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Trinitatis: Joh 3,1-8 - Nikodemus
von Johannes Calvin
1 Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern mit dem Namen Nikodemus, ein Oberster unter den Juden. 2 Der kam zu Jesus bei der Nacht und sprach zu ihm: Meister, wir wissen, daß du bist ein Lehrer von Gott gekommen; denn niemand kann Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm. 3 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen. 4 Nikodemus spricht zu ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? 5 Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, daß jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. 6 Was vom Fleisch geboren wird, das ist Fleisch; und was vom Geist geboren wird, das ist Geist.
V. 1. „Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern mit Namen Nikodemus...“ In der Person des Nikodemus stellt uns jetzt der Evangelist vor Augen, wie flüchtig und hinfällig der Glaube der Leute war, die der Wunder wegen plötzlich Christus die Ehre gegeben hatten. Da Nikodemus zu den Pharisäern gehörte und zu den führenden Männern seines Volkes, hätte er hoch über den anderen stehen müssen. Im Volke herrscht ja meist Oberflächlichkeit. Wer aber hätte nicht geglaubt, daß dieser besonders gelehrte und erfahrene Mann ein ernster und beständiger Mensch sei? Und doch wird aus Christi Antwort deutlich, daß er keineswegs mit der Bereitschaft gekommen war, die Anfangsgründe der Frömmigkeit zu lernen. Wenn aber einer der Ersten unter den Erwachsenen weniger weiß als ein Kind, was kann man da vom gewöhnlichen Volk erwarten? Obwohl uns aber der Evangelist wie in einem Spiegel zeigen wollte, wie wenige wirklich in Jerusalem dazu imstande waren, das Evangelium aufzunehmen, ist diese Geschichte doch auch noch aus anderen Gründen für uns besonders wichtig; denn in ihr werden wir vor allem über die verderbte Natur des Menschengeschlechtes belehrt und darüber, wie man sich richtig in Christi Schule begibt und wie wir nach rechtem Anfang fortschreiten müssen in der himmlischen Lehre. Das Ergebnis des Gesprächs besteht darin: wir müssen neue Menschen werden, um Christi wahre Jünger zu sein. Bevor wir aber weitergehen, müssen wir aus den Umständen, die der Evangelist hier berichtet, ausführlich darlegen, welche Hindernisse Nikodemus im Wege standen, sich Christus ganz hinzugeben. Der Umstand, daß Nikodemus Pharisäer war, ehrte ihn in den Augen der Seinen; aber der Evangelist sagt das von ihm nicht um der Ehre willen; vielmehr erkennt er darin ein Hindernis, freimütig und vorurteilslos zu Christus zu kommen. So werden wir daran gemahnt, daß gerade die Großen der Welt mit den stärksten und verderblichsten Banden gefesselt sind; ja, wir sehen, viele haben sich so verstrickt, daß sie ihr ganzes Leben lang auch nicht das geringste Verlangen nach dem Himmel haben. - Die Pharisäer rühmten sich, die alleinigen Ausleger des Gesetzes zu sein, so als ob sie das tiefste Geheimnis der Heiligen Schrift kennten. Den Essenern trug zwar ihr strengerer Lebenswandel den Ruf der Heiligkeit ein, da sie wie Einsiedler sich von den allgemeinen Lebensgewohnheiten ausschlössen; aber die Sekte der Pharisäer stand doch in größerem Ansehen.
V. 2. „Der kam zu Jesus bei der Nacht ...“ Aus seinem nächtlichen Besuch erkennen wir seine allzu große Ängstlichkeit. Seine Augen waren gleichsam von seinem eigenen Glänze geblendet. Auch schämte er sich wohl, wie ehrsüchtige Menschen ja glauben, es sei um ihren Ruf geschehen, wenn sie einmal vom hohen Katheder herabsteigen und sich unter die Lernenden einreihen. Es besteht gar kein Zweifel daran, daß ihn eine törichte Überzeugung von seiner eigenen Weisheit erfüllte. Da er sich groß dünkte, wollte er sich nichts vergeben. Und doch trug er in sich ein kleines Samenkorn der Frömmigkeit; denn als er hörte, ein Prophet Gottes sei erschienen, mißachtete er diese vom Himmel gesandte Nachricht nicht, sondern ihn erfaßte ein Verlangen danach, und dieser Drang stammte nur aus seiner Ehrerbietung und Gottesfurcht. Viele kitzelt bloße Begierde, Neuigkeiten nachzugehen; aber Nikodemus trieben ohne Zweifel heilige Scheu und gewissensmäßiges Empfinden zu dem Wunsche, Christus kennenzulernen. Obwohl jenes Samenkorn lange wie tot im Verborgenen ruhte, brachte es doch nach Christi Tode Frucht, wie niemand sie je erwartet hätte. Die Worte „Meister, wir wissen, daß du bist ein Lehrer von Gott gekommen“, bedeuten soviel, als wenn er gesagt hätte: „Lehrer, wir wissen, daß du als Lehrer gekommen bist." Nun wurden damals Schriftkundige allgemein als Lehrer angeredet. Also gibt Nikodemus Christus diesen üblichen Titel zuerst als die gewöhnliche Grußanrede; darauf aber versichert er, er sei von Gott gesandt, das Lehramt auszuüben. Und hierauf gründet jedes Ansehen der Lehrer in der Kirche. Denn da wir allein aus Gottes Wort unser Wissen nehmen müssen, darf man nur auf die hören, durch deren Mund Gott redet. Obwohl bei den Juden die Religion sehr verderbt und nahezu zerstört war, muß man beachten, daß sie an dem Grundsatz immer festhielten: nur der war ein echter Lehrer, der von Gott kam. Doch da gerade die falschen Propheten sich besonders stolz und selbstsicher mit einem Auftrage von Gott brüsten, so tut hier die Kraft der Unterscheidung not, um mit ihr die Geister zu prüfen. Daher fügt Nikodemus hinzu, es stehe ganz fest, daß Christus von Gott gesandt sei; Gott offenbare ja seine Kraft in ihm so machtvoll, daß man nicht leugnen könne, er sei mit ihm. Er nimmt es also für gewiß, daß Gott durch seine Diener Wunder zu wirken pflege, um so dem Amt, das er ihnen auferlegt habe, sein Siegel aufzudrücken. Das ist keineswegs eine leere Vermutung, da nach dem Willen des Herrn Wunder immer die Bestätigung seiner Lehre waren. Mit Recht auch macht Nikodemus Gott zum einzigen Urheber der Wunder, indem er sagt, niemand könne ohne Gottes Beistand diese Zeichen tun. Das ist dasselbe wie die Versicherung, kein Mensch tue das, sondern hier herrsche und offenbare sich die Kraft Gottes. Die Frucht der Wunder ist also doppelt: einmal bereiten sie dem Glauben den Weg, zum andern stärken sie ihn, nachdem er aus Gottes Wort empfangen ist. Das erste traf für Nikodemus zu; denn er erkannte auf Grund der Wunder Christus als wahren Propheten Gottes. Doch scheint solche Erkenntnis keine hinreichende Festigkeit zu enthalten. Wenn einmal falsche Propheten unerfahrene Leute mit ihrem Trug dadurch irreführen wollen, daß sie ebensolche Wunder tun wie die, wodurch Gottes Diener sich ausweisen, wie soll man dann zwischen Trug und Wahrheit unterscheiden können, wenn der Glaube auf nichts ruht als auf Wundern? Mose verkündet 5. Mose 13, 3 mit beredten Worten, so würden wir auf die Probe gestellt, ob wir Gott wahrhaft liebten. Bekannt sind auch die Mahnungen Christi und des Paulus, die Gläubigen sollten sich vor lügnerischen Zeichen hüten, mit denen der Antichrist vieler Augen verblende (Matth. 24, 24). Ich sage dazu: Gott hat allerdings in seiner Gerechtigkeit die Erlaubnis gegeben, daß durch Satans Blendwerk die getäuscht werden, die es verdienen. Aber ich behaupte, dies sei kein Hindernis, daß Gottes Kraft seinen Auserwählten in Wundern sich offenbare und daß sie für diese einen nicht zu verachtenden Beweis der wahren und reinen Lehre darstellen. So rühmt sich Paulus 2. Korinther 12, 12, sein Apostelamt sei durch machtvolle Zeichen bestätigt worden. Wie sehr also Satan im Finstern sich als Affe Gottes brüstet, wenn die Augen offen sind und das Licht des Geistes und seiner Klugheit aufleuchtet, so bezeugen Wunder die Gegenwart Gottes deutlich genug, wie Nikodemus hier rühmend verkündet.
V. 3. „Jesus antwortete und sprach zu ihm ...“ Jesus wiederholt „wahrlich“, um die Aufmerksamkeit des Nikodemus zu erregen. Er will jetzt über die weitaus ernsteste und wichtigste aller Fragen sprechen, und da muß er Nikodemus unbedingt zum genauesten Aufmerken veranlassen; sonst hätte er vielleicht dem Gespräch keine besondere Beachtung geschenkt. Darauf zielt also die nachdrückliche Wiederholung des wahrlich. Obwohl übrigens diese Äußerung Christi weit abgelegen und beinahe ganz ohne Zusammenhang mit den Worten des Nikodemus scheint, ist dieser Beginn doch äußerst passend. Besagen will er: so wie man in einen unbearbeiteten Acker vergeblich Samenkörner streut, wird auch die Lehre des Evangeliums fruchtlos verbreitet, wenn die Herzen der Hörer nicht vorher aufgelockert und zum richtigen Hören und Lernen bereit sind. Christus sah, daß das Herz des Nikodemus voller Unkraut und Dornen war, so daß es kaum Raum gab für die Belehrung des Heiligen Geistes. Diese Mahnung war also gleichsam das Pflügen des Ackers, um ihn zu reinigen, damit nichts die Wirkung der Lehre hindere. Deshalb wollen wir daran denken, daß Gottes Sohn dies einmal zu diesem einen sprach, um uns alle täglich mit demselben Worte anzutreiben. Wer von uns nämlich kann sagen, er sei von unreinen Leidenschaften frei, so daß er solche Reinigung nicht nötig habe? Wenn wir also redlich und mit Nutzen bei Christus in die Schule gehen wollen, müssen wir lernen, hier zu beginnen.
„Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde ...“ Christus spricht von der Wiedergeburt, als wenn er damit sagen wollte: solange du nicht hast, was für das Reich Gottes die Hauptsache ist, halte ich es nicht für wichtig, daß du mich als Lehrer anerkennst. Nur ein neuer Mensch kann den ersten Schritt in das Reich Gottes tun. Da aber dieser Satz so besonders bedeutungsvoll ist, müssen wir seine einzelnen Bestandteile näher untersuchen. Das Reich Gottes sehen bedeutet dasselbe wie „in dieses Reich eintreten"; so wird es bald aus dem Zusammenhang deutlich werden. Aber die unter dem Reich Gottes den Himmel verstehen, sind im Irrtum. Vielmehr bezeichnet es das geistliche Leben, das durch den Glauben schon in dieser Welt beginnt und von Tag zu Tag kräftiger wird gemäß dem Fortschreiten im Glauben. Also hat der Satz den Sinn: niemand kann sich in Wahrheit zur Gemeinde gesellen und zu den Kindern Gottes zählen, der nicht vorher neu geworden ist. So wird hier kurz gezeigt, wie der Anfang des Christseins überhaupt beschaffen ist. Zugleich werden wir durch dieses Wort belehrt, daß wir durch unsere leibliche Geburt als Fremdlinge außerhalb des Reiches Gottes stehen und für immer von ihm getrennt bleiben, solange die Wiedergeburt uns nicht ändert. Dieser Satz gilt allgemein und umfaßt alle Menschen ohne Ausnahme. Wenn Christus das nur zu einem einzigen oder wenigen gesagt hätte, sie könnten nicht in den Himmel kommen, ohne zuerst neu geboren zu werden, so könnten wir annehmen, er meine nur einen bestimmten Personenkreis; aber er spricht von allen ohne Ausnahme. Er braucht nämlich das unbestimmte Fürwort, das heißt aber soviel wie die allgemeingültige Aussage „wer auch immer" oder „alle, die nicht von neuem geboren sind". Weiter bezeichnet das Wort „von neuem geboren werden“ nicht eine nur teilweise Änderung, sondern die völlige Erneuerung des ganzen Wesens. Daraus folgt, daß wir durch und durch verkehrt sind. Denn wenn eine ganz umfassende Erneuerung notwendig ist, muß das bedeuten, daß wir völlig verderbt sind. Darüber wird bald noch ausführlicher zu sprechen sein. - Erasmus folgt der Deutung den Cyrillus und übersetzt das griechische Wort nicht mit „von neuem", sondern mit „von oben her". Nun gebe ich zwar zu, daß der griechische Ausdruck hier doppeldeutig ist; aber wir wissen ja, daß Christus mit Nikodemus hebräisch (aramäisch) gesprochen hat. Außerdem wäre für zweideutige Aussagen in diesem Gespräch kein Platz gewesen. Nikodemus entnahm also nichts anderes aus Christi Wort, als daß der Mensch noch einmal geboren werden müsse, bevor er zum Reiche Gottes gehören könne.
V. 4. „Nikodemus spricht zu ihm...“ Zwar steht die Wendung von neuem geboren werden, deren Christus sich hier bedient, nicht genauso im Gesetz und in den Propheten; aber allenthalben in der Schrift wird doch von der Erneuerung als einer der Grundlagen des Glaubens gesprochen. So wird deutlich, wie fruchtlos die Schriftgelehrten damals die Schrift gelesen haben. Sicher war es nicht nur der Fehler eines einzigen, nicht zu wissen, was die Gnade der Wiedergeburt für ihn bedeute. Da fast alle sich mit wertlosen Spitzfindigkeiten beschäftigten, vernachlässigte man gerade das, was für die Unterweisung in der Frömmigkeit die Hauptsache ist. Ein solches Beispiel bietet uns heute die Papstkirche in ihren Theologen. Denn da sie sich ihr ganzes Leben mit abseitigen Hirngespinsten abmühen, so wissen sie darüber, was eigentlich zum Gottesdienst, zum Glauben an unsere Erlösung und zur Übung in der Frömmigkeit gehört, nicht ein bißchen mehr als ein Schuster oder Ochsentreiber über die Bahnen der Sterne. Ja es geht sogar so weit, daß sie sich in fremdartigen Geheimlehren gefallen, die echte Schriftgelehrsamkeit aber eingestandenermaßen verachten, als sei sie ihrer Hochgelehrtheit unwürdig. Wir dürfen uns also nicht wundern, daß Nikodemus hier sozusagen über einen Halm stolpert. Die gerechte Strafe Gottes nämlich ist, daß diejenigen, die sich selbst wie die hervorragendsten und größten Gelehrten vorkommen, mit den einfachsten Tatsachen der Lehre nicht Bescheid wissen, da ihnen deren allgemeinverständliche Einfalt zu billig und gering ist.
V. 5. „Jesus antwortete...“ Diese Stelle ist verschieden ausgelegt worden. Einige glaubten, daß zwei Stufen der Wiedergeburt zu unterscheiden seien. Nach ihrer Ansicht ist mit „Wasser“ die Ablegung des alten Menschen gemeint, mit Geist aber das neue Leben. Andere meinen, es sei in diesen Worten ein unausgesprochener Gegensatz enthalten: dem Wasser und dem Geist als den reinen und klaren Elementen stelle Christus die irdische und grobe Natur der Menschen gegenüber! Also nehmen sie das Wort im übertragenen Sinne, als fordere Christus uns auf die schwere, drückende Last unserer fleischlichen Natur abzulegen und ähnlich zu werden dem Wasser und der Luft, damit wir uns nach oben strecken können oder doch wenigstens durch unsere Last nicht so sehr ins Irdische hinabgezogen werden. Aber beide Meinungen scheinen mir dem fernzuliegen, was Christus hier meint. Chrysostomus, dem der größere Teil der Erklärer folgt, bezieht das Wort „Wasser“ auf die Taufe. So wäre der Sinn, daß wir durch die Taufe in das Reich Gottes eingehen, weil durch sie der Geist Gottes uns neu schaffe. Dadurch ist es geschehen, daß die Taufe als unbedingt notwendige Vorrausetzung für die Hoffnung auf das ewige Leben angesehen werden muss. Und doch darf man, auch wenn man zugäbe, daß Christus hier von der Taufe spricht, die Worte nicht so pressen, daß er das Heil mit äußeren Zeichen dafür unlöslich verbindet. Vielmehr deshalb spricht er von „Wasser“ und „Geist“, weil Gott durch jenes sichtbare Zeichen das neue Leben bezeugt und besiegelt, das er allein durch seinen Geist bewirkt. Wahr ist freilich, daß wir durch die Verachtung der Taufe uns von unserem Heil ausschließen, und ich gebe zu, daß sie in diesem Sinne notwendig ist; aber falsch wäre es, den Glauben an unser Heil auf ein äußeres Zeichen zu gründen. Was also diese Stelle angeht, so lasse ich mich keinesfalls davon überzeugen, daß Christus hier von Taufe spricht; es wäre gar nicht der richtige Zeitpunkt. Wir müssen doch immer die Absicht Christi im Auge behalten, die wir oben erläutert haben: er wollte ja Nikodemus auffordern, ein neues Leben anzufangen, weil er nicht dazu fähig wäre, das Evangelium aufzunehmen, bis er ein anderer Mensch zu werden begönne. Seine einfache und schlichte Meinung ist: wir müssen von neuem geboren werden, um Gottes Kinder zu sein, und der Urheber dieser zweiten Geburt ist der Heilige Geist. Nikodemus nun stellt sich unter Wiedergeburt so etwas vor wie die Seelenwanderung der Pythagoräer. Um ihm diesen Irrtum zu nehmen, fügt Christus als Erklärung hinzu, es handle sich dabei nicht um eine zweite leibliche Geburt, um eine Wiederverkörperung, sondern um eine Erneuerung von Herz und Sinn durch die Gnade des Heiligen Geistes. So stellt bei ihm Geist und Wasser für dasselbe; das darf uns nicht hart und gezwungen anmuten. In der Schrift ist es eine ganz geläufige Ausdrucksweise, daß sie, wenn vom Geist die Rede ist, Wasser oder Feuer hinzufügt, um seine Gewalt zu verdeutlichen. Es ist unwichtig, daß er hier zuerst vom Wasser spricht. Ja, diese Redewendung ist glatter als die andere, weil erst der bildliche Ausdruck steht und dann der klare, lautere Begriff folgt. Es ist so, als wollte Christus sagen, niemand könne ein Kind Gottes sein, bevor er nicht durch Wasser neugeworden sei; das Wasscr aber sei der Geist, der uns rein macht, seine Krall in uns eingießt und im:, MI das neue Leben vom Himmel einhaucht, während wir von Natur ganz welk sind. Mit voller Absicht verwandelt Christus die in der Schrift gebräuchliche Wendung, um dem Nikodemus seine Unwissenheit zu beweisen. Nikodemus hätte doch endlich erkennen müssen, daß Christi Wort der allgemeinen Lehre der Propheten entnommen war (Hes. 36, 25). Also ist „Wasser“ nur ein Bild für die im Inneren wirkende, reinigende und lebenspendende Kraft des Heiligen Geistes. Hinzu kommt, daß bei einer Verbindung von zwei Begriffen gewöhnlich der zweite die Erläuterung des ersten bietet. Meine Auffassung wird außerdem auch durch den Zusammenhang gestützt; denn als Christus bald darauf den Grund dafür angibt, warum wir „von neuem geboren“ werden müssen, erwähnt er das Wasser gar nicht, sondern lehrt, nur der Heilige Geist schaffe das neue Leben; daraus folgt: daß man Wasser und Geist nicht trennen darf und sie ein und dasselbe sind.
V. 6. „Was vom Fleisch geboren wird, das ist Fleisch ...“ Aus dem Gegensatz von Fleisch und Geist beweist er, uns allen sei das Reich Gottes verschlossen, wenn uns der Eingang nicht durch die Wiedergeburt eröffnet würde. Er nimmt als Voraussetzung an, daß wir nur dann in das Reich Gottes eingehen können, wenn wir geistlich sind. Vom Mutterleibe her haben wir nur eine fleischliche Natur. Daraus folgt, daß wir alle von Natur außen vor dem Reiche Gottes stehen und, des himmlischen Lebens beraubt, unter der Knechtschaft des Todes bleiben. Da Christus ferner hier den Schluß zieht, die Menschen müßten wiedergeboren werden, weil sie nur Heisch sind, so versteht er ohne Zweifel den ganzen Menschen unter „Fleisch“. Es bedeutet also hier nicht nur soviel wie Leib, sondern zugleich die Seele, und zwar jeden einzelnen ihrer Teile. Denn unsinnig ist es, wie die falschen päpstlichen Theologen „Fleisch“ einzuschränken auf die sinnliche Seite des Menschen. Auf diese Weise wäre die Behauptung Christi von der Notwendigkeit einer zweiten Geburt gegenstandslos. Wenn er aber das Fleisch dem Geist gegenüberstellt wie etwa das Verdorbene dem Gesunden, das Verkehrte dem Richtigen, das Besudelte dem Heiligen, das Schmutzige dem Reinen, so muß man selbstverständlich daraus schließen, die ganze menschliche Natur werde damit gerichtet. Christus verkündet: unser Sinn und Verstand sind sündig, weil sie fleischlich sind; alle Leidenschaften und Begierden des Herzens sind verkehrt und widergöttlich, weil gerade auch sie fleischlich sind. Aber hier wird der Einwand erhoben: da die Seele nicht menschlichen Ursprungs ist, wird ja der wichtigste Teil unseres Wesens nicht vom Fleische geboren. Daher glaubten viele, nicht nur dem Leibe nach stammten wir von unseren Eltern ab, sondern zugleich kämen auch unsere Seelen von ihnen wie die Rebe vom Weinstock. Es schien nämlich abwegig, daß die Erbsünde, die ihren eigentlichen Sitz in der Seele hat, von einem einzigen Menschen sich auf alle Nachkommen übertragen haben sollte, wenn nicht alle Seelen aus der Seele jenes einen geflossen seien. Gewiß scheinen auf den ersten Blick die Worte Christi darauf hinzudeuten: wir seien deshalb Fleisch, weil wir vom Heisch geboren werden. Meine Antwort auf alle diese Fragen lautet: Der Sinn der Worte Christi kann nur sein, daß wir alle von Geburt fleischlich sind; und insofern wir in diese Welt als sterbliche Menschen eintreten, kann unsere Natur nur Fleischliches erkennen. Er unterscheidet hier nämlich einfach zwischen Natur und übernatürlicher Gabe. Denn daß in der Person des einen Adam das ganze Menschengeschlecht verdorben worden ist, kommt nicht so sehr aus der leiblichen Abstammung von ihm als aus der von Gott getroffenen Bestimmung. Wie er in einem Menschen uns alle ausgezeichnet hatte, hat er uns mm seine Gaben genommen. So erbt jeder einzelne nicht so sehr Sündigkeil und Verderben von seinen Eltern, als daß wir gleichzeitig alle mit Adam ins Verderben geraten sind; sofort nach dem Abfall hat Gott dem Menschengeschlechte die haben wieder genommen, die er ihm gegeben hatte. Es erhebt sich noch eine andere Frage. Sicher ist es ja, daß auch in dieser entarteten, sündigen Natur doch etwas von den Gaben Gottes erhalten geblieben ist. Daraus folgt, daß wir nicht ganz und gar entartet sind. Die Lösung dieser Frage ist leicht: die Gaben, die Gott uns nach dem Fall Adams gelassen hat, sind, für sich betrachtet, gewiß löblich und gut. Aber da das Böse alles vergiftet, findet sich in uns nichts, was rein und frei wäre von jeder Verunreinigung. Wohl ist uns eine gewisse Erkenntnis Gottes angeboren; in unser Gewissen ist das Unterscheidungsvermögen zwischen Gut und Böse tief eingegraben; durch unsere Geistesgaben vermögen wir das gegenwärtige Leben zu schützen; schließlich stehen wir in jeder Hinsicht hoch über dem stumpfen Vieh. Das aber ist so, wie es von Gott stammt, gut und vortrefflich; in uns jedoch ist alles das völlig entstellt; der edle Wein wurde in ein schmutziges Gefäß gefüllt und hat dadurch seinen guten Geschmack gänzlich verloren, ja, er ist bitter und schädlich geworden. Die Gotteserkenntnis, die jetzt den Menschen bleibt, ist nichts weiter als eine schauderhafte Quelle des Götzendienstes und allen Aberglaubens; unser Urteilsvermögen bei der Auswahl und Unterscheidung der Dinge ist teils blind und verkehrt, teils verstümmelt und verworren; was wir mit Eifer betreiben, wird zu leerem Getriebe und zerrinnt in Nichtigkelten; unser Wille aber vollends stützt sich mit rasender Geschwindigkeit ganz und gar in sein Verderben; so ist: in unserm ganzen Wesen nichts zu finden, was völlig gerade und in Ordnung wäre. Daraus ist deutlich: wir müssen durch eine zweite Geburt für das Reich Gottes bereitet werden. Und das wollen Christi Worte sagen: da der Mensch vom Mutterleibe nur als fleischliches Wesen geboren wird, muß er durch den Heiligen Geist neu geboren werden, um damit beginnen zu können, geistlich zu leben. „Geist“ hat hier eine doppelte Bedeutung: er ist ja der Ursprung und das Ergebnis der Gnade zugleich; denn zuvor lehrt Christus, der Geist Gottes sei der einzige Urheber eines reinen und rechten Wesens; danach gibt er zu erkennen, wir seien geistliche Wesen, seit wir durch seine Kraft neugeworden sind.
7 Laß dich`s nicht wundern, daß ich dir gesagt habe: Ihr müsset von neuem geboren werden. 8 Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Rufen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist ein jeglicher, der aus dem Geist geboren wird.
V. 7. „Laß dich's nicht wundern ...“ Die Erklärer deuten diese Stelle verschieden. Einige meinen, sie beziehe sich auf die geistige Schwerfälligkeit des Nikodemus und ähnlicher Leute, als wenn Christus sagen wollte, es sei kein Wunder, wenn sie jenes Geheimnis der himmlischen Wiedergeburt nicht fassen könnten, da sie ja doch nicht einmal innerhalb der natürlichen Ordnung von dem, was im Bereich der Sinneswahrnehmung liegt, Erkenntnis erlangen. Andere deuten die Stelle zwar sehr scharfsinnig, doch zu gewaltsam, folgendermaßen: so wie das Wirken des Windes frei ist, würden wir durch die geistliche Geburt wieder in den Stand der Freiheit gesetzt, so daß wir, los vorn Joch der Sünden, aus freien Stücken hin zu Gott eilten. Auch die Deutung des Augustinus trifft ganz und gar nicht, was Christus meint, als solle es hier heißen, der Geist Gottes werde ganz nach eigenem Gutdünken wirksam. Besser steht es um die Auslegung des Chrysostomus und Cyrill; auch sie sehen in dem Wehen des Geistes einen Vergleich mit dem Wind und deuten die Stelle so: obwohl man die Kraft des Geistes spürt, sind seine Ursache und Herkunft verborgen; ich nun weiche nicht von ihrer Ansicht ab, will aber versuchen, den Sinn der Stelle noch klarer und genauer darzulegen. Ich gehe auch davon aus, daß Christus seinen Vergleich der Ordnung der Natur entnimmt. Nikodemus hielt für unglaubhaft, was er von der Wiedergeburt und dem neuen Leben gehört hatte, weil die Art dieser Wiedergeburt sein Fassungsvermögen überstieg. Um ihm derartige Zweifel zu nehmen, erklärt Christus ihm, daß auch in der Körperwelt eine wunderbare Kraft vorhanden sei, deren Art verborgen ist. Alle Wesen schöpfen ja unsichtbar ihren Lebenshauch aus der Luft. Die Luftbewegung spüren wir ganz deutlich; woher sie aber kommt und wohin sie geht, wissen wir nicht. Wenn in diesem hinfälligen, flüchtigen Leben Gott so mächtig wirkt, daß wir seine Macht bewundern müssen, wie verkehrt wäre es da, im himmlischen und übernatürlichen Leben sein geheimnisvolles Wirken an unserer Auffassungsgabe messen zu wollen und nur das zu glauben, was sichtbar erscheint. So geht Paulus 1. Kor. 15, 36 und 37 heftig gegen diejenigen vor, welche die Lehre von der Auferstehung deshalb verwerfen, weil es unmöglich scheint, daß der Leib, der jetzt der Verwesung anheimfällt, zu seliger Unsterblichkeit auferstehe, wenn er in Staub und Nichts zerfallen sei. Er wirft ihnen Unachtsamkeit vor, weil sie im Weizenkorn nicht die entsprechende Kraft Gottes erkennen könnten. Denn auch das Samenkorn keimt nicht erst, wenn es verwest ist. Das ist jene wunderbare Weisheit, die David im Psalm 104, 24 laut rühmt. Allzu stumpfen Sinnes sind also dir Menschen, die sich nicht zu der Erkenntnis aufschwingen können, daß Gottes Hand im geistlichen Reiche Christi noch viel mächtiger wirkt, obwohl sie durch die allgemeine Ordnung der Natur daran gemahnt werden. Wenn Christus aber sagt, man solle sich nicht wundern, muß man es nicht so verstehen, als wolle er Gottes herrliche und bewundernswerte Werke in unseren Augen herabsetzen; er will nur nicht, daß unsere Verwunderung uns am Glauben hindere. Viele nämlich weisen als Hirngespinst all das zurück, was ihnen allzu hoch und schwer erscheint. Ich fasse zusammen: wir sollen nicht daran zweifeln, daß wir durch den Geist Gottes neue Menschen werden, wenn auch die Art reines Wirkens im verborgenen bleibt.
V. 8. „Der Wind bläst, wo er will. . .“ Der Wind weht nicht deshalb, wohin er will, weil in seinem Wehen ein eigener Wille läge, sondern weil seine Bewegung freischweifend und verschiedenartig ist; die Luft nämlich strömt bald hierhin, bald dorthin. Gerade diese Eigentümlichkeit macht aber die Ähnlichkeit aus; denn wenn er wie das Wasser in gleichmäßigem Strom dahinflutete, wäre an ihm weniger Wunderbares.
„So ist ein jeglicher. . .“ Christus erklärt, bei der Neuwerdung des Menschen könne man die Bewegung und die Tätigkeit des Geistes Gottes genauso wahrnehmen wie die des Windes hier in unserem irdischen Leben; aber seine Weise sei verborgen. Es sei undankbar und böswillig von uns, die unbegreifliche Macht Gottes im himmlischen Leben nicht zu verehren, von der er uns ein so deutliches Abbild in dieser Welt vor Augen führt, und wenn wir ihm bei der Wiederherstellung des Heils der Seele weniger Kraft zutrauen, als er uns täglich bei der Bewahrung unseres leiblichen Lebens beweist. Diese Gedankenverbindung wird ein wenig klarer, wenn man den Satz so übersetzt: von dieser Art sind die Macht und die Wirkung des Heiligen Geistes in einem wiedergeborenen Menschen!
Aus: Otto Weber, Calvins Auslegung der Heiligen Schrift. Vierzehnter Band: Das Johannes-Evangelium, Neukirchener Verlag, 1964, S. 59ff.
Achim Detmers
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