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Tränenflecken auf dem Pergament
Gal.4, 1-11 und 12–20 -Predigt von Dorothea Kuhrau
Abba Vater!
Unser Text, der so lang ist, dass Sie ihn bitte auf den vervielfältigten Blättern mitlesen, enthält mit diesem Ruf in der ersten Hälfte das Zentralste - - -
und in der zweiten Hälfte enthält er das angeblich Unwichtigste des Christentums.
Das Zentralste im ersten Abschnitt. Unser Gott ist einer, zu dem wir Vater sagen dürfen, ja, zutraulicher noch: Papa. Denn das ist ja der Sinn des aramäischen Abba: Kindersprache für Vater. Deshalb sind die Verse 4, 1 – 11 vorgeschlagen als Perikope für das Fest, das am meisten Hörer in die Kirche zieht, nämlich Weihnachten (auch wenn theologisch Karfreitag und Ostern wichtiger sein mögen.)
Und das Unwichtigste, Banalste in der zweiten Hälfte: Konkurrenz beim „Bodenpersonal“. Trauer und Ratlosigkeit des Seelsorgers, weil ihm Gemeindeglieder von der Stange gehen. Und weil das ein Tabu ist, einer evangelischen Kanzelrede nicht wert, ist der Abschnitt 4, 12 – 20 unter den etwa 350 kirchlich vorgeschlagenen Predigttexten nirgendwo zu finden. Sie erleben also heute mit dem Nachdenken über diese Verse vermutlich eine Premiere.
Der Brief richtet sich an die Galater. Was kann man heute mit Sicherheit über sie aussagen? Gar nicht so wenig. Die Galater entstammten demselben keltischen Volk wie unsere Freunde, die Gallier Asterix und Obelix. Im Jahre 279 v.Chr. waren Kelten, die im Donaubecken im heutigen Bulgarien siedelten, nach Süden, nach Kleinasien, und nach Westen vorgestoßen. Ihre kämpferischen Horden galten als gute Söldner und als bewährte Todesschwadronen.
Nach vielen Morden der königlichen keltischen Familien untereinander und nachdem sie den Römern oft genug geholfen hatten, wurden sie im Jahre 25 v.Chr. endgültig von den Heeren der Römer blutig bezwungen. Als Paulus zu ihnen kam, waren sie also erst 75 Jahre Teil einer römischen Provinz Galatia, eine der ödesten im Osten des großen römischen Reiches. Sie wohnten in der Gegend des heutigen Ankara, sprachen aber schon lange auch Griechisch und verehrten die griechischen Götter.
Verse Gal.4, 1 – 7:
1. Ich sage aber: Solange der Erbe unmündig ist, unterscheidet er sich in nichts von einem Sklaven, obwohl er Herr ist über alles,
2.im Gegenteil, er steht unter der Aufsicht von Vormündern und Verwaltern bis zum Termin der Mündigsprechung, den der Vater festgesetzt hat.
3. So war es auch mit uns, als wir noch unmündig waren: Unter die Elementarmächte der Welt waren wir versklavt (Erde, Wasser, Luft und Feuer).
4. Als aber die Zeit der Mündigwerdung sich erfüllt hatte, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und der Thora unterstellt,
5. um die unter dem Gesetz freizukaufen, damit wir als Söhne angenommen würden.
6. Weil ihr aber Söhne seid, hat Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen gesendet. Er ruft „Abba, Vater!“
7. So bist du nun nicht mehr Diener, sondern Sohn, bist du aber Sohn, dann auch Erbe – durch Gott.
Diesen wilden Kerlen, den Galatern, will Paulus in einem etwas umständlichen Bildwort klarmachen, dass sie seit Christus ohne Umweg zu Gott kommen können, nicht mehr von Vormündern und Aufsehern daran gehindert. Sie sind jetzt keine kleinen Kinder mehr. Sondern als Gott seinen präexistenten Sohn auf die Erde sandte, - (Weihnachten!) hat er „uns“, also Paulus ebenso wie die Galater, zu Söhnen gemacht, hat alle adoptiert.
So beginnt der Text und ich lade Sie ein, ihn schrittweise als Homilie mit mir durchzugehen.
Vers 3: Unter die Elementarmächte der Welt waren wir versklavt (Erde, Wasser, Luft und Feuer).
Als Vormünder und Hausverwalter, die die Kinder auf das Leben vorbereiteten, bezeichnet Paulus die Mächte der Welt, ihre materielle Seite. Paulus bezieht sich selbst mit ein, denn auch als frommer Jude hatte er die Elemente bei der Ausführung von religiösen Gesetzen zu respektieren: Erde und Wasser, Feuer und Luft – mindestens bestimmten sie kultische Abläufe.
Die Galater als hellenistische Griechen dienten den Mächten der Natur, bevor Paulus zu ihnen gekommen war. Die griechische Philosophie kreiste um Ideale von der richtigen Mischung aus Erde, Feuer, Luft und Wasser. Sie suchte die Harmonie im Kosmos. In der Medizin keine Extreme. Aber sie kannte auch die furcheinflößenden Götter des Feuers, des Meeres, der Erde und der Luft. Von diesen Mächten hatte Paulus die Galater befreit.
Er erzählte ihnen von Jesus, der ja authentisch in Judäa gelebt hatte, sich auf den einen Gott wie kein anderer bezog, über ihn in Gleichnissen sprach, seine Kraft erbetete, wenn er Kranke heilte. Und dass Gott ihm erlaubte, ihn Vater zu nennen, Abba, Papa. Paulus erzählt vom Gott der Juden als von einem gütigen Vater. Auch die Galater durften ihn Papa nennen.
Höchste Nähe, höchste Freude, höchste Freiheit! Warum war das für die heidnischen Galater so wichtig? Warum bissen sie überhaupt bei Paulus an? Was brachte er, das sie nicht hatten? Ich habe eine Vermutung und will das durch einen Blick auf die Reisen des Paulus belegen.
Verse 13 u. 14:
13. Ihr wisst, wie ich euch, krank am Körper, das erste Mal das Evangelium verkündet habe.
14. Da lag die Versuchung für euch in meinem kranken Körper, doch habt ihr mich nicht mit Verachtung abgewiesen noch (vor mir) ausgespuckt, vielmehr habt ihr mich wie einen Engel Gottes aufgenommen, wie Christus Jesus selbst.
Wenn Paulus im zweiten, dem „banaleren“ Teil unseres Textes, die Galater daran erinnert, wie freundlich und hilfsbereit er von ihnen als Kranker betreut wurde, spricht das für die Vermutung, dass er zuerst im Jahre 49 oder 50 unfreiwillig bei ihnen landete, um eine Krankheit zu überstehen. Vielleicht eine schwere Augenentzündung. Galatien war überhaupt nicht geplant. Paulus war auf seiner zweiten Missionsreise eigentlich in eine andere große Stadt unterwegs.
Wir wissen nicht, in welche. Er ging grundsätzlich zuerst in Großstädte, nach Ephesus, nach Philippi, nach Athen. Denn dort traf er am Freitag Abend oder am Samstag in der jüdischen Gebetsstätte seine Glaubensgenossen, denen er vom Messias Jesus berichten konnte, anknüpfend an ihre uralten Hoffnungen. Aber auch in Galatien gab es bereits einige Juden, wen sonst hätte Paulus dort als erste Anlaufstelle um Aufnahme bitten können? Zum Glück waren damals Timotheus und Silas bei ihm.
Vers 11:
Ich fürchte, meine Mühe um euch war umsonst.
Als es ihm wieder etwas besser ging, muss er auf die wilden Kerle, die heidnischen Galater gestoßen sein, die griechische Götter verehrten. Vielleicht waren es uralte Stammesgötter der Kelten, nur knapp in den hellenistischen Pantheon einverwandelt. Sie machten ihm Mühe. Aber Gott erkannte sie:
Statt blutiger Jagdgelage zu Ehren der Artemis erzählte er ihnen von Jesus, der sich selbst am Kreuz opferte. Statt Prunkmähler feierte er mit ihnen das Abendmahl. Statt kultischer Wettkämpfe wandte er sich den Kranken und Armen ihrer Gruppen zu. Statt Sklaven Auspeitschen, wie es in der Antike Tag für Tag und Stunde für Stunde geschah, verblüffte er sie durch Fußwaschen. „Einer trage des anderen Last!“
Statt stolze Herren zu ehren, wurden Kollekten erbeten für die arme Gemeinde im fernen Jerusalem. Statt siegestrunkener Kybele-Rituale saß man beisammen und Paulus erzählte, wie ihm Jesus selbst begegnet war. Und schließlich: statt selbstverständlicher und oft brutaler Über- und Unterordnung in Priester, Krieger, Männer, Jungen, Frauen, Sklavinnen eine neue Gleichheit: die Unterschiede in Sklaven und Freie, in Mann und Frau, zählten nicht mehr vor Gott. Und wohl immer weniger untereinander.
Die Mondtempel, die heiligen Wasserteiche, die Pferdeställe für die kultischen Rennen – sie alle drohten zu entbehrlichen Kulissen zu werden. Paulus lebt unter ihnen verehrt wie ein Engel, ja, wie Jesus Christus selbst. Und als er zwei Jahre später wiederkommt, 52 nach Christus, da hält die Bindung offenbar noch an. Da kann er sogar den Galatern Spartips geben, wie sie Geld systematisch zurücklegen können, als spätere Kollekte für die Christen in Jerusalem.
Vers 12:
Werdet wie ich, liebe Brüder (im Besitz der freien Sohnschaft). Ich bitte euch darum. Denn auch ich war ja frei wie ihr ward (bevor die Gesetzeslehrer kamen).
Eine Freiheit im Lebensvollzug und im Denken hat Paulus den Galatern geschenkt, wie sie immer nur für eine gewisse Zeit, nie für lange blühen kann. „Wir tanzten alle“, sagte der russische Dichter Wladimir Majakowski nach der Russischen Revolution, um die Stimmung nach dem Ende der zaristischen Diktatur 1917 zu beschreiben. Auch Deutsche tanzten , als sich die Mauer 1989 öffnete. Und dann versickerte die Freude.
Verse 12 – 20:
12. Werdet wie ich, liebe Brüder (im Besitz der freien Sohnschaft). Ich bitte euch darum. Denn auch ich war ja frei wie ihr (bevor die Gesetzeslehrer kamen).
Durch nichts habt ihr mich gekränkt:
13. Ihr wisst, wie ich euch, krank am Körper, das erste Mal das Evangelium verkündet habe.
14. Da lag die Versuchung für euch in meinem kranken Körper, doch habt ihr mich nicht mit Verachtung abgewiesen noch (vor mir) ausgespuckt, vielmehr habt ihr mich wie einen Engel Gottes aufgenommen, wie Christus Jesus selbst.
15. Der Grund, euch selig zu preisen, wo ist er nun geblieben? Ich kann euch nämlich bezeugen: Ihr hättet euch, wenn möglich, die Augen ausgerissen und sie mir gegeben!
16. Bin ich denn jetzt euer Feind geworden, weil ich euch die Wahrheit gesagt habe?
17. Es ist nicht schön, wie (die fremden Missionare) um euch werben; sie wollen euch doch nur (aus der Gnade Christi) ausschließen, damit ihr dann um sie werbt!
18. Es ist aber gut, wenn ihr im Guten umworben werdet, und zwar jederzeit, nicht nur, wenn ich bei euch bin.
19. Meine Kinder, um die ich erneut die Schmerzen einer Geburt erleide, bis Christus in euch Gestalt gewinnt.
20. Ich wollte, ich könnte jetzt bei euch sein und gäbe meiner Stimme den richtigen Ton, denn ich bin euretwegen ratlos.
Die Freude versickerte auch in den Gemeinden Galatiens. Wie konnte es dazu kommen? Was war geschehen?
Es begann wohl, als Paulus nach seinem zweiten längeren Besuch aus Galatien wieder zurück nach Ephesus reiste. Etwa im Jahre 52. Ich denke, er ließ den Gemeinden zu wenig von sich zurück. Ob Psalmgesänge? Ob eine Abendmahlsliturgie? Ob das Vaterunser? Nein, das war noch nicht überliefert. Ob ein Psalmgebet? Ob geschriebene Texte über Jesus? Vermutlich die zehn Gebote. Aber keine Hilfen jedenfalls für die Gottesdienste in ihren Ekklesiai, ihren Hausgemeinden.
Jede Religion, so haben uns die Soziologen gelehrt, besteht aus drei Elementen: aus Ethos, aus Mythos und aus Ritus. Ethos hat Paulus den Galatern vorgelebt: das neue Ethos der Opferbereitschaft und der Freiheit. Den Mythos hat er sie gelehrt von Christus, von Gott in die Welt gesandt als die Zeit erfüllt war, um der Galater Bruder zu werden und diese durch ihn auch Gottes unmittelbare Erben. Aber der Ritus fehlte. Ich denke, christlicher Ritus im Alltag, in der Familie, wenn man zusammenkam in der Ekklesia, das fehlte jetzt. Ab dem Jahre 52 fühlten sich die Galater von Paulus alleingelassen. Und damit auch von Christus.
In dieses Vakuum hinein stoßen etwa 54/55 die antipaulinischen Missionare. Denn die Furcht der Galater vor den Wirkmächten dieser Welt, den Elementen des Kosmos, war noch nicht ganz überwunden. Das haben die Gegner wohl ausgenützt. Von ihnen war ja in dieser Predigtreihe schon oft die Rede, obwohl Paulus nie ihre Namen nennt. Es sind die Missionare aus Judäa, die Paulus gerne verfolgen, wo er unter Heiden missioniert, auch nach Philippi werden sie später kommen. Wahrscheinlich Zeloten, wie Paulus selber früher einer war. Die von jedem neugetauften Heidenkind verlangten, dass es zuerst als Jude beschnitten wird.
So wie deutsche Missionare in Kamerun Anfang des 20. Jahrhunderts allen Frauen vor der Taufe voluminöse Baumwollkleider aufzwangen und europäischen Anstand von Ihnen wünschten. Wie mag es ihnen gelungen sein, die frühere Angst der Galater vor den „schwachen und armseligen Elementarmächten“ vor Wind und Wasser und Feuer neu zu entflammen? Wie konnten sie sie in ihre Heidenzeit zurückführen, um sie zu Befolgern ausgerechnet jüdischer Rituale zu machen? Eigentlich gilt doch im Schöpfungsglauben der Tora jegliche Rücksicht auf kosmische Harmonie, jegliche Beachtung von Feuer und Wassermächten als durch Jahwe überwunden.
Verse 9 und 10:
Wie könnt ihr euch wiederum den schwachen und armseligen Elementarmächten zuwenden, um ihnen von neuem dienen zu wollen? An Tage, Monate, günstige Augenblicke und Jahre haltet ihr euch!
Aber es ist ihnen gelungen. Auf dem Umweg über die Einhaltung des jüdischen Festkalenders schmuggelten die neuen Missionare die angstvolle Beachtung der kosmischen Kräfte von neuem ein. Wie es genau ging, ich kann es nur vermuten: „Hier gibt es jetzt neue Vorschriften aus dem Weltall, freu Dich, Du darfst sie befolgen! Und wehe, wenn nicht!“
Wie diese neuen Vorschriften als Kombination aus antikem Naturglauben und jüdischem Terminkalender praktisch funktioniert haben mochten?
Da mag ein Junge seit Stunden auf dem Dach des Hauses sitzen und auf den ersten Vollmondstrahl lauern, denn dann muß Päsach gefeiert werden. Das für alle neu eingeführte hohe jüdische Fest.
Da mag eine Frau plötzlich am Freitag Abend beginnen ihre Schritte zu zählen, bei Sonnenuntergang hat der Sabbat begonnen und die Erde duldet nur 288 Schritte in 24 Stunden. Sonst wird der Sabbat entheiligt und die Erde entweiht.
Schauen wir von den Männern und Frauen in Ankara kurz einmal zu uns: Noch nicht so weit weg sind für uns die angstmachenden Zulassungsrituale zum Göttlichen Erlöser: Ein Kollege meines Mannes erlebte die katholische Liturgiereform Anfang der 60er Jahre als Befreiung. Nüchtern hatte er vorher den Leib Christi empfangen müssen, das hatte er als Messdiener gelernt. Wenn er beim Zähneputzen aber versehentlich ein paar Tropfen Wasser hinuntergeschluckt hatte, bekam er eine Heidenangst. Freute sich jetzt der Teufel? Wirkte das Messopfer dann nicht?
Wir konzentrieren uns jetzt ganz auf die zweite Hälfte unseres Textes, die oben zitierten Verse 12 – 20. Paulus klagt laut. Wer erwartet vom Großen Völkerapostel ein so menschliches Bitten um Mitleid? Kommt zu mir zurück. Lasst euch nicht erneut unterdrücken! Fallt den Scharfmachern nicht zu! Ich habe euch doch nichts zuleide getan. Lauter Ich-Botschaften, die die Herzen garantiert aufschließen.
Fast alle Kommentatoren interpretieren das Werben des Paulus um die Galater dogmatisch: Die Adressaten des Briefes sollen einsehen, dass nicht Vorleistungen und Bedingungen für das Heil nötig sind, sondern das Geschenk des Vaters frei gekommen ist. Diese rationale Einsicht fehlt ihnen vielleicht gar nicht. Mir scheint es weniger um theologische Richtigkeit als um menschliche Nähe zu gehen. Die emotionale, nicht die intellektuelle Kommunikation ist abgerissen. Die Galater haben sich abgewandt, als Paulus weg war. Die neuen Missionare haben dann so strenge Forderungen gestellt wie in heidnischer Vorzeit. Und die Galater haben ihre neue Freiheit willig eingeschränkt.
Bevor Paulus davon erfährt, sind schon wieder zwei Jahre vergangen. Etwa im Jahre 56 schreibt er von Philippi aus den Galatern unseren Brief. Aber da ist es wohl schon zu spät. Es ist ein schroffer Brief. Nur der Abschnitt 4,12 – 20 rührt ans Herz.
Und damit bin ich bei dem, was mich bei diesen Versen als Gruß des Neuen Testaments an mich bewegt. Nämlich mitanzusehen, wie Paulus um die Galater kämpft, nicht als windelweicher Sentimentalo mit Angst vor Liebesverlust, sondern gefühlvoll und ehrlich und verzweifelt. Denn: „Man ist verantwortlich für das, was man sich gezähmt hat“, sagt der Fuch zum kleinen Prinzen über seine Rose: Und Paulus gibt sich mit dieser Verantwortung verdammt alle Mühe, schimpft und bettelt, klagt an und argumentiert, versucht sachlich zu bleiben und siehe da; Tränenflecken auf dem Pergament! Und dieses Persönliche ist überhaupt nicht das Banalste und Unwichtigste am Christentum.
Damit hat er sich auch auf den Weg zu mir gemacht. Der Text beschwört mich: Auch ich soll meine Freiheit nicht verspielen. Nicht in meinen privaten Ängsten und Albträumen und nicht indem ich anderen zu viel Gehör schenke, die mir sagen, wie ich es machen soll. Und so wie Jesus dem Reichen Jüngling am liebsten nachgelaufen wäre, so erlebe ich auch in diesem Brief einen Paulus, der hinter mir herläuft, mich bestürmt und im Guten umwirbt, einen ganz neuen warmherzigen Paulus: Er will auch mich von den Gesetzen befreien, die ich mir selber gebe, ich mit meinen tausend Unruhen, Wünschen und Idealvorstellungen, meinen Rücksichten auf alle, nur nicht auf die Leidenden in der Welt. Und ich soll mich auch unter die Mächte der Welt nicht versklaven. Soll auch durch sie meine von Gott geschenkte Freiheit nicht gefährden lassen. Das ist nicht leicht.
Die Elementarmächte dieses Kosmos sprechen heute vor allem drei Sprachen:
Erstens die Sprache der Sachzwänge: „Das Preis-Leistungsverhältnis hat zu stimmen“ – „einmal ist das Ende der Stange erreicht“ – „Wie sehen denn die Statistiken dazu aus?“ – „Wenn man etwas wirklich will, dann geht das auch!“ –
und zweitens zunehmend wieder die andere Sprache des Kosmos, in der die Mächte der Esoterik wirken.
Mit Energiearbeit, Pendeln, Tarotgrundkursen, Geistheilen, Gläserrücken und Wahrsagen werden heute in Deutschland mindestens 22 Millionen Euro umgesetzt. Alle berufen sich auf Götter, Geister und Naturgesetze, die uns angeblich dienen. In Wirklichkeit sollen wir ihnen dienen und die Börsen der Gurus füllen. „Ihr seid doch jetzt nicht mehr nepioi, unmündig – das ist Paulus letztes Wort dazu, auch an mich. Und schließlich ist da noch die Sprache der Naturkatastrophen. Möge Gott sich doch auch über das austretende Öl als Sieger erweisen!
Ich fasse zusammen:
Ich glaube nicht, dass es sich in dem Konflikt, auf den der Galaterbrief antwortet, gut lutherisch um einen Rechtfertigung- aus-Gnaden oder einen Rechtfertigung-aus-Werken Gegensatz handelt, der einem jüdischen oder auch einem judaistischen Denken nicht entsprechen würde. Es handelt sich vielmehr um die Suche alleingelassener neuer Christen nach einer wirksamen Weise, Gott und einander im Gottesdienst nahe zu sein.
Wenn sie zum Beispiel die koscheren Speisevorschriften befolgten, dann dachten sie nicht zuerst: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?, die Luther- und Paulus-Frage. Sondern ich vermute sie fragten: „Wie erlebe ich überhaupt Gott? Jetzt, wo Paulus uns nichts mehr von ihm erzählt. Vielleicht im Genuss der neuen Speisen? Die Windrichtung zu beachten war für sie kein unterjochendes Dienen der Elemente, sondern eher ein Gruß aus Gottes Himmeln. Auch hier ließe sich eine Brücke zu uns zeigen: Immer weniger christliche Alltagsrituale. Aber immer öfter die Frage: Wie erlebe ich überhaupt Gott? Die Mächte dieses Kosmos horcht man nach einer Antwort ab.
Ob Paulus Brief an die Galater wohl Erfolg hatte, fragen wir am Ende. Zwei bekannte Wissenschaftler des Neuen Testaments können sich nicht einigen. Jürgen Becker ist sehr skeptisch,Andreas Lindemann vermutet: ja. Denn dass der Brief überhaupt unversehrt erhalten sei bis auf unsere Tage beweise, dass die Gemeinde in ihrer Paulusverehrung noch lange bestanden habe.
Heute spielt das keine Rolle mehr, heute leben in Ankara Gotteskinder, die in anderen Ritualen anderen Halt und andere Nähe zum Höchsten suchen und schauen, wann der Mond das Ende des Ramadan ankündigt.
Amen
Antoniterkirche Köln 11.7. 2010
Im Jahr 2010 zum Brief des Paulus an die Galater
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