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Zwischen den Jahren
Predigt zu Jesaja 49,13-23
»Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus.« Amen.
Liebe Gemeinde,
der Predigttext für den heutigen Sonntag steht im Buch des Propheten Jesaja, im 49. Kapitel (V.13-23):
13 Frohlockt, ihr Himmel, und freue dich, Erde! Ihr Berge, brecht in Jubel aus, denn der HERR tröstet sein Volk, und seiner Elenden erbarmt er sich.
14 Und doch klagt Jerusalem, die Zionsstadt: »Der HERR hat mich verlassen, Gott hat mich vergessen.«
15 Kann eine Frau ihr Neugeborenes vergessen, so dass sie sich nicht erbarmt über ihr leibliches Kind? Und selbst wenn sie es vergessen könnte, ich vergesse euch nicht! 16 Schau, in beide Handflächen habe ich dich geritzt, deine (künftigen) Stadtmauern sind mir stets vor Augen. 17 Deine Erbauer eilen schon herbei. Die dich aber niedergerissen und verwüstet haben, ziehen davon. 18 Sieh doch, was rings um dich her geschieht! Schon versammeln sich die Menschen, die in deinen Mauern wohnen werden, sie kommen
zu dir. So wahr ich lebe, spricht der HERR: Du wirst dich mit ihnen allen schmücken und dich mit ihnen gürten wie eine Braut.
19 In Trümmern lagst du, und dein Land ringsum war verwüstet und menschenleer; aber bald werden so viele kommen, dass du sie nicht mehr fassen kannst. Von denen aber, die dich zerstört haben, wird man weit und breit nichts mehr sehen.
20 Du warst kinderlos; aber bald werden deine Kinder zu dir sagen: »Uns ist es zu eng in den Mauern; schaff uns Raum, wo wir wohnen können!«
21 Dann wirst du in deinem Herzen sagen: »Wer hat alle diese Kinder für mich geboren? Meine eigenen hat man mir geraubt, neue konnte ich nicht mehr gebären; ich war verbannt und verstoßen. Wer hat all diese für mich großgezogen? Ich war doch ganz allein übrig geblieben. Wo kommen sie her?«
22 So spricht Gott der HERR: »Siehe, ich hebe meine Hand zu den Nationen und errichte für die Völker ein Zeichen. Und sie bringen auf ihren Armen deine Söhne herbei und tragen deine Töchter auf ihren Schultern.
23 (...) Dann wirst du erkennen, dass ich der HERR bin und dass niemand enttäuscht wird, der auf mich setzt.«
I.
Liebe Gemeinde,
heute ist der erste Sonntag nach dem Fest – der dritte Weihnachtstag gewissermaßen. Die Geschenke sind ausgepackt, die Gäste sind abgereist. Auch wir haben unsere Besuche gemacht, vielleicht noch ein letzter Besuch heute Nachmittag. Wir nennen die Tage nach Weihnachten die ›Zeit zwischen den Jahren‹. Da werden die Weihnachtslichter noch einmal angezündet. Da klingt der Gesang der Engel nach, das »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden«. (Pause)
Durch den Sonntag direkt nach Weihnachten klingt es in diesem Jahr etwas länger nach. Denn die Geschäfte sind heute nur an wenigen Orten geöffnet. Vorerst kein Umtauschen von Geschenken, kein Einlösen von Gutscheinen. Eher die Erinnerung, wie sich das Weihnachtsfest in unsere kindlichen Gemüter eingeschrieben hat. Und wie anders wir es wieder erlebt haben in diesem Jahr. (Pause)
Die ›Zeit zwischen den Jahren‹ lässt uns noch einmal zurückblicken und innehalten, bevor das Neue Jahr beginnt. Dabei steht die Zeit zwischen den Jahren keineswegs still. Aber sie holt in diesen Tagen irgendwie Atem. Es schiebt sich eine andere Wirklichkeit hinein in die des Gewohnten, Alltäglichen und Immergleichen. Die Zeit ist nicht anders als sonst, aber etwas ist immer noch spürbar von einer anderen Zeit.
II.
Liebe Gemeinde,
von dieser anderen Zeit inmitten der messbaren, fortlaufenden Zeit verkündet der Prophet Jesaja: »Frohlockt, ihr Himmel, und freue dich, Erde! Ihr Berge, brecht in Jubel aus, denn der HERR tröstet sein Volk, und seiner Elenden erbarmt er sich.« Auch wenn Jesaja hier nicht die Weihnachtsgeschichte erzählt, so fühlen wir uns doch bei diesen Worten zu den Hirten aufs Feld versetzt: »Und alsbald war da (...) die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.« (Lk 2,13f).
Solche Sätze lassen wir uns gefallen zu Weihnachten. Wenn im Dunkeln die Lichter am Tannenbaum leuchten, stellvertretend für den Stern über Bethlehem, dann dürfen auch die Berge jubeln und der ganze Kosmos frohlocken. (Pause) Doch wie sieht das in der ›Zeit zwischen den Jahren‹ aus? Wenn die Tage etwas heller werden, wenn die Jahresrückblicke zeigen, an welchen Aufgaben wir gescheitert sind und welche Herausforderungen noch auf uns warten?
In unserem Predigttext übernimmt die Zionsstadt Jerusalem die Aufgabe, Zweifel anzumelden angesichts des kosmischen Jubels:
»Zion klagt: »Der HERR hat mich verlassen, Gott hat mich vergessen.« Kosmischer Jubel zu Weihnachten – schön und gut. Aber was mache ich mit dem Gefühl, dass der Kosmos weit weg ist von meinen Fragen. Und dass der, der dort zum Jubel Anlass gibt, schon lange keinen Anlass mehr hatte, an mir einen Gedanken zu verschwenden. »Gott hat mich vergessen.«, sagt die Zionsstadt Jerusalem. Und vergessen werden, das ist eine schlimme Form der Demütigung, wenn man selbst den anderen nicht vergessen kann.
Jerusalem ist zerstört, der Tempel liegt in Trümmern. Die Tatkräftigen und Gebildeten sind nach Babylon verschleppt. Und jedes Trümmerteil in Jerusalem erinnert die Zurückgebliebenen an die einstige Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel. Dass dieser Gott nun sein Volk tröstet und sich seiner Elenden erbarmt, wie es im himmlischen Jubel heißt (V.13) – für die Einwohner der Zionsstadt ist das schlicht unvorstellbar. Beim Anblick der Trümmer drängt sich ihnen eine andere Deutung auf: Gott hat Jerusalem verlassen und vergessen.
III.
Liebe Gemeinde,
dass Gott uns verlassen und vergessen hätte – ein solcher Gedankengang liegt uns heute eher fern. In mancher Hinsicht scheint es in unserem Land eher so zu sein, dass wir Gott vergessen haben. Und einige sehen es als Errungenschaft, Gott aus dem öffentlichen Leben zu verbannen. Zugleich gibt es nicht wenige Situationen, in denen wir uns gottverlassen vorkommen und nach Orientierung suchen. Gerade in diesen Tagen wird im Blick auf das Neue Jahr deutlich, wie brüchig unser Leben doch auch ist:
- Das warme Wetter – hat das mit der globalen Klimaveränderung zu tun? Und was erwartet uns da noch?
- Der Krieg in Syrien – das ist ja nur einer von vielen Kriegen. Was bedeutet es, wenn die Bundeswehr da jetzt mitmacht?
- Finanz- und Industrieskandale, die viel Geld vernichtet haben, Banken und VW – wie viele Arbeitsplätze wird das am Ende kosten?
- 1 Mio. Flüchtlinge sind in diesem Jahr nach Europa geflohen – schaffen wir es, ihnen ein menschenwürdiges Zuhause zu geben?
- Die Flüchtlinge kommen vor allem nach Deutschland. Die Zahl der Übergriffe auf Menschen und Unterkünfte ist auf fast 1.000 angestiegen – welcher Hass tritt da plötzlich zutage?
- Einige Länder Osteuropas reagieren mit Nationalismus und Abbau von demokratischen Rechten – wohin wird diese Entwicklung Europa führen?
IV.
Liebe Gemeinde,
»Gott hat Jerusalem verlassen und vergessen.« Um dieser trostlosen Überzeugung etwas entgegenzusetzen, muss der Prophet Jesaja weit ausholen. Himmel und Erde hat er bereits als Zeugen angeführt. Für jemanden, der in Trümmern sitzt, ist das aber zu weit weg. Hier sind andere Fragen wichtig:
- Wie bringe ich meine Familie durch?
- Gibt es überhaupt genug Hände, um diese Stadt jemals wieder aufzubauen?
- Was ist mit den Besatzern, die unsere Stadt verwüstet haben?
- Und woran erkenne ich, dass sich etwas verändert?
Punkt für Punkt geht Gott bei Jesaja auf diese Fragen ein:
1. Wie bringe ich meine Familie durch? Für ein zerstörtes Land ist es wichtig, dass die Familien Kinder großziehen, damit sie beim Aufbau mitanfassen und später die Eltern versorgen können. Ohne Nachwuchs hat das alles keinen Sinn. Und so wie deshalb eine Frau ihr Neugeborenes auf keinen Fall aus den Augen verliert, so ist auch Gott. Selbst wenn einige Menschen ihre Kinder preisgeben, wie wir das immer wieder in den Zeitungen lesen müssen, so ist das bei Gott anders. Er erbarmt sich immer und vergisst sein Volk niemals.
2. Gibt es überhaupt genug Hände, um diese Stadt jemals wieder aufzubauen? Jesaja weiß, das die Hände der Einwohner Jerusalems gezeichnet sind von jedem Stein, den sie wieder aufrichten. Und so, sagt er, sind auch die Hände Gottes gezeichnet. In ihnen ist der künftige Stadtplan Jerusalems eingeritzt. Das, was kommen wird, ist in den Händen Gottes schon eingeritzt. Und in der Tat, der spätere Verlauf der Jerusalemer Stadtmauern ähnelt den Umrissen und Linien einer Hand. Gott – so will es der Prophet sagen – kann gar nichts mit seinen Händen tun, ohne nicht den Wiederaufbau Jerusalems vor Augen zu haben.
3. Was ist mit den Besatzern, die unsere Stadt verwüstet haben? Vielfach leidet der Wiederaufbau an alten Denkmustern und Machtverhältnissen. Ein Aufbau kann aber nur gelingen, wenn solche blockierenden und zerstörerischen Kräfte verschwinden. Die Besatzer, die jeden Montag um die Häuser ziehen und ›Abendland‹, ›Volksverräter‹ und ›Lügenpresse‹ rufen, sind nicht das Volk. Sie tragen wenig zum Aufbau bei; ihre Parolen haben schon einmal alles zerstört, was sie zu schützen vorgegeben haben.
Und schließlich 4. Woran erkenne ich, dass sich etwas verändert? Um das Neue zu erkennen, so rät der Prophet, muss man die Augen aufmachen und beobachten, was sich entwickelt: »Sieh doch, was rings um dich her geschieht! Schon versammeln sich die Menschen, die in deinen Mauern wohnen werden« (V.18). Seit Jahren kennen wir diese Bilder: Menschen in den überfüllten Grenzlagern Europas, Flüchtlingsboote und Ertrinkende im Mittelmeer. Wir haben die Bilder gesehen und lange vor allem über bessere Grenzsicherung nachgedacht. Aber wir haben die Bilder damals nicht verstanden.
V.
Liebe Gemeinde,
jetzt habe ich mich mit dem alten Prophetenwort ein Stück weit vorgewagt in unsere Gegenwart. Unser Predigttext redet ja so deutlich von den vielen Menschen, die unerwartet in das Land kommen. Und da wollte ich nicht schweigen von den Flüchtlingen, die in diesen Wochen in Europa, in Deutschland ankommen und Schutz suchen. Und doch können wir das Prophetenwort nicht so rasch auf unsere Situation übertragen. Nicht nur weil es vor 2.500 Jahren für eine andere Situation gesprochen wurde. Sondern auch, weil es in erster Linie dem Volk Israel gilt: »Der HERR tröstet sein Volk, und seiner Elenden erbarmt er sich.« (V.13). Und es kommt demnach noch hinzu, dass sich Gott nicht der Starken, sondern der Elenden im Volk erbarmt.
Aber wie in diesen ›Tagen zwischen den Jahren‹ etwas hindurchscheint von der Weihnachtsgeschichte in unsere gewohnte und immergleiche Wirklichkeit (s.o.), so scheint auch von diesem Prophetenwort Israels etwas in unsere Gegenwart hinein. Und das umso mehr als auch die Geburt Jesu in einem Stall mit genau dieser Verheißung verbunden ist. Die schwangere Maria spricht in ihrem Lobgesang folgende Worte:
»Hungrige hat er gesättigt mit Gutem, und Reiche leer ausgehen lassen. Er hat sich Israels, seines Knechtes, angenommen, und seiner Barmherzigkeit gedacht, wie er es unseren Vätern versprochen hat, Abraham und seinen Nachkommen in Ewigkeit.« (Lk 1,53-55).
Und auch der gottesfürchtige Simeon aus der Lesung vorhin wartet auf den Trost Israels und sieht seine Sehnsucht beim Anblick des Jesuskindes erfüllt:
»Meine Augen haben das Heil gesehen, das du vor den Augen aller Völker bereitet hast, ein Licht zur Erleuchtung der Heiden und zur Verherrlichung deines Volkes Israel.« (Lk 2,30-32).
Das heißt, so wie sich in der Geburt Jesu etwas wiederholt aus der Glaubensgeschichte Israels, so scheint die alte Verheißung des Jesaja
in diesen Tagen auch in unsere Wirklichkeit hinein. Und wer weiß? Vielleicht ist ja die Zukunft unseres Landes, die Zukunft Europas auch schon in die Hände Gottes eingeschrieben. Als von Jerusalem nichts mehr zu hoffen war, hatte Gott den Neuanfang der geschändeten Stadt schon vor Augen. Es gilt, die Augen aufzumachen und den Besatzern mit ihren rückwärtsgewandten Parolen nicht die Deutungshoheit zu überlassen.
Denn »So spricht Gott der HERR: »Siehe, ich hebe meine Hand zu den Nationen und errichte für die Völker ein Zeichen. Und sie bringen auf ihren Armen deine Söhne herbei und tragen deine Töchter auf ihren Schultern. (...) Dann wirst du erkennen, dass ich der HERR bin und dass niemand enttäuscht wird, der auf mich setzt.« (V.22f) Amen.
Achim Detmers
Gehalten am 1. Sonntag nach Weihnachten 2015 in der Ev.-ref. Bartholomäuskirche zu Braunschweig
(zentrale Passagen der Einleitung entstammen einer Predigt von Hans Joachim Schliep unter: http://predigten.evangelisch.de/predigt/predigt-zu-jesaja-4913-16-von-hans-joachim-schliep)
Achim Detmers, Generalsekretär des Reformierten Bundes
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