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Kinder in der Bibel I: Kain und Abel
Predigt über 1. Mose 4, 1-16 von Martin Filitz, Halle
Und der Mensch erkannte Eva, seine Frau, und sie wurde schwanger und gebar Kain, und sie sprach: Ich habe einen Sohn bekommen mit Hilfe des HERRN.
Und sie gebar wieder, Abel, seinen Bruder. Abel wurde Schafhirt, und Kain wurde Ackerbauer.
Nach geraumer Zeit aber brachte Kain dem HERRN von den Früchten des Ackers ein Opfer dar. Und auch Abel brachte ein Opfer dar von den Erstlingen seiner Schafe und von ihrem Fett. Und der HERR sah auf Abel und sein Opfer, aber auf Kain und sein Opfer sah er nicht. Da wurde Kain sehr zornig, und sein Blick senkte sich. Der HERR aber sprach zu Kain: Warum bist du zornig, und warum ist dein Blick gesenkt? Ist es nicht so: Wenn du gut handelst, kannst du frei aufblicken. Wenn du aber nicht gut handelst, lauert die Sünde an der Tür, und nach dir steht ihre Begier, du aber sollst Herr werden über sie. Darauf redete Kain mit seinem Bruder Abel. Und als sie auf dem Feld waren, erhob sich Kain gegen seinen Bruder Abel und schlug ihn tot. Da sprach der HERR zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiss es nicht. Bin ich denn der Hüter meines Bruders?
Er aber sprach: Was hast du getan! Horch, das Blut deines Bruders schreit zu mir vom Ackerboden. Und nun — verflucht bist du, verbannt vom Ackerboden, der seinen Mund aufgesperrt hat, um aus deiner Hand das Blut deines Bruders aufzunehmen. Wenn du den Ackerboden bebaust, soll er dir fortan keinen Ertrag mehr geben. Rastlos und heimatlos sollst du auf Erden sein. Da sprach Kain zum HERRN: Meine Strafe ist zu gross, als dass ich sie tragen könnte. Sieh, du hast mich heute vom Ackerboden vertrieben, und vor dir muss ich mich verbergen. Rastlos und heimatlos muss ich sein auf Erden, und jeder, der mich trifft, kann mich erschlagen. Der HERR aber sprach zu ihm: Fürwahr, wer immer Kain erschlägt, soll siebenfach der Rache verfallen. Und der HERR versah Kain mit einem Zeichen, damit ihn nicht erschlage, wer auf ihn träfe. So ging Kain weg vom HERRN, und er liess sich nieder im Lande Nod, östlich von Eden.
1. Mose 4, 1-16
Liebe Gemeinde,
was die Eltern in den Sand gesetzt haben, das müssen die Kinder ausbaden. Die Eltern wurden aus Eden vertrieben, und die Kinder müssen es büßen. Eden ist verloren – für alle Zeit. Die Bedingungen haben sich grundlegend geändert. Paradies ist nicht mehr. Und eigentlich sind die Kinder wirklich nicht Schuld daran. Sie selber wissen schon gar nicht mehr, wie es in Eden war, als alle ihr Auskommen hatten, als Mensch und Natur noch eine Einheit waren, als man nur die Hand ausstrecken musste, um alles zu bekommen, was man zum Leben braucht. Der Mutter reichte das nicht, und der Vater hat mitgemacht: die verbotene Frucht, die einzige Einschränkung, die es von Gott her gab. Und wenn die Kinder ehrlich wären, würden sie erkennen: auch wir hätten von der verbotenen Frucht gegessen. Das Verbotene reizt. Gesetzte Grenzen überschreiten. Das ist das Geheimnis alles menschlichen Fortschritts. Wären die Eltern immer brav bei den erlaubten Früchten geblieben, die Kinder hätten die Last der Vertreibung aus Eden nicht tragen müssen. Es ist so: was Eltern tun, das hat Auswirkungen auf die Kinder: wir wissen das. Eine Mutter, die Alkohol trinkt, schädigt ihr ungeborenes Kind, eine Mutter, die raucht, tut es auch. Was das Verhalten der Väter für ihre ungeborenen Kinder bedeutet, ist nicht erforscht. Vermutlich tragen sie auch ihr Teil dazu bei, dass das Kind bereits belastet auf die Welt kommt.
Kain und Abel sind belastet. Sie werden jenseits von Eden geboren: unter Schmerzen der Mutter, wie es der biblische Erzähler sagt. Adam und Eva spüren den verlorenen Garten Eden in jeder Beziehung. Aber Jammern hilft nicht. Wir leben jenseits von Eden, und wir haben uns darauf einzustellen, dass wir nicht mehr im Paradies leben. Wir wissen, dass wir für unser Auskommen Einkommen zu erwirtschaften haben. Wir wissen, dass die sprichwörtlichen „gebratenen Tauben“ nur den allerwenigsten ins maul fliegen. Wer leben will, muss arbeiten – trotz der wenigen, die von der Dividende ihrer Aktien leben können. Trotz derer, die von dem leben, was andere erarbeitet haben. Wer leben will, muss arbeiten. Kain arbeitet. Abel arbeitet auch. Mit Landwirtschaft beginnt das Leben jenseits von Eden. Der Boden ist fruchtbar, aber er ist es nur dann, wenn er auch entsprechend behandelt wird. Die Aufzucht und das Halten von Vieh wird Gewinn abwerfen. Aber das wird es nur, wenn das Vieh entsprechend geweidet wird, wenn man den Geheimnissen der Zucht und der Vererbung auf die Spur kommt. Ackerbau und Viehzucht sichern die Grundformen des Lebens. Niemand kann sagen, was wichtiger ist. Niemand kann entweder dem Ackerbau oder der Viehzucht die bestimmende Rolle zuschreiben. Beide sind wichtig. Kain und Abel teilen sich die notwendige Arbeit, die ihrer und ihrer Nachkommen Auskommen sichern wird.
Und es kann auch keine Rede davon sein, dass sie ihre Arbeit gottvergessen getan haben. Kain und Abel sind fromm. Sie bauen einen Altar und opfern Gott: jeder das, was er hat: Kain die Feldfrüchte, Abel ein Tier. Warum Abels Opfer besser sein soll als Kains? Ich weiß es nicht! In meiner alten Kinderbibel sah man zwei Altäre. Von dem einen stieg der Rauch senkrecht in die Höhe, bei dem anderen verwirbelte er. Kein Wort davon, warum die Brüder ein unterschiedliches Verhältnis zu Gott haben. Kein Wort davon, dass der eine moralisch sauberer war als der andere. Auch keine Rede davon, dass Abel frömmer gewesen sei als Kain. Wir hätten es gerne, das da irgendetwas gewesen wäre, von dem man sagen könnte: Siehst du, Kain ist doch selber Schuld, dass sein Opfer nicht angenommen wird. Der Biblische Erzähler weiß das nicht, und – was besonders bemerkenswert ist – er sucht auch keine Erklärungen für das Unerklärliche. Die Katastrophe vor der Insel Giglio im Mittelmeer bleibt furchtbar für die, die sie miterlebt haben und besonders für die Angehörigen der Opfer. Und da nützt es überhaupt nichts, dass der Kapitän Schuld daran ist, dass er es zu verantworten hat, dass das Schiff auf Grund gelaufen ist und dass er iel zu spät den Befehl gegeben hat, das Schiff zu verlassen. Nichts nützt das den betroffenen, wenn sie erfahren, wie die letzten Minuten auf der Brücke des Schiffs gewesen sind, bevor das Schiff auf den Felsen auffuhr.
Man kann Schuld nicht gegen Leid aufrechnen. Die Rache, die angeblich ja so süß sein soll, wirkt schal, wenn man spürt, dass sie das Verlorene auch nicht wiederbringt und keiner der Toten dadurch wieder lebendig wird, dass ein italienisches Gericht den Kapitän der Costa Concordia verurteilt.
Kain spürt die Ablehnung, die sein Opfer erfährt. Manche meinen, das sei der alte Streit zwischen Viehzüchtern und Ackerbauern, der in der Geschichte von Kain und Abel ihren Niederschlag gefunden hat. Es mag sein, dass das ein Motiv ist. Aber es ist bei weitem nicht das Einzige. Kain sieht nach unten. Er nimmt die Welt nicht mehr wahr, sondern nur noch sich selbst, seine Wut, seinen Zorn. Gott redet mit ihm: freundlich. Er spricht ihn an auf die Wut, die in ihm ist, und dass die Wut ihn daran hindert, frei und offen der Welt gegenüber zu treten. Wenn er sich aber von seinem Zorn beherrschen lässt, dann ist auch die Böse Tat nicht mehr weit.
Der gesengte Blick erkennt auch den Bruder nicht mehr. Wer nach unten sieht, der erkennt bestenfalls noch die eignen Füße, aber nicht mehr den Neben-Menschen, die Ehefrau, das Kind. Kain kennt keine Verwandten mehr. Er ist nur noch mit sich selbst beschäftigt und dem, was in ihm hochkocht. So geht er zu seinem Bruder Abel aufs Feld.
Eigentlich ist das neben der Spur. Wenn Kain sich von Gott nicht angenommen fühlt, dann wird er Gott dafür verantwortlich machen – sollte man meinen. Er wird zornig sein wie Hiob oder wie die Menschen, die die Klagepsalmen herausgeschrien haben. Ob er sich nicht traut, Gott anzuklagen: „Warum nimmst du das Opfer des Schafhirten an und meines nicht? Bin ich dir nichts wert? Hast du mich nur geschaffen, um mich zu verderben?
Der biblische Erzähler weiß nichts davon, dass Kain seine anklagenden Fragen dort stellt, wo sie hin gehören, und wo sie auch Gehör finden können.
Kain geht zu seinem Bruder. Seine Wut lenkt sich auf ihn. Er ist Schuld! Nein, er muss einfach Schuld sein! Zwei Brüder auf derselben Welt sin einer zu viel. Für Abel – sein Name bedeutet „Hauch“ oder „Lüftchen“, und da Namen in der Bibel häufig mit dem zu tun haben, wie ein Mensch ist, wie er sich gibt und verhält, kann man sich en Abel vorstellen: Nachgeborener Sohn, Liebling der Mutter, ein Kind, das keiner Fliege etwas zu Leide tun kann, ein netter Kerl, aber im Grunde doch harmlos. Richtig zupacken kann er auch nicht. Braucht er ja auch nicht, wenn er mit seinen Tieren auf der Weide ist.
Zwei sind einer zu viel: auch wenn die Erde allen Platz hat, den man sich vorstellen kann. Das ist ein Gefühl, ein Denken, das mit Kain leider nicht ausgestorben ist: Zwei sind einer zu viel. Inländer ja – Ausländer nein! Vor 80 Jahren nannte man das „Volk ohne Raum“ – so der Titel eines damals viel gelesenen Buches von Hans Grimm: am Ende lag Europa in Schutt und Asche 50-70 Millionen Tote blieben zurück. Und der Grund: Deutsche und Juden können nicht auf einem Planeten leben. Kommunisten und Demokraten können nicht auf einem Planeten leben. Schwarze und Weiße können nicht auf ein und derselben Erde leben. Einen wirklichen Grund muss es gar nicht geben. In der Familie fängt das an. Und niemand sollte sich darüber wundern, dass Erwachsene Menschen nicht dazu in der Lage sind, Frieden zu halten und den anderen Menschen einfach so gelten zu lassen, wie er ist, und wenn der Rauch seines Opfers vielleicht senkrecht nach oben steigt und meiner nicht.
Was mit der verbotenen Frucht angefangen hat, das setzt sich in der nächsten Generation als Brudermord fort. Die Trennung von Gott bedeutet über kurz oder lang auch die Trennung von den nächsten Menschen. So ist die Geschichte von Kain und Abel eben kein Märchen aus vergangenen Tagen. Sie sagt, wie es ist – ohne Illusionen. Und sie sagt, wie es schon immer gewesen ist. Seit die Menschen sich von Gott getrennt haben, ist auch ihre Welt in Unordnung geraten, hat der Bruder den Bruder erschlagen, weil er ihn neben sich nicht ertragen konnte.
Viele gibt es, die wollen das so nicht gelten lassen. Sie halten es eben doch für ein ausgemachtes Märchen, dass der Mensch von Grund auf schlecht sein soll. „Das haben sich sauertöpfische Theologen ausgedacht“, sagen sie „wenn man den Menschen ein ständig schlechtes Gewissen einredet, dann hat man Macht über sie, vor allem dann, wenn man das Heilmittel gegen die Sünde anbietet und vielleicht sogar gewinnbringend verkauft. “Wir wären gut –anstatt so roh – nur die Verhältnisse, sie sind nicht so.“ (Bertold Brecht, Dreigroschenoper).
Und wenn man darauf setzt, dass es nur die Verhältnisse sind, die einen Menschen schlecht machen und verderben, dann muss man eben die Verhältnisse ändern und alles ist gut. Dann hätte es ja gut gehen müssen, bei den vielen Versuchen, die Verhältnisse des Menschen so zu gestalten, dass er seine Güte ungehemmt entfalten kann. Es hätte klappen müssen, dass die Täufer in Münster das sichtbare Reich Gottes aufrichteten: Jan van Leiden, Bernd Krechting und Bernd Knipperdolling hatten die besten Absichten. Und es wurde ein Terrorregime, das die umliegenden Landesherren mit Gewalt beendeten. Am 22. Januar 1536 wurden die drei Anführer der Täufer zu Tode gefoltert und ihre Leichen wurden am Turm der Lambertikirche in Käfigen ausgestellt.
Es hätte klappen müssen, wenn die Pilgerväter in der Neuen Welt ein neues Leben anfangen wollten, ungebunden von den Knechtschaften im alten Europa durch die Kirche und Adel die Unterdrückung geringfügig Andersdenkender betrieben. Die Pilgerväter, die mit der Mayflower in Amerika anlandeten, waren fromm und hatten die besten Absichten. Es hätte klappen müssen mit diesem frommen, neuen Leben in Amerika. Aber davon, dass die Verbrechensrate in den USA jemals deutlich niedriger gewesen wäre als bei uns, davon hat man noch nichts gehört.
Und schließlich das sozialistische Experiment. Es gibt eine Karikatur, auf der Karl Marx zu sehen ist mit der Bildunterschrift: Entschuldigung, Jungens, das war nur so eine Idee von mir. Damit ist alles gesagt:
Die Verhältnisse prägen die Menschen, aber sie bestimmen ihn nicht. Der Mensch hat sich von Gott getrennt, und in der Folge bedeutete das auch die Trennung von seinen nahen Menschen, auch wenn es Menschen der eigenen Familie sin.
Man sollte meinen, dass Kain nun keine Chance mehr hat. Einmal Mörder, immer Mörder. Sich selbst kann er den Mord an seinem Bruder nicht vergeben und die Eltern werden den Tod ihres Erstgeborenen auch nicht einfach so hinnehmen. Bleibt nur das Gerichtsverfahren oder die Flucht, „Unstet und flüchtig sollst du sein auf der Erde“ die Tat verfolgt ihn. Und sie wird ihn verfolgen. Kain bekommt es mit der Angst.
Aber Gott bleibt seinem Geschöpf treu. Das Kainszeichen ist ein Schutzzeichen. Der Verbrecher darf am Leben bleiben und niemand soll es wagen, ihn anzutasten. Es gehört zu Gottes Gerechtigkeit, dass er auf die Durchsetzung seines Rechtes gegen sein Geschöpf verzichtet. Selbst der Mörder kann vor Gott neu anfangen. Ein neues Leben in einem neuen Land – jenseits von Eden. Das ist eine reelle Chance. Und wer diese Geschichte der Barmherzigkeit Gottes liest und sich zu Herzen gehen lässt, der wird vielleicht daran denken, wenn es darum geht, Menschen unterzubringen, die aus der Sicherungsverwahrung entlassen wurden. Einen neuen Anfang in einem neuen Land mit dem Schutzzeichen, das auch der Brudermörder Kain bekommen hat.
Das Recht Gottes ist Gnade. Nicht weil der Mensch so gut wäre, wohl aber darum, weil der Mensch keinen Atemzug ohne die Freundlichkeit Gottes überleben könnte. Und auch die guten Taten kommen nicht aus der Güte des Menschen. Sie kommen aus dem Herzen, wenn ein Mensch die Freundlichkeit Gottes am eigenen Leibe erlebt hat, wenn er Christus kennengelernt hat und ihm im Leben und im Sterben folgen möchte.
Amen
Abendmahlsgottesdienst am Sonntag, dem 5. Februar 2012 im Ev.-ref. Gemeindehaus der Domgemeinde Halle, Sonntag Septuagesimae
Domprediger Martin Filitz, Halle, Februar 2012
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