, wenn es gelte, zum Glauben zu kommen; wie er auf der anderen Seite nicht die Unwissenheit lobt, als ob sie Gott geneigt mache, sondern nur bestreitet, daß sie für seine Barmherzigkeit ein Hindernis sei, auch einfache, ungebildete Menschen mit der himmlischen Weisheit zu erleuchten. Nun bleibt noch zu sagen übrig, was offenbaren und verbergen bedeutet. Christus spricht nicht von der äußeren Verkündigung; das ersieht man deutlich daraus, daß er allen ohne Unterschied als Lehrer begegnete und daß er seinen Aposteln den gleichen Auftrag gab. Deshalb ist die Meinung, daß niemand durch eigenen Scharfsinn, sondern nur durch die geheime Erleuchtung des Geistes den Glauben erlangt.
Matth. 11, 26. „Ja, Vater.“ Dieser Schlußsatz entzieht der ungezügelten Lust zum Fragenstellen, die uns zuweilen kitzelt, den Boden. Denn nichts entwindet Gott uns schwerer, als daß wir seinen Willen als höchste Weisheit und Gerechtigkeit anerkennen. Er schärft uns an vielen Stellen ein, daß sein Ratschluß ein tiefer Abgrund ist; wir jedoch wollen in ihn hinabtauchen und im Sturm in ihn eindringen, und wenn sich uns etwas nicht erschließt, dann knirschen wir gegen ihn mit den Zähnen oder murren. Viele lassen sich auch zu offener Schmähung hinreißen. Da schreibt uns der Herr nun dies als Regel vor: Wir sollen fest vertrauen, daß alles, was Gott gefällt, das Rechte ist. Denn erst das heißt, auf nüchterne Art weise sein, wenn wir den einen Beschluß Gottes an Stelle von tausend Vernunftgründen gutheißen. Christus hätte sicherlich Gründe für die Unterscheidung anführen können, wenn es welche gäbe; aber da er sich in den Willen Gottes fügt, forscht er nicht weiter nach, warum er die Geringen lieber zum Heil ruft als andere und sich sein Reich aus einem unbekannten Schwärm errichtet. Es geht daraus hervor, daß es Auflehnung gegen Christus bedeutet, wenn Menschen, wo sie doch hören, daß nach dem Wohlgefallen Gottes die einen unverdientermaßen erwählt und die andern verworfen werden, dagegen aufbegehren, weil es ihnen unbequem ist, sich Gott zu fügen.
Matth. 11, 27. „Alle Dinge sind mir übergeben.“ Die Ausleger verknüpfen in verkehrter Weise diesen Satz mit dem vorangehenden, wenn sie meinen, Christus wolle die Zuversicht der Jünger mehren und sie dadurch bestärken, das Evangelium zu verkündigen. Ich bin dagegen der Meinung, daß Christus aus einem andern Grund und mit einem andern Ziel so gesprochen hat. Denn wie er vorher klargemacht hat, daß sich die Gemeinde aus dem verborgenen Quell der unverdienten Erwählung Gottes herleite, so zeigt er jetzt, auf welchem Weg die Gnade des Heils zu den Menschen gelangt. Denn viele geraten, sobald sie hören, daß nur die das ewige Leben ererben, die Gott vor Grundlegung der Welt dazu erwählt hat, in ängstliches Fragen, an welchem Zeichen sie denn des geheimen Beschlusses Gottes sicher sein könnten. So stürzen sie sich in ein Labyrinth, für das sie keinen Ausgang mehr finden. Christus dagegen heißt uns geradewegs auf ihn zugehen, um bei ihm die Gewißheit des Heils zu suchen. Der Sinn ist demnach, daß uns eben in Christus das Leben zugänglich geworden ist und deshalb niemand seiner teilhaftig wird, der nicht durch die Tür des Glaubens dahin eingeht. Wir verstehen jetzt, daß er den Glauben mit der ewigen Erwählung Gottes verbindet, die die Menschen in törichter und verkehrter Weise gleichsam in Gegensatz zueinander bringen. Denn wenn unser Heil auch immer bei Gott verborgen war, so ist Christus doch die Rinne, durch die es uns zufloß, und im Glauben wird es von uns empfangen, damit es in unseren Herzen fest und gültig werde. Darum dürfen wir unsere Orientierung nirgends sonst als an Christus suchen, es sei denn, wir wollen das Heil zurückweisen, das uns dargeboten wird.
„Niemand kennt den Sohn.“ Dies sagt er darum, daß seine Majestät nicht fälschlich nach dem Urteil der Menschen eingeschätzt wird. Der Sinn ist also, daß wir uns auf das Zeugnis des Vaters verlassen müssen, um zu erfahren, wer Christus ist. Der Vater allein kann uns richtig und zuverlässig angeben, was er ihm übertragen hat. Und wenn wir ihn uns so vorstellen, wie wir ihn nach dem Maßstab unseres Verstandes begreifen können, dann berauben wir ihn auf jeden Fall eines großen Teiles seiner Macht. Darum erkennen wir ihn auf rechte Weise nur durch das Wort des Vaters, obgleich nun auch das Wort wieder nicht ausreicht ohne die Weisung des Geistes. Denn die Macht Christi ist erhabener und tiefer verborgen, als daß die Menschen in sie eindringen könnten, bevor sie vom Vater dazu erleuchtet sind. Darum sollen wir begreifen, daß der Vater nicht für sich erkennt, sondern für uns, damit er ihn uns offenbart. Dennoch scheint die Ausführung nicht vollkommen zu sein, da sich die beiden Satzglieder nicht entsprechen. Vom Sohn heißt es, niemand erkenne den Vater außer ihm und dem er es habe offenbaren wollen. Vom Vater heißt es nur, daß er allein den Sohn kenne; von einer Offenbarung ist keine Rede. Meine Antwort darauf ist, daß eine Wiederholung dessen, was er bereits gesagt hatte, überflüssig war. Denn was sonst drückt die vorangegangene Danksagung aus, als daß der Vater den Sohn offenbar gemacht hat vor den Menschen, für die er es so gewollt hatte? Wenn nun also hinzugefügt wird, er allein kenne den Sohn, so ist das aus der Rückschau gleichsam eine Begründung des Behaupteten. Denn es konnte sich die Überlegung einschleichen, warum der Vater denn den Sohn erst offenbar machen mußte, wo er doch öffentlich auftrat, so daß man ihn genau in Augenschein nahm. Wir begreifen jetzt, aus welchem Anlaß gesagt wird, der Sohn werde allein vom Vater erkannt. Nun bleibt das zweite Satzglied zu bedenken: „Niemand kennt den Vater denn nur der Sohn ...“ Dieses Erkennen ist nun ganz anders als das eben besprochene. Denn es heißt nicht, daß der Sohn den Vater kenne, weil er ihn mit seinem Geist offenbar macht, sondern weil er ihn, insofern er sein lebendiges Ebenbild ist, gleichsam in seiner Person sichtbar darstellt. Ich schließe dabei den Geist nun nicht aus, aber ich beziehe die Offenbarung, um die es sich hier handelt, auf die Art und Weise der Erkenntnis. Und so schließt sich die Rede vorzüglich zu einem Zusammenhang. Denn Christus erhärtet, was er vorher gesagt hat, es sei ihm alles von seinem Vater übergeben, damit wir erkennen, daß in ihm die Fülle der Gottheit wohnt. Das ganze Stück will darauf hinaus, daß es eine Gabe des Vaters sei, wenn man den Sohn erkennt, weil er uns mit seinem Geist die Augen des Verstandes öffnet, damit uns durch sie die Herrlichkeit Christi aufgeht, die uns sonst verborgen wäre. Der Vater aber, der in einem Licht wohnt, da niemand zukommen kann, und der in sich unfaßbar ist, wird uns vom Sohn offenbart, der sein lebendiges Ebenbild ist, so daß man anderwärts vergeblich nach ihm sucht.
Matth. 11, 28. „Kommet her zu mir alle.“ Nun lädt er in gütiger Weise zu sich ein, von denen er weiß, daß sie taugliche Jünger werden würden. Denn obwohl er bereit ist, den Vater allen offenbar zu machen, so hält es doch ein gut Teil darum nicht für nötig zu kommen, weil ihm das Gespür für seine Notlage fehlt. Um Christus kümmern sich nicht die Heuchler, weil sie von der eigenen Gerechtigkeit gesättigt sind und nicht nach seiner Gnade hungern und dürsten. Und die der Welt zugetan sind, denen bedeutet das himmlische Leben rein nichts. Deshalb ruft Christus beide Gruppen von Menschen vergeblich zu sich. Er wendet sich darum an die Elenden und Bedrängten. Dabei nennt er nun die mühselig, die unter einer Last seufzen. Er meint nicht allgemein jeden, der von Leid und Drangsal bedrückt wird, sondern alle die Menschen, die durch ihre Sünden in Verwirrung geraten und aus Furcht vor dem Zorn Gottes mutlos gemacht sind und unter einer solchen Last leiden. Zwar demütigt Gott seine Erwählten auf unterschiedliche Weisen; aber da die meisten von Unglück Betroffenen trotzdem eigensinnig und trotzig bleiben, so meint Christus mit „Mühseligen und Beladenen“ solche Menschen, deren Gewissen angefochten ist, weil sie sich des ewigen Todes schuldig wissen; so setzt ihnen ihr Unglück innerlich hart zu, und sie werden dabei mutlos. Aber gerade diese Mutlosigkeit macht uns empfänglich, seine Gnade anzunehmen. Es ist wirklich so, als ob er gesagt hätte, seine Gnade werde deshalb von dem Großteil verachtet, weil nur wenige ihre Not überhaupt spüren. Es geht jedoch nicht an, daß ihr Stolz oder ihre Gleichgültigkeit die bedrängten Herzen zurückhält, die sich nach dem Heilmittel sehnen. Darum wollen wir ruhig alle die gewähren lassen, die die Gaukeleien Satans behexen oder die für sich überzeugt sind, sie hätten die Gerechtigkeit außerhalb von Christus, oder auch meinen, sie seien in dieser Welt glücklich. Uns treibt unsere Not dazu, Christus aufzusuchen. Und da Christus nur die in den Genuß seines Friedens kommen läßt, die unter der Last ermatten, sollen wir lernen, daß es kein verderblicheres Gift gibt als jene Gleichgültigkeit, die in uns den falschen und trügenden Wahn von der irdischen Glückseligkeit oder der eigenen Gerechtigkeit und dem eigenen Verdienst heraufbeschwört. Darum soll sich jeder von uns unaufhörlich wachhalten und eifrig darauf bedacht sein, einmal die Verlockungen der Welt von sich abzuschütteln, und zum andern jegliches falsche Selbstvertrauen abzustreifen. Obwohl übrigens diese Vorbereitung auf den Empfang der Gnade die Menschen völlig entmutigt, ist doch zu beachten, daß sie ein Geschenk des Heiligen Geistes darstellt, da sie der Anfang der Buße ist, nach der es niemanden aus eigenem Antrieb verlangt. Natürlich wollte Christus nicht lehren, was der Mensch von sich aus könne, sondern er wollte nur zeigen, wie die gesinnt sein müßten, die zu ihm kommen. Wer die Mühsal und Last, von denen Christus spricht, auf die Zeremonien des Gesetzes beschränkt, gibt der Aussage Christi einen allzu kleinen Geltungsbereich. Ich gebe zwar zu, daß die Last des Gesetzes unerträglich war und die Herzen erdrückte. Aber wir müssen uns doch daran erinnern, was ich schon gesagt habe, daß nämlich Christus allen Bedrängten die Hand reicht, um zwischen den Jüngern und den Verächtern des Evangeliums eine Trennungslinie zu ziehen. Die allgemeine Partikel „alle" ist beachtenswert: danach nimmt Christus nämlich alle, die mühselig und beladen sind, ausnahmslos an, damit nicht ein falscher Zweifel einem den Weg verstelle. Und dennoch sind diese „alle" nur gering an Zahl, weil aus der zahllosen Masse der ins Verderben Laufenden nur wenige merken, daß sie verlorengehen. Die Erquickung, die er verspricht, besteht in der unverdienten Vergebung der Sünden, die allein uns zum Frieden zu bringen vermag.
Matth. 11, 29. „Nehmet auf euch mein Joch.“ Da wir viele beim Mißbrauch der Gnade Christi beobachten, wie sie sie in die Nachsicht gegen das Fleisch verkehren, macht Christus, nachdem er den erbärmlich belasteten Gewissen eine heitere Ruhe versprochen hat, zugleich darauf aufmerksam, er sei der Befreier nur unter der Bedingung, daß man sein Joch auf sich nehme. Er wollte also sagen, er vergebe ihnen die Sünden nicht dazu, daß sie, nachdem Gott mit ihnen versöhnt sei, daraus sich die Freiheit zum Sündigen anmaßten, sondern dazu, daß sie, die sie durch die Gnade aufgerichtet wurden, zugleich auch sein Joch auf sich nehmen und als solche, die nach dem Geist frei sind, auch den Mutwillen ihres Fleisches in Fesseln schlagen. Daraus ergibt sich das Verständnis jener Ruhe, von der er gesprochen hatte: denn Christus entnimmt seine Jünger in keiner Weise dem Kriegsdienst unter dem Kreuz, damit sie ein bequemes, genußreiches Leben führen, sondern er übt sie unter der Last der Zucht und zügelt sie unter seinem Joch.
„Lernet von mir.“ Meiner Meinung nach täuscht sich, wer meint, Christus führe hier seine Sanftmut an, damit die Jünger nicht angesichts seiner göttlichen Herrlichkeit die Flucht ergreifen (wie ein Auftritt der Mächtigen einen in Schrecken zu versetzen pflegt). Denn er leitet uns vielmehr dazu an, es ihm gleichzutun, weil uns nach dem Starrsinn unseres Fleisches sein Joch hart und beschwerlich dünkt und wir es darum fliehen. Er sagt ein wenig später, sein Joch sei sanft. Woher sonst kommt das nun, daß einer gern und ruhig seinen Nacken beugt, als einzig daher, daß er sich in die Sanftmut Christi gekleidet hat und ihm gleich wird? Da Jesus seine Jünger ermahnt, sein Joch auf sich zu nehmen, bestätigt sich diese Bedeutung der Worte. Denn damit sie die Beschwernis nicht erschrecke, fügt er anschließend hinzu: „Lernet von mir.“ Dadurch deutet er an, daß uns jenes Joch nicht zur Last werden wird, sobald wir uns nach seinem Beispiel an Milde und Sanftmut gewöhnt haben werden. Genau das sagt auch die Zufügung: „So werdet ihr Ruhe finden.“ Denn solange unser Fleisch sich widersetzt, begehren wir auf; und die das Joch Christi von sich weisen, versuchen Gott auf andere Weise zu versöhnen, doch sie mühen und schinden sich vergeblich. Genauso beobachten wir, wie die Papisten sich erbärmlich martern und die grausame Tyrannei, unter der sie sich quälen lassen, schweigend ertragen, damit sie nicht unter das Joch Christi müssen.
Aus: Otto Weber, Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift. Zwölfter Band: Die Evangelienharmonie 1. Teil, Neukirchener Verlag, 1966, S. 339ff.
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